Felix Ekardt (Forschungsstelle Nachhaltigkeit und Klimapolitik, Germany)
Wie einfache Wahrheiten den liberal-demokratischen Rechtsstaat untergraben - aber nicht nur die der Populisten
ABSTRACT. In einer immer komplizierteren Welt sind aktuell Kräfte auf dem Vormarsch, die einfache Wahrheiten und Lösungen versprechen. Wenn sich Rechtssoziologen (oder überhaupt jemand) mit diesem Phänomen beschäftigt, begeht man indes wohl einen Fehler, wenn man annimmt, dass es damit allein um "den Populismus" - oder überhaupt um ein völlig neues Phänomen - ginge. Vielmehr sprechen sowohl historische als auch verhaltenswissenschaftliche Befunde (wenn man Verhaltenswissenschaft nicht auf Soziologie reduziert, sondern in angemessener Breite auch ökonomische, psychologische oder soziobiologische Erkenntnisse einbezieht) für folgende These: Nicht nur Populisten und ihre Anhänger, sondern Menschen generell tragen latent die Neigung zu vereinfachten, verzerrten und bequemen Ansichten in uns, auch die intellektuellen Weltverbesserer. Gleichzeitig werden sich mit einfachen Wahrheiten die Probleme einer globalisierten Welt u.U. nur schwer lösen lassen. In meinem im Oktober 2017 zu diesem gesamten Befund erschienenen Taschenbuch "Kurzschluss: Wie einfache Wahrheiten die Demokratie untergraben" führte das zu der These: Wenn wir Uneindeutigkeit und Komplexität nicht aushalten, wird der liberal-demokratische Rechtsstaat absehbar erodieren - und in der Gefahr stehen, eine historische Ausnahmeerscheinung zu bleiben.
Politischer Totalitarismus aus bürgerlicher Freiheit? Zum kapitalistischen Vergesellschaftungszusammenhang bürgerlichen Rechts als Versuch einer immanenten Kritik des bürgerlichen (Un-)Rechtsstaats
ABSTRACT. „Die Binde über den Augen der Justitia bedeutet nicht bloß, daß ins Recht nicht eingegriffen werden soll, sondern daß es nicht aus Freiheit stammt“ (Horkheimer; Adorno: Dialektik der Aufklärung)
Solange die objektiven Voraussetzungen überdauern, die den politischen Faschismus zeitigten, kämen, Kritischer Theorie nach, gleichartige Systeme der Barbarei auf, da bürgerliche Freiheit zugleich Unfreiheit supponiert, sich, je nach politökonomischer Situation, als repressive Unfreiheit verselbständigt. Die Dialektik von Freiheit und Unfreiheit wird sichtbar dort, wo die Verwandlung bürgerlicher Freiheit in die Freiheit des Kapitals sanktioniert wird (Böhler). Dem subjektiven Recht nach formal frei, perpetuiert der Widerspruch von Lohnarbeit und Kapital die Ausbeutung in Form des freien Rechts (Paschukanis). Führt Kritik am bürgerlichen Recht so zur Kritik am kapitalistischen Vergesellschaftungszusammenhang, ist, nach Negt, die Geltung der Rechtsform und ihrer Institutionen aus dem Reproduktionsprozess des Kapitals zu dechiffrieren. Hinsichtlich demokratischer Rechtsstaaten, die in vielen europäischen Ländern unter rechtspopulistischen Druck geraten, wäre folgende gesellschaftstheoretisch zu konkretisierende These zu formulieren: Bürgerliches Recht legitimiert - notwendig unbewusst - die Exploitation Lohnabhängiger, wodurch es zugleich normativ wie funktionell als delegitimiert erscheint. Die ‚entrechteten’ Subjekte (gefühlt und objektiv) werden so in eine politische Sozialität jenseits des bürgerlichen Rechtsraumes gedrängt. Dieser Raum wird jedoch nicht durch emanzipatorische Praxis ausgefüllt, sondern (bisher) durch Gewaltmittel autoritärer Regime besetzt.
Identitätspolitische Rechte und der Rechtsformenwandel subjektiven Rechts – Systematisierende Aspekte einer aktuellen Debatte
ABSTRACT. Der intendierte Beitrag möchte nach den möglichen veränderten Funktionen subjektiver Rechte in neuartigen Konfliktlinien fragen, um darin einen möglichen Rechtsformenwandel zu beschreiben, der sich methodisch und sprachlich in den neuartigen Formationen subjektiven Rechts ausdrückt. Dabei geht er davon aus, dass die sich abzeichnende mögliche Verschiebung in der Struktur subjektiven Rechts darin bestehen könnte, dass die aus dem 19. Jahrhundert überkommene Begrenzung auf ein individualisierbares „Gut“ oder „Interesse“ in neuartigen Rechten vielfältig überschritten wird. Kennzeichnend für diese Rechte ist die mögliche Erosion der Grenzen oder ihrer Verschiebung zwischen dem klassischen subjektiven Eigenhaben, der Subjektivierung von Sozialbereichen und dem autoritativ nicht mehr entscheidbaren Dissens über Bedeutung von Optionen, Werten, Schutzgütern. Als Folge ergibt sich ein neuartiger sozialer und politischer Pluralismus, der nicht zuletzt um verschiedenste Formen der subjektivrechtlichen Anerkennung partikularer Identitäten miteinander streitet. Neu ist diese Art des Rechtspluralismus deshalb, weil er sich von dem uns bekannten Modell des Wettbewerbs gesellschaftlicher Organisationen um Macht, Einfluss und anderer Ressourcen (Max Weber) gerade dadurch unterscheidet, dass in diesen neuartigen subjektiven identitätspolitischen Rechtsformen die aktive und interaktive Koexistenz unterschiedlicher sozialer Formationen mit unterschiedlichen Vorstellungen über das richtige und gute Leben um „Identität“ und „Authentizität“ und um die Bedingungen der Möglichkeit einer politischen Gemeinschaft miteinander ringen. Dadurch entsteht aber eine Konfliktlinie gegenüber dem Abstraktions- und Universalitätsanspruch des liberalen Verfassungsstaates, dessen normative „Farbenblindheit“ im Neutralitätsprinzip moderner Verfassungsstaatlichkeit gerade der Garant von Differenz und Koexistenzfähigkeit unterschiedlicher Wertorientierungen sein soll. Der Vortrag widmet sich daher der Frage, welche Folgen diese Beobachtung für die Formen subjektiven Rechts und ihrer sozialen Funktion nach sich zieht.
Organisiert von Katie Baldschun, Alice Dillbahner, Solveig Sternjakob und Katharina Weyrich
In dem in Form einer Nachwuchsgruppe geförderten Projekt werden sozial-, politik- und rechtswissenschaftliche Konzepte zur Erforschung von Sozialrecht und Sozialpolitik in der Bundesrepublik Deutschland (weiter-)entwickelt, um Konturen eines transdisziplinären Ansatzes sichtbar werden zu lassen. Die interdisziplinär zusammengesetzte Gruppe soll einen Beitrag zur Erforschung der deutschen Sozialgerichtsbarkeit als eine wesentliche Institution im Gefüge des sozialen Rechtsstaats und der Sozialpolitik der Bundesrepublik Deutschland leisten. Dabei ist insbesondere die spezifische Rechtskultur der Sozialgerichtsbarkeit von Interesse, die den Anspruch erhebt, einen niedrigschwelligen Zugang zum Recht zu gewährleisten, der Verwirklichung sozialer Rechte zu dienen und die sozialpolitischen Interessen sowohl durch ehrenamtliche Richterschaft wie als Prozessparteien einzubinden. Untersucht werden soll, auf welche Weise die Sozialgerichtsbarkeit bei anhaltend hohen Klagezahlen Austragungsort individueller und gesellschaftlicher Konflikte sein kann und zugleich zur gesellschaftlichen Integration beiträgt. Im Panel sollen Vorhaben aus den Schwerpunktthemen des Projektes präsentiert und zur Diskussion gestellt werden.
Armin Höland (Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, Germany) Felix Welti (Universität Kassel, Germany)
Recht und Praxis der Widerspruchsausschüsse der deutschen Sozialversicherung
ABSTRACT. Widerspruchsausschüsse entscheiden jährlich ca. 400.000 Widersprüche in der Kranken-, Pflege-, Renten- und Unfallversicherung. Sie kontrollieren Rechtmäßigkeit und Zweckmäßigkeit der Bescheide, mit denen das Vorverfahren vor einer Klage beim Sozialgericht endet.
Das rechtsempirische Forschungsprojekt hat gefragt: (1) In welcher Besetzung, wie und mit welchen Ergebnissen und Wirkungen überprüfen die Ausschüsse Entscheidungen? (2) Wie tragen sie zur Qualitätssicherung der Sozialversicherung bei? (3) Wie und wann bewirken sie, dass Versicherte ihre Unzufriedenheit nicht in eine Klage umsetzen? (4) Tragen sie zur sozialen Mitbestimmung in der Sozialversicherung bei?
Mit einem Fragebogen wurden Wahrnehmungen und Bewertungen der Mitglieder aller Ausschüsse standardisiert erhoben. Ergänzend wurden Sozialgerichtsakten und Satzungen der Sozialversicherungsträger analysiert. Zahlen zu erhobenen und erledigten Widersprüchen und Erfolgsquoten wurden aus Statistiken berechnet.
Die Untersuchung kann ein selbstbewusstes, verantwortliches und qualifiziertes Verfahren belegen. Der Ausschuss ist wichtige Schnittstelle zwischen Verwaltungsprüfung und der Klageerhebung.
Kritik und Forschungsbedarf wurden identifiziert bei der Kommunikation der Ausschüsse mit den Versicherten und dem Zusammentreffen ehrenamtlicher Mitwirkung mit professionellen Wissensordnungen der Verwaltung und der Sozialmedizin.
Widerspruchsausschüsse in Jobcentern – Erkenntnisse einer empirischen Bestandsaufnahme
ABSTRACT. Die Beteiligung von ehrenamtlichen, außerhalb der Behörde stehenden Personen in einem Widerspruchsverfahren ist in mehreren Rechtskreisen normiert, allerdings nicht im Bereich der Arbeitsverwaltung, weder in der Arbeitsförderung noch in der Grundsicherung für Arbeitsuchende. Zwei Jobcenter (Pirmasens und Schwalm-Eder-Kreis) ziehen dennoch in ihren Widerspruchsverfahren ehrenamtliche Personen in Form eines Widerspruchsausschusses hinzu, die dort beratend beteiligt werden. Mittels qualitativer Interviews wurden die Verfahren beider Jobcenter sowie die möglichen Wirkungen der ehrenamtlichen Personen im Widerspruchsausschuss untersucht. Dabei wurde deutlich, dass deren Hinzuziehung 1) rechtlich zwar keine unmittelbare Folge auslöst. Sie kann aber dennoch maßgeblich zur Entscheidungsfindung beitragen und somit eine indirekte rechtliche Wirkung entfalten. 2) eine gesteigerte Dialogbereitschaft aller Beteiligten ermöglicht. Die Neutralität der Beisitzer, deren besondere Orts- und Sachkenntnisse und ihre lebensweltlich geprägte Rechtskenntnis führen zu einer gesteigerten Annahmebereitschaft auch einer negativen Entscheidung. 3) im Hinblick auf die Entlastungsfunktion insbesondere der Effekt der Befriedung eintritt. Es ist somit ein erfolgreiches Beispiel für kooperatives Verwaltungshandeln. 4) der Rechtsschutzfunktion durch einen zusätzlichen Ort der Überprüfung – sogar durch Dritte – besonders Rechnung getragen wird. 5) die Selbstprüfungsfunktion mittelbar beeinflusst wird, da das Einbringen anderer Argumente und Blickwinkel zu einer erweiterten Tatsachenermittlung führt.
Seit den Sechzigerjahren befassen sich Juristen, Soziologen und andere Wissenschaftler mit der Darstellung des Rechts in den Medien und speziell in der populären Kultur. Zunächst und weiterhin anhaltend ging es um das Bild des Rechts, der Rechtsberufe und -institutionen in der Presse, in Literatur und Filmen. In den letzten Jahren werden Fernsehsendungen systematisch einbezogen und ihre Derivate im Netz. Der Beitrag der Medien zu Vertrauen und Legitimität des Rechts steht im Mittelpunkt dieses Panels.
Chair:
Josef Estermann (VICESSE, Wien and University of Zurich, Switzerland)
Ruth Herz (School of Law, Birkbeck, University of London, UK)
Transparenz als Mittel zur Abschaffung Rechts?
ABSTRACT. Das Axiom der Öffentlichkeit von Gerichtsverhandlungen ist während der gesamten modernen Geschichte Europas und unabhängig von dem jeweils herrschenden politischen System, intakt geblieben. Nun stellt der gegenwärtig enorme Appetit auf Transparenz neue Herausforderungen an die Integrität und Legitimität der Justiz als Garant des Rechtsstaates und der Demokratie dar. Hat der Begriff Transparenz eine eher deklarative oder gar mythische Bedeutung erhalten? Oder hat sich Transparenz inzwischen als Ziel verselbstständigt? Ich möchte in meinem Beitrag eine Reihe von Themen beleuchten die diese Fragen aufwerfen und werde diese aus meinen richterlichen sowie wissenschaftlichen Perspektiven betrachten. Darüber hinaus, werde ich meine Erkenntnisse, die ich durch meine Rolle der Richterin in einer täglichen Gerichtsserie im kommerziellen Fernsehen gewonnen habe, einbringen.
Das Bild des Gerichtssaales als ein Raum der Stabilität, Tradition und Würde, der die Legitimität der Justiz sicherstellt, prägt immer noch die Vorstellung der Allgemeinheit. Allerdings erfahren nur wenige Menschen das Geschehen in diesem ‘erhabenen’ Raum persönlich. Die Architektur, die Anordnung des Mobiliars, die Rollen der Akteure, ganz zu schweigen von ihrer Sprache und Kleidung sind für die wenigen Besuchern fremd und unverständlich. Die meisten Menschen erfahren vom Geschehen im Gerichtssaal durch unterschiedliche Medien und durch andere ‘cultural agents’. Diese haben zusehends das allgemeine Publikum im Gericht ersetzt. Sie betrachten sich als “Übersetzer” der juristischen Entscheidungen, da diese schwer zu verstehen seien. Freie und unabhängige Medien sind in einer Demokratie essentiell. Sie stärken die Legitimität und Vertrauen der Justiz. Gleichzeitig prägen sie die Meinung der Allgemeinheit. Andererseits stellt sich die Frage, ob die Ausbreitung der Medien und anderer Technologien, die sich in den letzten Jahren, in populistischen aktivistischen ‘agents’ verwandelt haben, eine Bedrohung des demokratischen Rechtsstaates darstellt?
Die Medienberichterstattung fokussiert nicht nur auf Information und Bildung, sondern auch auf Unterhaltung und insbesondere auf Zuschauerquoten und finanzielle Gewinne. Daher ist sie häufig von Sensationsprozessen oder solche in denen Prominente Menschen beteiligt sind, geprägt. Die Auswahl der Fälle hat somit nicht nur das Verschwinden der alltäglichen Gerichtsprozesse zur Folge. Die Medienmeinung, dass Gerichtsverfahren langweilig sind und es daher notwendig ist sie zu dramatisieren und zu emotionalisieren hat zur Folge, dass Tatsachen mit sachfremden Meinungen verwischt werden. Sobald die Medien sich eines Prozesses bemächtigen, eignen sie sich die Rolle der Justizkritiker an. Konflikte werden vereinfacht und juristische Fragen verflachen. Die rechtlichen Debatten, die nicht mehr im Gericht, sondern ausserhalb ihrer Mauern stattfinden bewegen sich also häufig auch ausserhalb der juristischen und demokratischen Regeln. Hinzu kommt, dass die Medien unterschiedslos von Prozessen aus aller Welt berichten. Deren Konsumenten kennen die Bedeutung der unterschiedlichen Rechtssysteme und Kulturen nur wenig und verstehen häufig das was sie auf dem Schirm sehen als die eigene Wirklichkeit. Gerichte werden delokalisiert und werden mit ihren jeweiligen Symbolen und Bedeutungen nicht wiedererkennbar. Sie finden im Niemandsland statt.
Bleiben unter diesen Umständen die Richter unabhängig und von der öffentlichen bzw. Medienmeinung unberührt? Sie selbst bleiben bei ihrer Mantra, dass sie nur dem Gesetz und der Wahrheit verpflichtet seien. Kann das so bleiben oder laufen sie Gefahr von der Öffentlichkeit durch die Medien kontrolliert zu werden? Bedeuten diese Entwicklungen, dass die soziale Funktion der Strafjustiz und der Bestätigung der gesellschaftlichen Werte von der Justiz auf die Medien übertragen werden?
Instrument der Kriminalpolitik und Sprachrohr der Besorgten? Über das Verantwortungsbewusstsein von Journalisten in der Berichtserstattung über Kriminalität und Sicherheit
ABSTRACT. Die Medien stellen einen wichtigen Einflussfaktor auf die Bildung der öffentlichen Meinung und für das Gelingen politischer Vorhaben dar. Sie können sowohl der Politik als Plattform dienen, als auch den Bürgern als Sprachrohr; sie können sowohl ein Gegengewicht zum Staat bilden, als auch regulierend auf gesellschaftliche Strömungen einwirken.
Eine solche Zwischenposition stellt aber zwangsweise ein Spannungsfeld dar, insbesondere wenn es um die Berichtserstattung über Kriminalität und Sicherheit geht, und seit der Kölner Silvesternacht 2015/16 werden die Medien mit einer Vielzahl an Vorwürfen konfrontiert, die dieses erheblich verschärfen.
Aber wie wird dieses Spannungsfeld in der Praxis wahrgenommen? Wie wird mit den Vorwürfen der Lügenpresse einerseits und der mangelnden "political correctness" andererseits innerhalb der Redaktionen umgegangen? Und in welcher Verantwortung gegenüber von Politik und Gesellschaft sehen sich überhaupt die unterschiedlichen Medien, wenn sie über Kriminalität und Sicherheit berichten?
Durch die Führung von über 20 Experteninterviews mit Journalisten verschiedener deutscher Print- und TV-Medien werden im Vortrag diese Fragen beantwortet und es wird diskutiert, inwieweit die unterschiedlichen Medien zur Entstehung und Legitimation punitiver gesellschaftlicher und kriminalpolitischer Tendenzen beitragen können oder ihr entgegenwirken wollen.
ABSTRACT. Die Zahl der rechtsbezogenen Filme und Fernsehsendungen ist schier unüberschaubar, schon wenn man nur fiktionale Formate ins Auge faßt. Was macht sie so populär? Zur Erklärung kann man auf den Unterhaltungswert zurückgreifen. Produzenten und Konsumenten zielen auf bestimmte Eigenschaften ab, wenn sie die Entscheidung treffen, welche Stoffe wie inszeniert werden sollen, oder welchen Angeboten sie ihre Aufmerksamkeit schenken und gegebenenfalls welche sie bezahlen wollen. Eine nähere Analyse der Inhalte dieser Medienprodukte legt nahe, dass die folgenden Kriterien den Unterhaltungswert rechtsbezogener Formate bestimmen (Machura 2017): Konflikte und Normverstöße, sowie moralisches Urteil, besonders über Akteure, sind bereits von Niklas Luhmann (2000, 27–33) als für den Nachrichtenwert von Stories bestimmend charakterisiert worden. Sie sind auch bei Rechtsthemen regelmäßig einschlägig und ihre Darstellung ist unterhaltend. Das erklärt auch zum guten Teil die Popularität von z.B. Anwaltsserien, Gerichtsdramen und Gerichtsshows. Dazu treten weitere Eigenschaften: Humor, für Protagonisten in Aussicht stehende Belohnungen und drohende Nachteile und Gefahren, aber auch das Angebot zur Identifikation mit den dargestellten Figuren (z.B. Rollenträgern des Rechtssystems). Starke oder schwache Autoritäten, wie Anwälte und Richter, machen die Geschichten interessant. Gleiches gilt für Helden und ihre Widersacher - Rafter (2006, 136) sprach von “justice figure” und “injustice figure.” Dazu treten die Lösung eines Crime Mystery und die Entdeckung von Beweisen. Das Publikum wird regelmäßig mit Genres vertraut sein und entsprechend vorhandener Präferenzen auswählen. Dabei wird die geschickte Variation des Bekannten besonders geschätzt und sie wird auch manchmal offen thematisiert (Selbstreferenz). Dazu treten die erzählten Geschichten, und zwar "story in the trial" und the "story of the trial" (Jackson, 1996, 27). Sie nehmen dabei oft tiefverwurzelte kulturelle Narrative auf. Schließlich muß das Dargestellte glaubwürdig sein (Black, 1999, 142). Der Beitrag stellt die Unterhaltungswerte rechtsbezogener Format dar und zieht Folgerungen für die Analyse populärer Rechtskultur.
Literatur: Black, D. A. (1999). Law in film. Resonance and representation. Urbana: University of Illinois Press. Jackson, B. S. (1996). “Anchored narratives” and the interface of law, psychology and semiotics. Legal and Criminological Psychology, 1(1), 17–45. Luhmann, N. (2000). The reality of the mass media. Stanford, CA: Stanford University Press. Machura, S. (2017). Representations of law, rights and criminal justice. In: Oxford research encyclopedia of criminology. New York, Oxford University Press USA. DOI: 10.1093/acrefore/9780190264079.013.201 Rafter, N. (2006). Shots in the mirror: Crime films and society (2d ed.). Oxford: Oxford University Press.
Regieren im Ausnahmezustand wird mehr und mehr zur Norm. Wie bei der ständigen, nachfrageorientierten Verfügbarmachung von Konsumgütern ermöglicht es der Ausnahmezustand den Regierungen, situativ auf Sicherheitsbedürfnisse der Bürger_Innen einzugehen und maßgeschneiderte Lösungen für so gut wie jede denkbare Herausforderung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung anzubieten. Damit zieht er zunehmend mehr Kompetenzen an sich. Die Kehrseite, nämlich die sukzessive Beschneidung von Grund- und insbesondere Freiheitsrechten, verdient eine eingehende Beachtung, sowohl empirisch („Ausnahme“ ist nicht gleich Ausnahme in Frankreich oder in der Türkei) als auch rechtstheoretisch. Wohin führt diese Entwicklung? Steht etwa zu befürchten, dass sich die Demokratien Europas schleichend in Richtung einer autoritär-neoliberalen Demokratievariante entwickeln? Und was wäre die Alternative – gerade in einer Zeit, in der Sicherheitsbedürfnisse und Angst zentrale Größen des politischen Diskurses sind? Ein Verzicht auf ausnahmezustandliche Kompetenzen? Ohne jeden Zweifel bedarf die gegenwärtige politische wie rechtliche Praxis des Ausnahmezustandes einer kritischen Reflexion. Denn der Ausnahmezustand ist, wie Clinton Rossiter bereits 1948 angemerkt hat, eine „gefährliche Angelegenheit“. Dies gilt umso mehr im Zeitalter eines hobbesschen Neoliberalismus, in dem, wenn überhaupt, dann nur ein Staat auf Akzeptanz stößt, der sich als zentraler Sicherheitsgarant versteht.
Hinweis: Der Vortrag von Marie Goupy entfällt.
Chairs:
Fabien Jobard (Centre Marc Bloch, Germany) Matthias Lemke (Hochschule des Bundes für öffentliche Verwaltung, Fachbereich Bundespolizei, Germany)
Ece Göztepe (Bilkent University, Law Faculty, Turkey)
The Permanency of the State of Emergency in Turkey. The Rise of a Constituent Power or Only a New Quality of the State?
ABSTRACT. Working on the state of emergency/exception requires inevitably an idea of normality. For the first time the Roman law came up with the idea of ruling the state of exception before the exceptional conditions emerge and the Romans decided to locate the exceptional power beside the normal system. Even the terms and the content of the exceptional powers of the Roman dictators have been changed over time, the separation of their extra-legal powers from the regular system and the system-intern control of these powers stayed the core of the regulations. On the other hand most of the modern constitutional states have preferred to locate the exceptional, mostly executive powers, within the system and guaranteed a parliamentary and judicial control over the use of these constitution-based powers. So, the normative rules on the state of exception in modern constitutional states is still a dependent variable. Despite the constitutional restriction in Article 148 par. 1 that forbids the constitutionality control by the Constitutional Court the Turkish Constitution of 1982 could have also been subordinated to the system of modern constitutional states. My paper will put the emergency regime typologies briefly in a context to give an overview on the constitutional and legal foundations of emergency regimes in Turkey and then summarize the interpretation of these norms by the Turkish Constitutional Court in the 1990’s. In the second part I will analyse the content of the thirty-one state of emergency decrees as of the attempted Coup d’Etat in July 15th, 2016 and will show the shift from the state of exception regime under the rule of law to the non-revolutionary constituent power without any legal restrictions. The main subject of this analysis will be the TCC decisions after October 2016 which have abandoned its former concept of the constitutional limits of the emergency regimes and in fact give up its own functional existence and legitimacy within the constitutional system.
09:45
Matthias Lemke (Hochschule des Bundes für öffentliche Verwaltung, Fachbereich Bundespolizei, Germany)
Ausnahmezustand als Regierungstechnik
ABSTRACT. Der Ausnahmezustand scheint zum Dauerzustand zu werden: In Frankreich, der Türkei, in Spanien, den USA, in Großbritannien oder auf den Marshall-Inseln – überall dort und auch in weiteren Ländern haben Regierungen in jüngerer Vergangenheit wegen Terrorismus, vermeintlicher Putschversuche, Streik, Aufständen, Unruhen oder Klimaveränderungen den Ausnahmezustand verhängt. Als Instrument akuter Krisenintervention ist der Ausnahmezustand kein Phänomen der Moderne, vielmehr durchzieht er die Geschichte des Regierens von der Römischen Republik bis in die Gegenwart. Seine Notwendigkeit ist in der politik- wie rechtstheoretischen Analyse so gut wie nicht umstritten. Weitgehend unerforscht ist jedoch bis heute, wie dieses in aller Welt als notwendig erachtete Instrument tatsächlich angewendet wird. Ziel des Vortrages ist es daher, jenseits der Theoretisierung des Ausnahmezustandes zu aufzuzeigen, wie die Ausweitung von Exekutivkompetenzen politisch-praktisch funktioniert. In repräsentativen Demokratien geht der Umsetzung kollektiv bindender Entscheidungen deren Plausibilisierung in der politischen Öffentlichkeit voraus. Für die drei demokratischen Regimetypen – Präsidentialismus, Semipräsidentialismus, Parlamentarismus – wird in Fallstudien zu den USA, Frankreich und Deutschland systematisch ermittelt, welche sprachlichen Strategien die Ausrufung von Ausnahmezuständen in der politischen Öffentlichkeit vorbereiten, begleiten und überdauern. Die systematische Analyse politischer Öffentlichkeit, die in Parlamentsdebatten (Plenarprotokolle) ebenso wie in der Medienberichterstattung (Tageszeitungen o.ä.) retrospektiv erschlossen werden kann, vermag manifeste wie latente Sprachmuster öffentlicher Plausibilisierung dezidiert nachzuzeichnen.
Der Ausnahmezustand in Frankreich: Von der Banalität des Ausnahmerechts
ABSTRACT. Wenige Stunden nach den Attentaten in Paris im November 2015 verkündete der damalige Präsident François Hollande den Ausnahmezustand und ließ zehn Tage später das Parlament das ursprüngliche Notstandsgesetz von 1955 revidieren. Fünf Verlängerungsgesetze sind dann bis November 2017 eingeführt worden, die immer wieder Teile des gewöhnlichen Rechts aufgehoben haben. Im November 2017 hat das Recht seine Rechte wiedererlangt: Der Ausnahmezustand wurde aufgehoben. Inzwischen wurde aber Ende Oktober 2017 ein Gesetz zur Terrorismusbekämpfung verabschiedet, das wesentliche Teile der Ausnahmezustandsgesetze übernahm. Ist daher Ausnahme zur Routine geworden? Der Urteil ist darüber zwiespältig. Das Recht (sowohl die Gesetzgebung als auch die Gerichte) ist von 2015 bis 2017 nicht wortlos geblieben und die Ausnahmevorschriften sind von dem ersten Gesetz 2015 bis zu Antiterrorgesetz 2017 zum teil entleert worden. Andererseits hat die soziale Bewegung einen zum Teil erfolgreichen Widerstand gegen die Durchsetzung des Ausnahmezustandes geleistet. Aber in einem Land wie Frankreich, wo Sicherheitsbehörde eine lange Tradition an Immunität begünstigen, wäre es irrtümlich, die illiberalen Seiten des französischen Staates allein dem Ausnahmezustand und seiner möglichen Normalisierung zurückzuschreiben. Ziel des Vortrages ist dann eine rechtliche aber auch sozialwissenschaftliche Bilanz von 2+1 Jahren Durchsetzung des Ausnahmezustandes zu ziehen.
Der Roundtable will aus rechtssoziologischer und politikwissenschaftlicher Perspektive Schlaglichter auf den Forschungsstand zum Thema werfen, wie juristisches Wissen und rechtliche Entscheidungen in einem sozialen Prozess generiert werden.
Christian Boulanger (Recht im Kontext (Humboldt-Universität zu Berlin)/Berliner Arbeitskreis Rechtswirklichkeit, Germany)
Soziologie der Dogmatik
ABSTRACT. Der Beitrag schließt an Schulz-Schaeffer (2004) an, der feststellte, dass die Rechtssoziologie sich bisher kaum für die Rechtsdogmatik interessiert hat. Er plädiert dafür, die binäre Trennung von "law on the books" und "law in action" zu überwinden und eine gemeinsame Forschungsperspektive von Forschenden in den Sozial- und Rechtswissenschaften zu entwickeln. Der Beitrag schlägt vor, die Potentiale auszuloten, die ein modernisierter soziologischen Funktionalismus für eine solche gemeinsame Perspektive bieten könnte.
Schulz-Schaeffer, Ingo. „Rechtsdogmatik als Gegenstand der Rechtssoziologie : für eine Rechtssoziologie ‚mit noch mehr Recht‘“. Zeitschrift für Rechtssoziologie 25, Nr. 2 (2004): 141–74.
ABSTRACT. Im Beitrag wird das rechtliche Methodenwissen als Ausdruck eines gesellschaftlich geteilten praktischen Regelwissens beschrieben. Insbesondere die richterliche Dogmatik des Verfassungsgerichts spiegelt eine spezifische Erfahrung politischer Ordnung wieder, die Gegenstand der Politikwissenschaft ist. Durch die Aufklärung der Symbolik des Methodenwissens können systematische Bezüge zum konstituierenden politischen Orientierungswissen hergestellt werden, wobei dies für Dogmatik eben der Republikanismus ist.
Empirische Forschungen zum Bundesverfassungsgericht
ABSTRACT. Galt noch vor einiger Zeit der Satz, daß es sich beim Bundesverfassungsgericht um ein „unbekanntes Wesen“ handele, so hat die Politikwissenschaft im deutschsprachigen Raum in den letzten Jahren maßgeblich dazu beigetragen, für Aufklärung in diesem Forschungsfeld zu sorgen — und damit auch an den angelsächsischen State of the Art anzuschließen. Dabei lassen sich gerade im Bereich der empirisch-quantitativen Studien wesentliche Fortschritte beobachten, die das Gericht als maßgeblichen Akteur ins Zentrum politics- und policy-orientierter Analysen rücken, dabei vorbereitete Pfade der Rechtssoziologie wieder entdecken, und aufgrund elaborierter theoretisch-methodischer Designs einen Eigenstand gegenüber der traditionell starken Rechtswissenschaft zu etablieren beginnen. Vor diesem Hintergrund erscheint es an der Zeit, eine Zwischenbilanz dieser verschiedenen Forschungsstränge zu ziehen, um auf dieser Basis der Frage nachzugehen, ob und in welcher Weise das Bild des Bundesverfassungsgerichts als ein selbstbewußtes und mächtiges Gericht einer Ergänzung oder gar Revision bedarf.
Seit den 1990er-Jahren wurde in Europa verstärkt Antidiskriminierungsrecht (ADR) geschaffen. Seitdem ist Gleichbehandlung nicht nur im Arbeitsleben einklagbar. Dabei rekurriert ADR auf soziale Verhältnisse, die vorher vom Recht (scheinbar) unangetastet blieben. Antidiskriminierungsgesetzgebung gilt als Meilenstein, der von vielen entweder als Bruch mit althergebrachten Prinzipien des Privatrechts oder aber als ein Recht gewordenes Emanzipationsversprechen wahrgenommen wurde. ADR verpflichtet, sanktioniert, individualisiert. Rechteinhaber*innen haben nun die Möglichkeit (und damit auch die Aufgabe?) mit ihrer Klage Veränderungen zu bewirken. Es macht sich zur Aufgabe, zum Teil sehr grundlegende Bestandteile der sozialen Ordnung umzuformen. Zudem schreibt sich ADR als möglicher Bezugspunkt in moralische Entwürfe einer besseren Gesellschaft ein. Indem ADR von einem Subjekt ausgeht, dessen (Rechts-)position von bestimmten Ungleichheitsrelationen geprägt ist, entdeckt es gewissermaßen die Gesellschaft wieder. Zugleich gibt es viele konzeptionelle Annäherungen an die Gesellschaftswissenschaft: Etwa in der Debatte um Intersektionalität oder in der Frage der geschützten Diskriminierungsmerkmale. In unserem Panel versammeln wir Beiträge, die sowohl die Rechtsanwendungspraxis, den politischen Umgang mit ADR auch jenseits der institutionalisierten Arenen, die Fortbildung des positiven Rechts selbst als auch die (utopischen) Gesellschaftsentwürfe, die in ADR enthalten sind, untersuchen.
Chair:
Kirsten Wiese (Hochschule für öffentliche Verwaltung, Bremen, Deutschland, Germany)
Sophie Arndt (Goethe-Universität Frankfurt, Germany)
Abbildung von Diskriminierung – Statistik und „strukturelle Ungleichheit“
ABSTRACT. Das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG) benennt konkrete Verantwortliche für Diskriminierungen: Arbeitgeber, Vermieter etc. Diese werden sanktioniert, wenn sie in konkreten Einzelfällen das rechtliche Inklusionsversprechen nicht einlösen. Damit wirkt das Antidiskriminierungsrecht individualisierend. Es isoliert Strukturen sozialer Ungleichheit: Aus ihnen werden Beziehungen zwischen Diskriminierten und „Tätern“. Die Rechtsfigur der mittelbaren Diskriminierung verspricht einen Ausweg aus dieser Engführung, die Adressierung „struktureller Ungleichheit“. Letztere soll durch Statistiken messbar gemacht und in den Rechtskonflikt eingeführt werden. Mittelbare Diskriminierung setzt damit an einer besonderen Schnittstelle an: Sie beschreibt das Zusammentreffen gesamtgesellschaftlicher Strukturen von Ungleichheit und individueller Verantwortung für einen konkreten Kontext (etwa einen Betrieb). Aber wie weit reicht diese Verantwortung? Geht es darum, nicht hinter einen allgemeinen Status Quo zurückzufallen oder gar um proaktives Gegensteuern? Statistiken fungieren hierbei (1) als „Abbild“ sozialer Strukturen und (2) als Grundlage der Zuweisung rechtlicher Verantwortung. Der Vortrag fragt anhand von Fallstudien wie Ungleichheit durch diesen Einsatz von Statistik zum Ausdruck gebracht und imaginiert wird, welche Konflikte um die „Abbildung“ und die daraus folgende Verantwortung entstehen sowie welche Interventionen die Rechtsfigur der mittelbaren Diskriminierung ermöglicht.
Abseits des Gerichtssaals: Die zivilgesellschaftliche Ausgestaltung des Antidiskriminierungsrechts
ABSTRACT. „Die Bilanz nach 10 Jahren zeigt, dass das AGG wirkt - und zwar ohne, dass die Horrorvisionen mancher Kritiker Wirklichkeit geworden sind" sagte der Bundesjustizminister auf der Feier zum 10-jährigen Bestehen des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes. Dabei sprach er vermutlich die Wirkungen an, die sich aus dem Anwendungsbereich der Norm ergeben und darin angelegt sind. Aber auch über seinen Anwendungsbereich hinaus wird dem Gesetz eine symbolische Wirkung bescheinigt.
In meinem Beitrag möchte ich erste Ergebnisse einer ethnographischen Forschung zu Antidiskriminierungsarbeit in Berlin vorstellen und danach fragen, wie das AGG auf politische Prozesse wirkt. Das Gesetz ist ein Versuch, moralische Werte wie Gerechtigkeit, Gleichheit und Demokratie umzusetzen. Gleichwohl muss das AGG, um eine Wirkung zu entfalten, in zivilgesellschaftlichem Engagement und öffentlicher Diskussion mit Leben gefüllt werden. Indem es als Argumentationsressource zur Verfügung steht, einen relativ neuen möglichen Betätigungsbereich für NGOs darstellt und als autoritative Setzung die Debatte darüber lenkt, was Antidiskriminierung ist, zeigen sich seine Wirkungen jenseits der institutionellen Rechtsdurchsetzung.
10:00
Lisa Ammon (Université Paris 8/CRESPPA-CNRS, France)
Was macht den Unterschied ? Eine vergleichende Analyse der Auseinandersetzungen um Kategorien im Antidiskriminierungsrecht in Deutschland und Frankreich
ABSTRACT. Nicht jede Ungleichbehandlung stellt eine Diskriminierung dar. Was einklagbar ist, hängt von einer gesetzlich festgelegten Liste von Diskriminierungsgründen ab, die, je nach nationalem Kontext, sehr unterschiedlich ausfallen kann. Diese Listen illustrieren demnach Konzeptionen von Diskriminierung, die Antidiskriminierungsgesetzen zu Grunde liegen. Am Beispiel Frankreich und Deutschland lässt sich aufzeigen, wie unterschiedlich Diskriminierungsmerkmale gefasst werden können und wie diese Definitionen stetig weiter ausgehandelt werden. So wurde in Frankreich seit Verabschiedung der Gesetze gegen Diskriminierung in den Jahren 2001 und 2008, die Liste der Kriterien immer wieder erweitert (z.B. um Wohnort und Prekarität) und zählt heute 24 Kriterien, die sowohl sozial konstruierte Kategorien wie Rasse und Geschlecht, wie auch ‘empirische’ Merkmale wie ‚Schwangerschaft‘ beinhalten. Im Gegensatz hierzu sind im deutschen AGG acht Kategorien festgeschrieben. Welche Gründe wie in Antidiskriminierungsgesetze aufgenommen werden, bestimmt maßgeblich das emanzipatorische Potential von Antidiskriminierungsgesetzen. Die Formulierung einer Liste von Gründen birgt die potentielle Gefahr der Hierarchisierung von Kriterien und der Entpolitisierung von Diskriminierung. Der Vortrag soll erste Ergebnisse einer qualitativen Forschung präsentieren, die mit Hilfe einer Diskursanalyse und Interviews mit französischen und deutschen NGOs, die Aushandlungsprozesse jener Listen in zwei Ländern analysiert und die jeweiligen politischen Ansprüche an Antidiskriminierungsrecht vergleicht.
Josephine Papst (indexicals - Centre for Philosophy, Theory of Science, and Philosophy of Art, Austria)
Der stille Staatsputsch und Staatsterror: Kein Schaden? Der stille Staatsputsch und Staatsterror als Verfassungsstörung oder Staatsnotstand eines modernen Verfassungsstaates und der Irrtum des Rechtspositivismus
ABSTRACT. Gemäß der herrschenden Rechtsmeinung gilt, dass es in einem modernen Verfassungsstaat wie Österreich einen sogenannten stillen Staatsputsch, also einen systematischen Angriff auf das Rechtssystem von innen heraus, nicht geben kann. Mit "von innen heraus" ist gemeint, dass der Angriff von der Judikative selbst und den damit zusammenhängenden Berufen und Institutionen systematisch betrieben wird.
Aufgrund der umfassenden Rechtsmittel und Kontrollmechanismen gilt eine Außerkraftsetzung des Rechts und der Verfassung auf der Grundlage des positiven Rechts für ausgeschlossen. Doch entspricht diese Auffassung der Rechtswirklichkeit oder steht sie mit ihr im Widerspruch?
In meinem Beitrag wird zunächst auf zentral unbewältigte Irrtümer der Kelsenschen Reinen Rechtslehre eingegangen sowie auf daraus resultierende Probleme des Rechtspositivismus. Ein stiller Staatsputsch ist erschreckenderweise möglich, was im empirischen Teil anhand konkreter Handlungsweisen und Beispiele aus der österreichischen Judikative gezeigt wird. Ein derartiger Zustand ist ein irreversibler Schaden für den Staat, für die Gesellschaft und für jeden einzelnen Bürger.
Das Ziel meines Beitrages ist es, auf diese gegenwärtig bestehende latente Gefahr für Verfassungsstaaten aufmerksam zu machen und eine öffentliche Diskussion anzuregen.
Abschaffung des Rechts für Terroristen? – Terrorismusbekämpfung im Spannungsfeld zwischen Sicherheitsüberlegungen und Rechtsstaatlichkeit
ABSTRACT. Seit den Anschlägen im Jahre 2001 hat die westliche Welt mehrere Terroranschläge mit islamistischem Hintergrund erlebt: Selbstmordattentäter mit Sprengstoffgürteln; Lastwagen, die in Menschenmengen rasen; Täter, die wahllos um sich schiessen. Oft waren die Täter bereits als potentielle «Gefährder» bekannt, Massnahmen wurden aber keine ergriffen. Es stellt sich die Frage, ob die Möglichkeiten des bürgerlichen Strafrechts ausreichen, um den Gefahren des Terrors zu begegnen. Stimmen werden laut, die verlangen, Terroristen und Gefährder unbegrenzt in Haft nehmen zu können. Es wird von der Notwendigkeit eines Gefährderrechts gesprochen. Weiter sei die Strafbarkeit bei besagten Delikten vorzuverlagern. Der Begriff des «Feindstrafrechts» von JAKOBS scheint in der aktuellen Diskussion passender denn je. Sind die Rechte von Terroristen zu beschneiden? Dürfen oder müssen sie sogar beschnitten werden? Oder sollten wir uns CICERO entsinnen?: «Denken wir aber daran, dass auch gegen die Geringsten Gerechtigkeit zu wahren ist.» Dieser Beitrag soll basierend auf der «Strategie der Schweiz zur Terrorismusbekämpfung» die Frage beleuchten, ob sich eine wirksame Terrorismusbekämpfung, die bereits im Vorfeld von Taten greift, grundrechtskonform ausgestalten lässt. Dazu sollen die bedeutendsten Massnahmen insbesondere im NAP* und im Vorentwurf PMT** anhand von rechtsstaatlichen Garantien analysiert werden.
* Nationaler Aktionsplan zur Verhinderung und Bekämpfung von Radikalisierung und gewalttätigem Extremismus
** Bundesgesetz über polizeiliche Massnahmen zur Bekämpfung von Terrorismus
Die Abschaffung des Rechts durch den Ausnahmezustand?
ABSTRACT. Die Ausrufung des Ausnahmezustands bzw. Staatsnotsands sowie verschiedene Notrechte und Ausnahmeregelungen sollen den demokratischen Rechtsstaat vor undemokratischen Kräften schützen, indem sie die Handlungsfähigkeit des Staates in Notlagen garantieren. Hierfür werden rechtliche Normen oder Prinzipien ganz oder teilweise suspendiert. Die Bezugnahme auf die Ausnahme des Ausnahmezustandes sowie das Rekurrieren auf die Not des Staatsnotstandes bergen aber auch Gefahren für das Recht. Der zunehmende Gebrauch von Notrechten und Ausnahmeregelungen machen eine vertiefte rechtsphilosophische und rechtssoziologische Auseinandersetzung mit den Begriffen der «Ausnahme» und der «Not» unausweichlich.
Rechtsphilosophisch stellen die Begriffe der Ausnahme und der Not begriffsnotwendig Herausforderungen für das Recht als normatives und geschlossenes Regelwerk dar. Necessitatem legem non habet - die Not kennt kein Gesetz oder sie schafft ihr eigenes Gesetz. Verweist die Not des Staatsnotstand oder die Ausnahme des Ausnahmezustands auf einen rechtsfreien Raum?
Rechtssoziogisch stehen die Legitimationsstrategien des Staates im Vordergrund: Um den Ausnahmezustand zu rechtfertigen, bemüht der Staat verschiedene Legitimationsdiskurse, die entweder auf den Ausnahmecharakter der Situation (das Exzeptionelle und Singuläre) oder auf die Notlage (Krisen- und Insuffizienz-Rhetorik) Bezug nehmen.
12:15
Kirsten Wiese (Hochschule für öffentliche Verwaltung, Bremen, Deutschland, Germany)
Gefährder*innen durch Glaube und Religionsausübung?
ABSTRACT. Unter Gefährder*innen verstehen in Deutschland das Bundeskriminalamt und die Landeskriminalämter Personen, bei denen „bestimmte Tatsachen die Annahme der Polizeibehörden rechtfertigen, dass sie Straftaten von erheblicher Bedeutung, insbesondere solche im Sinne des § 100a der Strafprozessordnung (StPO), begehen“. Die Einordnung einer Person als Gefährder*in kann das Ergreifen polizeilicher Maßnahmen nach den Polizeigesetzen rechtfertigen. Ebenso können nicht-deutsche Gefährder*innen, bei denen "das Risiko der Begehung einer terroristischen Tat" besteht, abgeschoben werden. Das Bundesverwaltungsgericht hat 2017 mehrmals die Abschiebung von Personen gerechtfertigt, die "als Gefährder der radikal-islamistischen Szene in Deutschland zuzurechnen seien". In dem Beitrag soll dargestellt werden, inwieweit mit Blick auf die Religionsfreiheit nach Art. 4 GG Glaube und Religionsausübung als Tatsachen gelten können, auf die die Annahme gestützt wird, dass bestimmte Straftaten begangen werden. Zugleich soll in diesem Zusammenhang untersucht werden, inwieweit einerseits religionssoziologisch die Hinwendung zum Islamischen Staat und sonstigen radikal-islamisch motivierten Bewegungen als Religionsausübung gelten kann und andererseits inwieweit unter verfassungsrechtlichen Gesichtspunkten den Behörden zusteht, Islamismus nicht als Glaube zu bewerten.
Melanie Wegel (ZHAW Institut für Delinquenz und Kriminalprävention, Switzerland)
Freiheitsstrafen aus der Sicht von Inhaftierten
ABSTRACT. Die Verhängung von strafrechtlichen Sanktionen steht in einem Kontext zum Sinn und Zweck und auch der Wirkung von Strafen, sowie den Ursachen von Kriminalität. Ausgehend von den Straftheorien nach Kant, Hegel, Durkheim und List, werden Aspekte wie Abschreckung, Besserung, Stärkung von Normen, Sühne oder auch Vergeltung fokussiert. Die meisten Studien zu Punitivität nehmen die Gesellschaft und deren Einstellungen in den Blick. Was Inhaftierte jedoch über Sanktionen denken, ist weitgehend unbekannt. Um diesem Desiderat nachzugehen, wurden im Rahmen eines Forschungsprojektes, welches vom Schweizerischen Nationalfonds gefördert wurde (Wertorientierungen und Lebenswelten im Strafvollzug, Nr. 162380), eine quantitative Befragung mit 742 Schweizerischen Inhaftierten durchgeführt. Im Blick stehen hier vor allem die Gründe für die Akzeptanz oder auch Ablehnung der eigenen Freiheitsstrafe. Im Rahmen des Vortrages werden erste Befunde darüber vorgestellt, was für einen Sinn Inhaftierte in einer Freiheitsstrafe sehen und wie diese die Ursachen von Kriminalität bewerten. Es wird postuliert, dass jeder funktionalen Straftheorie eine Kriminalitätstheorie zugrunde liegt. Mit den Daten aus der quantitativen Befragung mit Schweizerischen Inhaftierten aus Straf- und Massnahmeeinrichtungen der gesamten Schweiz wird dieser Zusammenhang empirisch überprüft.
Need for Speed: Die neue Beschleunigungsfreude im Strafverfahren am Beispiel der Untersuchungshaft
ABSTRACT. Sowohl nach nationalem wie nach europäischem Recht gibt es die staatliche Verpflichtung nur unter strengen Bedingungen einer Person die Freiheit zu entziehen. Das gilt auch und gerade für diejenigen, die wegen des Verdachts, eine Straftat begangen zu haben, inhaftiert werden sollen: Hier sind in einer komplexen Prüfstruktur die Voraussetzungen in Gestalt nicht nur der Belege für das Bestehen eines Tatverdachts, sondern auch für das Bestehen eines der enumerativ aufgezählten Haftgründe und der Verhältnismäßigkeit einer solchen Haft festzustellen. Andererseits finden sich normative Vorgaben ebenso für die Verpflichtung, Strafverfahren – gerade in Haftsachen – zügig und gegenüber anderen Verfahren beschleunigt einer Klärung zuzuführen.
Der Beitrag erhellt, dass in der Praxis zunehmend das eine Prinzip gegen das andere ausgespielt wird und das Bedürfnis, Verfahren so schnell als möglich zu erledigen, die Notwendigkeit einer gründlichen Prüfung der Haftvoraussetzungen überlagert. Augenfällig ist dies für Verfahren eher leichter Kriminalität gegen sozial marginalisierte ausländische Tatverdächtige. Dieser länderübergreifende Befund wird anhand von Ergebnissen einer vergleichenden empirischen Studie, die zur Frage des Gelingens von Untersuchungshaftvermeidung in 7 europäischen Staaten durchgeführt wurde, dargestellt. Die beobachtete Beschleunigungsfreude lässt sich Erscheinungen der Ökonomisierung und Marginalisierung des Rechts zuordnen, die durch gesetzlich verankerte oder kriminalpolitisch geforderte Möglichkeiten, Strafverfahren zu „effektivieren“, begünstigt werden.
Die Praxis der Untersuchungshaft als Ausdruck von Rechtskultur
ABSTRACT. Die Untersuchungshaftraten zeigen im Ländervergleich sehr große Unterschiede. Auch wenn diese Daten Kriminalitätsstrukturen, soziale Verhältnisse, etc. nicht berücksichtigen, so weisen die Größenordnungen der Unterschiede doch auf beträchtliche Unterschiede in der Untersuchungshaftpraxis hin. Dabei stellen sich die rechtlichen Regelungen zur Untersuchungshaft (U-Haft) zumindest innerhalb der EU in den Grundzügen weitgehend ähnlich dar und nicht zuletzt gibt es gemeinsame rechtliche Standards wie die EMRK und das Ultima Ratio Prinzip.
Die Praxis der Anwendung von Untersuchungshaft gibt wohl einige Auskunft über die Rechtskultur eines Landes. Mit einer U-Haft wird einem vor dem Recht unschuldigen, noch nicht verurteilten Menschen auf der Grundlage von Beweisen die Freiheit entzogen, die zu diesem Zeitpunkt regelmäßig noch ausführlicher Prüfung und Bewertung bedürfen. Eine U-Haft ist der drastischste Eingriff in ein zentrales Grundrecht, den jemand in einem Strafverfahren erleben kann.
Auf der Grundlage der Ergebnisse eines vergleichenden Europäischen Projektes mit Partnern in 7 Ländern (DETOUR) diskutiert der gegenständliche Beitrag Beobachtungen zur U-Haftentscheidungspraxis. Dabei stellt sich nicht zuletzt die Frage, wie die rechtlichen Voraussetzungen gehandhabt werden und welche – gesetzlich vorgesehenen oder auch nicht vorgesehenen – Faktoren und Motive die Praxis beeinflussen? Werden hier Sicherheits- und Effizienzkalküle über Persönlichkeitsrechte gestellt?
In den traditionellen Ansätzen der Rechtssoziologie wird "das Recht" mittels "der Gesellschaft" problematisiert. So wird entweder versucht, die sozialen Einflüsse auf das Recht zu bestimmen („soziologische Jurisprudenz“), oder es geht darum, eine explizit gesellschaftstheoretische Bestimmung des Rechts zu geben. Gegenüber diesen beiden paradigmatischen Perspektiven der Rechtssoziologie verfolgt das Panel eine dritte Spur in der Bestimmung des Verhältnisses von Recht und Gesellschaft, deren Genealogie in die Gründungsphase der Soziologie führt und in deren Zentrum die Frage steht, welche gesellschafts- und sozialtheoretischen Implikationen sich im Recht ausmachen lassen. Mit diesem Vorschlag wollen wir Impulsen aus den gegenwärtigen Ansätzen der Rechtssoziologie bzw. der interdisziplinären Rechtsforschung folgen, die das Recht als Ort der Herstellung und der Emergenz sozial relevanten und wirksamen Wissens, bzw. als Ort der Produktion von Wissen über gesellschaftliche Zusammenhänge adressieren. Das Panel will in diesem Sinne ausloten, wie Recht und Rechtsentwicklung (wieder) anschlussfähig gemacht werden können für gesellschaftstheoretische Überlegungen. Wie beeinflussen Rechtstheorie und juristisches Wissen soziologische Denkschemata, Begriffsbildungen oder Theorieannahmen? Welche Wechselwirkungen zwischen juristischer Dogmatik und soziologischer Theoriebildung lassen sich nachzeichnen? Diese Fragestellungen weisen aber nicht nur eine soziologiegeschichtliche Seite auf, wenn sie den Blick auf die theoriekonstitutive Funktion der Auseinandersetzung mit dem Recht in der Soziologie lenken. Vielmehr erscheinen sie immer dann umso dringender, wenn ein gegenwärtiger – wie immer zu bestimmender – Wandel im Recht zu erkennen ist. Denn dann eröffnen sich zeitdiagnostische und begriffliche Aushandlungsfelder zwischen Soziologie und Rechtswissenschaft, die durch gegenseitige Rückwirkungseffekte gekennzeichnet sind. Um ein Beispiel zu nennen: Wenn der informations- und biotechnologische Umbau der Gesellschaft die Möglichkeit des Rechts radikal in Frage stellt, dann geht es aus juristischer Perspektive nicht nur um die Diagnose eines solchen Wandels, sondern es stellt sich zugleich für die Soziologie die Frage, welche Folgen dies für die soziale Ordnung hat, wird das Recht doch nach wie vor als ihr zentraler Garant angesehen.
Verwaltungsrecht oder Systemtheorie? Zur Epistemologie digitaler Verwaltung
ABSTRACT. Als um 1960 die ersten digitalen Rechenmaschinen ihren Dienst in den öffentlichen Verwaltungen der Bundesrepublik aufnahmen, kam bei zeitdiagnostisch gestimmten Juristen der Verdacht auf, einer Agonie des Rechts beizuwohnen. Die Rede war von einer allgemeinen «Überwältigung des Rechts durch die Technik» (Ernst Forsthoff) oder von der «partiellen Kapitulation des Rechts, des juristischen Denkens, vor der Technik, dem technischen Denken» (Karl Oftinger).
Entgegen diesen Skandalisierungen des Computers, will der Vortrag die Verhandlungszone nachzeichnen, die der Einbau des Computers in die Routinen öffentlicher Verwaltungen um 1960 in der Bundesrepublik eröffnet hat und in der Juristen mit Computern, Programmierern und Soziologen in Kontakt kamen. Im Zentrum des Vortrags stehen Karl Zeidlers Studie über die Technisierung der Verwaltung (1959) und Niklas Luhmanns Arbeiten zu einer systemtheoretischen Theorie der Verwaltungswissenschaft (1966). Als historische Episode zum Kongressthema zeigt der Vortrag, wie die rechnergestützte Verwaltungswirklichkeit um 1960 zeitdiagnostische und begriffliche Aushandlungsfelder zwischen Soziologie und (Verwaltungs-)Recht eröffnet hat. Zudem soll die (öffentliche) Verwaltung als Ort der Theorieproduktion markiert werden, an dem juristische, ökonomische, soziologische und kybernetischen Wissensbestände aufeinandertreffen.
11:45
Frieder Vogelmann (Institut für Interkulturelle und Internationale Studien (InIIS), Universität Bremen, Germany) Ricky Wichum (ETH Zurich, Switzerland)
Responsibilisierung: Befund, Begriff, Bedeutung
ABSTRACT. Mit responsibilization strategy wird eine Veränderung dessen benannt, was wir unter »Kriminalität« verstehen – und zwar in kritischer Absicht, indem dieser Wandel als Bestandteil einer neoliberalen Neuordnung der Welt, als Ausweitung staatlicher Eingriffstiefe oder als Individualisierung eigentlich sozialer Prozesse aufgefasst wird. Bemerkenswert selten wird diese vor allem aus den Governmentality Studies bekannte Diagnose allerdings daraufhin befragt, welcher Begriff von »Verantwortung« ihr zugrunde liegt, ob dieser nicht zugleich mit der Erfahrung von »Kriminalität« selbst eine Veränderung durchläuft und welche Konsequenzen damit für die Rechtstheorie einhergehen könnten, zu deren zentralen Begriffen »Verantwortung« ja zählt. Der Vortrag stellt daher zunächst den Befund, dass Responsibilisierung stattfindet, genauer vor, ehe er den dabei verwendeten Begriff von Verantwortung und seinen Wandel in den Praktiken der Responsibilisierungstrategie herausarbeitet. Auf dieser Basis kann die Bedeutung der Repsonsibilisierungsdiagnose für die Rechtstheorie geprüft werden. Als problematisch erweist sich vor allem eine fehlende Reflexion auf die Diskrepanz zwischen dem Verantwortungsbegriff in der Rechtstheorie und den Praktiken des Rechts.
Transformationen der Privatsphäre. Das Verhältnis von Technologie zum Recht in den USA der 1960er und 1970er Jahre
ABSTRACT. In den USA der 1960er und 1970er Jahren wurde "privacy" neu konzeptualisiert - rechtlich wie auch soziologisch. Warnungen vor einem „end of privacy“ (New York Times), „Assault on privacy“ (Miller) oder „Death of privacy“ (Rosenberg) bezogen sich auf Elektronische Datenverarbeitung, mit der Information über Personen verwaltet werden konnte. Mit Computern konnte Information codiert, gespeichert, kopiert, weitergegeben und verknüpft werden. Eine Sorge war es, dass Computer Entscheidungen übernehmen könnten. Gleichzeitig stand Privatsphäre im Zusammenhang mit Verhütung, etwa kam die sogenannte Pille auf den Markt. Der Vortrag untersucht das Verhältnis von Technologien zu Privatsphäre aus rechtssoziologischer Perspektive. Diesbezüglich sollen der Vorschlag für ein bundesstaatliches Datenzentrum sowie geheimdienstliche Datenbanken, welche die US-Armee über Dissidenten führte, analysiert werden. Darüber hinaus wird ein kurzer Ausblick auf Fälle um Verhütungsmittel gegeben, in denen ein Recht auf Privatsphäre geltend gemacht wurde. Diese Konflikte um "privacy" werden schließlich gesellschaftstheoretisch verortet. Denn Autoren begründeten Rechte auf Privatsphäre auch mit soziologischen Argumenten. Dabei deuteten einige Autoren "privacy" als relationales Konzept, das statt einer reinen Abschottung des Individuums die Beziehung zu anderen Personen betonte. Es wird argumentiert, dass soziologische Deutungsmuster in Rechtsstreitigkeiten um "privacy" mitverhandelt wurden.
12:15
Doris Schweitzer (Goethe-Universität Frankfurt am Main, Germany)
„Neuer Materialismus“ und das Recht der Dinge
ABSTRACT. Der »new materialism« positioniert sich als neues Paradigma der Sozial- und Kulturwissenschaften, der einen umfassenden Wandel der Denkgewohnheiten für sich proklamiert. Auch wenn dies keinen homogenen Denkstil oder in sich in sich kohärente Theorieschule darstellt, überschneiden sich die Ansätze in ihrem Anliegen der Aufwertung der Dinge (vgl. Roeßler). In der Kritik von exkludierenden Strukturen (z.B. Harraway, Barad) wird gegenüber dem Anthropozentrismus in der Soziologie der Akteurstatus auf Dinge, Artefakte und Objekte ausgeweitet (prominent Latour) bis hin zur Forderung, ihnen eigenständige Recht zu verleihen (Serres).
Trotz dieses rechtsbezogenen Fluchtpunktes finden die soziologischen Debatten um den neuen Materialismus jenseits des Rechts und der rechtsphilosophischen oder wissenschaftlichen Diskussionen über die Rechtsfähigkeit von Pflanzen (z.B. Stone), Robotern (EU-Parlament) und anderen elektronischen Aktanten (etwa Teubner) statt. Aber was passiert mit der beabsichtigten kritischen Intervention des „Neuen Materialismus“, wenn die Dinge und Objekte in diesen Debatten bereits rechtlich eingehegt werden? Was, wenn der Anthropozentrismus über die Neukonzeptionierung von subjektiven Rechten schon an entscheidenden Stellen aufgelöst wurde? Welcher Exklusion kann dann überhaupt aus soziologischer Sicht mit der Aufwertung der Dinge begegnet werden? Diese Fragen an den „Neuen Materialismus“ sollen im Vortrag mit Blick auf die aktuellen rechtlichen Diskussionen um die Rechtsfähigkeit von Robotern und elektronischen Agenten diskutiert werden.
Sozialrechtliche Beratung zwischen individueller Rechtsmobilisierung und Interessensvermittlung?
ABSTRACT. In Gesellschaften mit stark verrechtlichten Sozialbeziehungen setzt die Inanspruchnahme von Sozialleistungen bei nicht rechtsgewandten Bürger*innen ein starkes Rechtsbewusstsein oder eine gute sozialrechtliche Beratung voraus. Da Recht nahezu alle Bereiche unseres Alltagslebens durchdringt, gelingt es Laien oft nicht zu erkennen, wann sie es mit einem Rechtsproblem zu tun haben. Bürger*innen vermögen es nicht ohne weiteres, Rechte eigenständig zu artikulieren und wirksam zu mobilisieren. So entstehen Beratungsbedarfe, die beispielsweise im SGB I gesetzlich geregelt sind, aber nicht im vollen Umfang und guter Qualität erbracht werden. Unabhängige Vereine, Netzwerke und Initiativen in freier Trägerschaft versuchen diese Beratungslücken zu schließen. Einerseits wird Beratung hier als Angebot der „Hilfe zur Selbsthilfe“ gelabelt und schließt die Vertretung in einem möglichen Rechtskonflikt zumeist nicht ein. Andererseits befähigt sie Rechtsuchende wirksamer von den eigenen Rechten Gebrauch zu machen. In welcher Weise unabhängige Beratungseinrichtungen im Feld der sozialrechtlichen Beratung agieren und inwiefern Beratende die Mobilisierung und Durchsetzung von Recht in asymmetrischen (Wissens-)Machtstrukturen tatsächlich erleichtern, ist Gegenstand meines rechtssoziologischen Promotionsprojektes, dessen erste empirische Befunde hier zur Diskussion gestellt werden sollen.
Rechtsschutzverfahren in Systemen sozialer Sicherung
ABSTRACT. Der Wohlfahrtsstaat als staatlich institutionalisierter Apparat zur Absicherung vor sozialen Risiken soll sowohl soziale Sicherheit als auch soziale Gerechtigkeit herstellen. Die Ausgestaltung sozialstaatlicher Leistungen hinsichtlich Leistungsart, -umfang und -zugang hängt von zahlreichen Faktoren ab, in denen sich vielfach das politische, gesellschaftliche und soziale Zeitgeschehen widerspiegelt. Doch was geschieht, wenn sozialrechtliche Regelungen nicht den Bedürfnissen der Lebenswirklichkeit der Betroffenen gerecht werden oder in der exekutiven Praxis nicht korrekt angewandt werden? Für diese Fälle bedarf es Rechtsschutzverfahren, die damit eine zentrale Rolle bei der Durchsetzung rechtlicher Ansprüche und der Kontrolle staatlichen Handelns einnehmen. Wie aber funktioniert Rechtsschutz im Wohlfahrtsstaat? Wie ist der Zugang gestaltet und in welchem Umfang nehmen Menschen Rechtsschutzverfahren in Anspruch? Und gibt es Zusammenhänge zwischen der Ausgestaltung des Wohlfahrtsstaates und dessen Leistungen und der Ausgestaltung und Nutzung von Rechtsschutzverfahren in selbigem? Mit diesen Fragen befasse ich mich in meiner Dissertation und vergleiche dazu die Rechtsschutzverfahren im Kontext der Absicherung bei Arbeitslosigkeit in Deutschland und dem Vereinigten Königreich. In beiden Ländern fanden um die Jahrtausendwende ähnliche arbeitsmarktpolitische Reformen statt. Die Rechtsschutzverfahren sind jedoch ganz unterschiedlich gestaltet und bieten ein besonders spannendes Forschungsfeld.
ENTFÄLLT! Die Wiederentdeckung des Sozialrechts als kollektives Recht durch verbandliche Klagebefugnisse: Ein deutsch-französischer Rechtsvergleich
ABSTRACT. Mit der industriellen Revolution entstanden auch neue Ansprüche bezüglich der Herstellung einer allgemeinen sozialen Gerechtigkeit. Im Laufe der Zeit konstituierte sich dementsprechend ein neues Rechtsgebiet: Das Sozialrecht, dessen Aufgabenfeld sich um die Schaffung egalitärer Lebensverhältnisse dreht. Die prozessualen Durchsetzungsmechanismen des Sozialrechts blieben jedoch zum Großteil an die des Individualverfahrensrecht angepasst. Diese prozedurale Zerlegung der sozialen Rechte wird heute durch die Einführung bestimmter kollektiven Verfahren hinterfragt.
Innerhalb der common-law-Staaten sind kollektive Verfahrensrechte gängig. Anders verhält es sich aber in Europa: Gesetzentwürfe, die die Einführung kollektiver Verfahrensrechte vorantreiben, sorgen in den Parlamenten für hitzige Diskussionen.
Deutschland stellt da keine Ausnahme dar. Der von Bündnis 90‘/Die Grünen vorgeschlagene Gesetzentwurf zur Erweiterung der altruistischen Verbandsklagerechte auf alle sozialrechtlichen Angelegenheiten wurde 2011 abgewiesen. Dagegen sorgte die Einführung eines ähnlichen Instruments, der l’action de groupe in Frankreich 2016, kaum für parlamentarischen Aufregung.
Die unterschiedliche Rezeption, der von den Verbänden getragenen kollektiven Klagerechte im Bereich des Sozialrechts in Deutschland und Frankreich, sollen anhand einer rechtsvergleichenden Studie analysiert werden.
Das Recht der Anarchie und die Anarchie des Rechts. Aspekte von Recht, Macht und Herrschaft
Seit einiger Zeit zeigen empirische Befunde eine Zurückdrängung oder ein Zurückweichen staatlich organisierter Entscheidungsstrukturen zugunsten nicht-staatlicher Akteure. Diese nicht-staatlichen Akteure sind nicht nur Individuen, sondern treten in der Qualität von juristischen Personen auf, hinter denen Privatpersonen nur als Eigner, nicht aber als Akteure eigenen Rechts stehen. Bei zivilrechtlichen, monetären Ansprüchen tritt die „freiwilliger Gerichtsbarkeit“ vermehrt anstelle der durch die staatlichen Zivilprozessordnungen bestimmten Strukturen.
Es existiert ein liberal inspirierter Diskurs, welcher Recht sich autopoietisch aus individuellen Interaktionen entwickeln und den Staat als Gefäss normgebender Strukturen in den Hintergrund treten lässt. Inwiefern sich in diesem Zusammenhang die Kopplung von Recht, Macht und Herrschaft ausgestaltet, bleibt eine weitgehend offene Frage.
Die erste Session des Tracks fokussiert grenzüberschreitende Aspekte und aussereuropäische Felder.
Chair:
Josef Estermann (VICESSE, Wien and University of Zurich, Switzerland)
Verhandlungsmacht - Eine qualitative Forschung zum Thema Macht und Herrschaft im internationalen Verhandlungsprozess
ABSTRACT. Verhandeln ist die gewaltfreie Art Interessensdifferenzen auszutragen. Handeln, feilschen, pokern, kämpfen sind unterschiedliche Begriffe um Ähnliches zu beschreiben: mindestens zwei Parteien begehren ein Gut und suchen durch wechselseitige Kommunikation eine Übereinkunft zu finden. Prozesse zunehmender Interdependenz zwischen Staaten in der globalisierten Welt lassen das Verhandeln über politische oder ökonomische Güter zu einer komplexen, zunehmend wichtigen Angelegenheit werden. Der Rolle des Rechts scheint dabei mangelnde Bedeutung zugemessen zu werden. Internationale Verhandlungsprozesse werden durch juristische Grundlagen begleitet, Verhandlungsmacht, und somit auch die Ergebnisse von Verhandlungen, sind jedoch bedingt durch die Ressourcen der Verhandelnden. Verhandlungsbeziehungen sind geprägt von Machtverhältnissen. Macht ist eine Eigenschaft sozialer Beziehungen, ein relationales Phänomen, welches nicht unmittelbar sichtbar ist und durch Vieldeutigkeit geprägt ist. Verhandlungsmacht ist die begriffliche Zusammenführung von Verhandeln und Macht und definiert die relative Stärke einer Verhandlungspartei. Unterschiedliche Faktoren in der Ausgangslage bestimmen die Macht- und Herrschaftsstrukturen in Verhandlungen. Diese Faktoren wurden im Rahmen einer Seminararbeit im Modul „Macht, Herrschaft, Recht – (er) messbare Begriffe“ bei Josef Estermann an der Universität Zürich untersucht. Insbesondere liegt der Fokus der Arbeit auf der Schweiz und deren „Ressourcenausstattung“ im internationalen Machtgefüge. Mittels der Machttheorie von Pierre Bourdieu werden das soziale Kapital, operationalisiert durch das Landesimage eines Verhandlungspartners und Netzwerken; das ökonomische Kapital; das kulturelle Kapital, wobei das Bildungssystem und inkorporierte Kulturkapital analysiert werden, und weitere Faktoren behandelt und deren Einfluss auf Verhandlungsmacht untersucht. Das empirische Datenmaterial setzt sich aus vier qualitativen Interviews mit Experten der Verhandlungsthematik zusammen. Zwei Interviewpartner sind ehemalige Diplomaten, ein Rechtsanwalt mit Weiterbildung in Verhandlungsführung und ein Jugenddelegierter der UNO. Die Gespräche sind wörtlich transkribiert und durch eine Inhaltsanalyse aufbereitet. Bei der empirischen Untersuchung wird wiederum die mangelnde Bedeutung von Recht in Verhandlungen deutlich. In Macht- und Staatstheorien ist der Zusammenhang von Recht, Macht und Herrschaft zentral. In der durchgeführten Untersuchung sind es viele Faktoren, nicht aber rechtliche Vorteile und Hindernisse, die Verhandlungsmacht verleihen. Dies ist eine diskussionswürdige Frage zum Thema „Abschaffung des Rechts?“.
Frankophones Westafrika im Transnationalen Feld - Machtverhältnisse in den Internationalen Beziehungen: Qualitative Studie zur Symbolischen Gewalt im Transnationalen Feld
ABSTRACT. Im Lichte der Globalisierung determinieren globale Ordnungs- und Herrschaftsverhältnisse die Position eines jeden Akteurs im internationalen System. Das Metafeld der internationalen Macht beschränkt sich dabei nicht auf nationalstaatliche Akteure, sondern ist transversal und transnational. Ausschlaggebend sind über historische Abläufe entstandene Normen und deren Institutionalisierung. Wie positionieren sich nun Regionen Afrikas in diesem internationalen System? De jure haben afrikanische Staaten ihre Unabhängigkeit erlangt, doch ist dies de facto wirklich der Fall? Die Studie erforscht die Position des frankophonen Westafrikas im Transnationalen Feld und betrachtet die Effekte Symbolischer Gewalt (nach Bourdieu) in dieser internationalen Positionierung. Um eine regionale Perspektive zu gewährleisten, welche möglichst wenig durch westliche Verständlichkeit beeinflusst ist, wird lokale westafrikanische Expertise anhand von Interviews operationalisiert. Ziel ist einerseits die Marginalisierung der Region zu untersuchen, aber auch alternative Modelle zu erfassen, welche die Qualität der internationalen Positionierung verbessern können. Es zeigt sich, dass lokale Experten die Anpassung an regionale Realitäten und erhöhte regionale Integration als zentrale Handlungsmassnahmen zur Stärkung der Region im Transnationalen Feld betrachten. Zugleich wird die Orientierung an neoliberalen Konzepten einer starken Kritik unterzogen und die Salienz historischer Handlungsabläufe in Bezug auf Macht- und Herrschaftsverhältnisse betont.
12:00
Jessika Eichler (MPI, Law & Anthropology Department, Germany)
Asymmetries in Mining-Related Decision-Making Processes: Indigenous Impressions from the Bolivian Lowlands
ABSTRACT. The Bolivian mining sector has increasingly demonstrated lacking commitments when it comes to adopting laws and regulations in cases where resource exploration takes place. Alternative participatory mechanisms accompanied by social conflicts have filled this gap which is further complicated by the diversity of players on the ground. This includes indigenous community organisations, indigenous cooperatives, private and state companies, civil society organisations as well as municipal authorities. While cooperatives increasingly gain legal recognition, they have become an important player that competes for consideration in decision-making processes that are oriented towards indigenous community organisations. Alternative decision-making mechanisms come into existence in the light of the absence of Bolivian laws and lacking observance of international human rights standards. Yet, such decision-making processes reveal strong asymmetries among the players and within communities involved which in turn materialises in patterns of domination in a complex web of players.
Kein Rechtsgebiet ist traditionell so stark formalisiert wie das Strafrecht. Der strafrechtliche Gesetzlichkeitsgrundsatz in seinen verschiedenen Ausprägungen (Rückwirkungsverbot, Analogieverbot, Bestimmtheitsgrundsatz) erhöht die formellen Anforderungen und Schranken an Gesetzgebung und Rechtsanwendung gegenüber anderen Bereichen rechtlicher Regelung ausdrücklich. Im Verfahrensrecht haben sich viele kontinentale Strafverfahrensordnungen, nicht zuletzt die deutsche StPO, grundsätzlich dem Ideal der materiellen Wahrheitsermittlung und der gleichen Rechtsanwendung verpflichtet, was insbesondere in dem Legalitätsgrundsatz zum Ausdruck kommt. Die Formalisierung gilt dabei gängiger Weise als Schutzmechanismus zur besseren Wahrung der Rechte des Beschuldigten. Phänomene der Informalisierung, die sich seit Jahrzehnten in der Rechtspraxis beobachten lassen und vielfach auch schon gesetzliche Regelung gefunden haben, werden im Strafrecht daher besonders kritisch gesehen (Opportunitätseinstellungen, Strafbefehlsverfahren, Deal). In dem Panel soll ein vertiefter Einblick geboten werden - zu den besonderen Legitimationsproblemen von Informalisierungen des Strafrechts; - zu übergreifenden gesellschaftlichen Deutungsansätzen, warum sich eine zunehmende Informalisierung (auch) des Strafrechts feststellen lässt; - zu konkreten Phänomenen der Informalisierung des Strafrechts und der Versuche ihrer rechtsförmlichen Einhegung.
Informalisierung des (Straf-)Rechts - Phänomene, Begründungsnarrative und Kritikansätze
ABSTRACT. Der Beitrag führt in das Panel ein, in dem zunächst der Begriff der Informalisierung des Rechts näher bestimmt wird. Überdies sollen rechtsgebietsübergreifend Phänomene der Informalisierung genannt werden. Sodann werden die Begründungs- und Kritikansätze erläutert, die in den verschiedenen Regelungskontexten für und gegen Tendenzen und Einzelphänomene der Informalisierung geltend gemacht werden. Diese grundlegenden Überlegungen werden sodann auf das Strafrecht übertragen. Phänomene der Informalisierung des Strafrechts werden benannt, die jeweiligen Diskussionen auf wiederkehrende Argumentationstopoi befragt. Es zeigt sich, dass die Informalisierung des Strafrechts regelmäßig kritischer betrachtet wird als die Informalisierung anderer Rechtsgebiete. Unter Rückgriff auf die zuvor entworfene Matrix von Begründungen und Kritikansätzen werden schließlich Überlegungen angestellt, wieso eine Informalisierung in diesem Bereich größeren Vorbehalten als in anderen Rechtsgebieten begegnet.
Zur Informalisierung strafrechtlicher Sozialkontrolle
ABSTRACT. Das Strafrecht und insbesondere das Strafverfahren gelten als Rechtsgebiete mit besonders strengen Formen. Zugleich sind sie in der jüngeren Vergangenheit – wie alle anderen gesellschaftlichen Bereiche auch – vom Streben nach Effizienz und Ökonomisierung geprägt. Der Beitrag untersucht, wie die Praxis der Strafverfolgungsbehörden dieses Spannungsverhältnis auflöst und wie sich die Bearbeitung von Strafverfahren in den vergangenen Jahrzehnten angesichts dessen gewandelt hat. Ebenso soll ein Blick darauf geworfen werden, dass andere Formen sozialer Kontrolle neben dem Strafrecht an Bedeutung gewinnen, die als effizienter gelten – unter anderem auch, weil sie einen informelleren Zugriff pflegen und dem Betroffenen einen weniger starken Status als Betroffener zugestehen.
ABSTRACT. Ausgehend von den Erkenntnissen der Soziologie, Kriminologie und Viktimologie wird die Notwendigkeit der Abschaffung des Strafrechtssystems in seiner bisher vorliegenden Form kurz dargelegt. Der Schwerpunkt des Beitrages liegt auf der Frage, inwieweit Restorative und Transformative Justice Alternativen für die konkrete Konfliktregelung sein können. Dazu werden die beiden theoretischen Ansätze zunächst in ihren Grundaussagen skizziert. Es wird verdeutlicht, dass entscheidend für die Analyse und weitere Diskussion das Verständnis von Restorative Justice im engen oder im weiten (Transformative Justice) Sinne ist. Im Anschluss werden einzelne unter dem Etikett „Restorative Justice“ firmierende Informalisierungen des Strafrechtssystems näher betrachtet und kritisch im Hinblick auf ihr Potential überprüft. Zentrale Fragen sind dabei:
• ob es sich um „Alternativen“ im Strafrechtssystem handelt, die wichtige Grundsätze des Strafrechtssystems berücksichtigen,
• ob es sich um „Alternativen“ im Strafrechtssystem handelt, die wichtige Grundsätze des Strafrechtssystems unterlaufen,
• ob es sich um „Alternativen“ handelt, die einen langfristigen Wechsel vom Strafrechtssystem zu einer Restorative Justice im weiten Sinne (Transformative Justice) ermöglichen.
Verfahrensbeendigung durch Verständigung als Ventil des mit Präventionswirkungen überfrachteten Prozesses?
ABSTRACT. Im Kontext der Phänomene der Informalisierung im Strafverfahren ist derzeit die Verständigung Gegenstand besonderen Interesses. Dieses seit Einführung des „Gesetzes zur Regelung der Verständigung im Strafverfahren“ vom 29. Juli 2009 kontrovers diskutierte Institut wirft seit dem Grundsatzurteil des Bundesverfassungsgerichts vom 19. März 2013, in dem das Verständigungsgesetz mit dem Grundgesetz zwar für vereinbar erklärt, aber zugleich ein erhebliches Vollzugsdefizit in der strafgerichtlichen Praxis konstatiert wurde, grundlegende Fragen auf. Das hier vorgeschlagene Thema gibt auf Grundlage rechtstatsächlicher und rechtsdogmatischer Erkenntnisse einen ersten Überblick über die Wirkungsweise des Verständigungsgesetzes nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 19. März 2013 und thematisiert insbesondere Umgehungsstrategien, die jenseits der grundsätzlich zulässigen Verständigung nach § 257c StPO stattfinden und als unzulässiger „Deal“ (oder „informelle“ Absprache) neue Formen informalisierter Verfahrensbeendigung darstellen, die man als Ventil des mit Präventionswirkungen überfrachteten Prozesses betrachten könnte. Die Ergebnisse werden in den größeren Kontext des Ideals der materiellen Wahrheitsermittlung sowie der über den Legalitätsgrundsatz zu garantierenden Formalisierung gestellt.
Die Session umfasst Beiträge, die aus soziologischen und rechtssoziologischen Perspektiven analysieren, ob und inwieweit sich Geltungsanspruch und Rechtswirklichkeit universaler Normen im Kontext unterschiedlicher Politikfelder (Klima-, Asyl- und Migrationspolitik) in der Praxis durchsetzen.
Chair:
Fatima Kastner (Institut für Weltgesellschaft, Universität Bielefeld, Germany)
Felix Ekardt (Forschungsstelle Nachhaltigkeit und Klimapolitik, Germany)
Menschenrechte intertemporal und global-grenzüberschreitend?
ABSTRACT. Der Vortrag möchte aufzeigen (basierend auf der für die 3. Aufl. = 2. Aufl. der Neuausgabe 2016 noch einmal weiterentwickelten Argumentation in meiner Habilschrift "Theorie der Nachhaltigkeit"), dass der menschenrechtliche Schutz der elementaren Freiheitsvoraussetzungen Leben, Gesundheit und Existenzminimum in der Tat - wie im Track-Titel implizit vorausgesetzt - eine raum- und zeitüberschreitende Geltung hat. Dies wird sodann an Nachhaltigkeitsbeispielen wie insbesondere dem Klimawandel erörtert, einschließlich der dabei auftretenden komplexen Abwägungs- und Gewaltenteilungsfragen.
Im Warteraum der Menschenrechte? Die Situation von Asylbewerber*innen aus sicheren Herkunftsstaaten in Deutschland
ABSTRACT. „Alle Menschen sind frei und gleich an Rechten geboren.“ So formuliert es die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte. Knapp 70 Jahre nach ihrer Annahme durch die UN umspannt ein weit verzweigtes Netz an Menschenrechtsnormen den Globus. Dabei ist der Anspruch universeller Geltung dem Großteil dieser Normen gemein. Dieser Beitrag illustriert das Auseinanderfallen zwischen Anspruch und (Rechts-)Wirklichkeit am Beispiel der Situation von Asylbewerber*innen aus sicheren Herkunftsstaaten in Deutschland. Als Asylbewerber*innen „zweiter Klasse“ gelten für sie im Asylverfahren vielfach andere Standards: So sind z. B. die Rechtsbehelfsfristen verkürzt. Bis zur Entscheidung über den Asylantrag besteht eine Wohnpflicht in einer Aufnahmeeinrichtung. Neben der schwierigen Wohnsituation in diesen Einrichtungen bringt diese Verpflichtung den Nachteil mit sich, dass dort Grundleistungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz vor allem als Sachleistungen erbracht werden. Im Oktober 2015 wurde zudem ein Beschäftigungsverbot für die gesamte Dauer des Asylverfahrens eingeführt. Allein mit dem Herkunftsland begründet man eine verringerte Wahrscheinlichkeit eines erfolgreichen Asylantrags, und mit diesem Argument rechtfertigt man wiederum eine Abschwächung zentraler Menschenrechtsgewährleistungen aufgrund der „ungesicherten Aufenthaltsdauer“ in Deutschland. Auf diese Weise wird ein Rechts-Raum „in Erwartung der Menschenrechte“ geschaffen. Eine Erwartung, die sich leider vielfach nicht erfüllt.
Organisiert von Tobias Singelnstein and Simon Egbert
In zahlreichen Polizeibehörden im deutschsprachigen Raum werden derzeit softwaregestützte Prognosetechnologien erprobt oder eingeführt, die vorhersagebasierte Polizeiarbeit (Predictive Policing) leisten sollen. Im Zuge dessen werden auf Basis polizeilicher Kriminalitätsdaten Vorhersagen über die temporäre Wahrscheinlichkeit zukünftiger Straftaten (zumeist Einbrüche) in bestimmten (Risiko-)Räumen generiert und zur Basis von Streifenallokation und gezielten Präventionsmaßnahmen gemacht. Die rechtliche bzw. rechtssoziologische Diskussion zu dieser aktuellen und mittlerweile verbreiteten Praxis beginnt indes erst langsam sich zu entwickeln. Die zu diskutierenden Punkte sind dabei vielfältig: Wie verändert sich polizeiliches Handeln durch die Einführung von digitalen Analyseverfahren und welche rechtssoziologischen Implikationen entspringen daraus? Was bedeutet beispielsweise die Implementierung von Algorithmen in der Strafverfolgung bzw. Kriminalitätsprävention für die Fragen der rechtlichen Kontrolle und Accountability? Verändert sich polizeiliches Handeln in einer Weise, die eine Reformulierung von Kernkategorien des Strafprozessrechts oder Polizeirechts erforderlich macht, z. B. Tatverdacht und Eingriffsbefugnis?
Predictive Policing und ‚kognitive Gefahrengebiete‘?
ABSTRACT. Empirische Daten zu Praktiken des Predictive Policing im deutschsprachigen Raum zeigen, dass PolizistInnen in den von polizeilicher Prognosesoftware ausgewiesenen Risikogebieten mit einem erhöhten Gefahrensinn agieren, da sie davon ausgehen, dass dort die Wahrscheinlichkeit von Wohnungseinbruchdiebstählen statistisch gesehen erhöht ist. Es zeigt sich ferner, dass altbekannte Muster des ‚racial profiling‘ nicht nur aktualisiert, sondern bisweilen verstärkt werden, da das HaupttäterInnenklientel in osteuropäischen EinbrecherInnen gesehen wird und nach diesem auf Basis visueller Cues in den Risikogebieten Ausschau gehalten wird. Meine These ist, dass in diesem Zusammenhang treffend von ‚kognitiven Gefahrengebieten‘ gesprochen werden kann, die eine offensivere Verdachtschöpfungs- und Kontrolltätigkeit seitens der PolizistInnen nahelegen. Sie agieren in diesen Gebieten insgesamt sensibler, kontrollieren genauer, was bisweilen eine Herabsetzung der Verdachtsschwelle impliziert. Dabei ist nicht ausgeschlossen, dass die soziotechnische Definition von Risikoräumen alsbald zum rechtlichen Thema wird, indem beispielsweise eine Redefinition vom Kriterium des Anfangsverdachts in prognostizierten Risikoräumen zur Debatte steht.
Algorithmen vs. kriminalistische Erfahrung – Wissensverarbeitung in der personenbezogenen Prävention
ABSTRACT. Während im deutschen Polizei- und Ordnungsrecht die technikbezogene Prävention schon lange unter dem neuen Paradigma des Risikorechts verhandelt wird, verharrt die personenbezogene Prävention noch immer im Modus des klassischen Gefahrenabwehrrechts. Mit dem vollzogenen Paradigmenwechsel sind in der technikbezogenen Prävention zunehmend auch Fragen der Voraussetzungen und Grenzen der Wissensproduktion in das Blickfeld der Rechtswissenschaft gerückt. Bei der personenbezogenen Prävention finden solche Überlegungen bislang hingegen nicht statt. Sie ist nach wie vor geprägt von Entscheidungen, die auf dem impliziten Wissen des entscheidenden Beamten basieren, das wiederum in der Regel durch ein Normalfalldenken geprägt wird. Hieraus ergeben sich erhebliche Probleme in Hinblick auf Rechtfertigung und Problemlösungskapazitäten der auf diesem Denken beruhenden Eingriffe. Der Vortrag thematisiert, wie es zu dieser Zweiteilung kommen konnte und inwieweit gerade das „predictive policing“ zu einem veränderten Umgang mit Wissen innerhalb der personenbezogenen Prävention führen könnte. Denn mit der Verlagerung der Entscheidungsfindung auf computerbasierte Algorithmen rücken die Grundlagen der Wissenserzeugung auch dort mehr und mehr in das Blickfeld von Praxis und Wissenschaft.
ABSTRACT. Zumal in Zeiten terroristischer Gefährdungen erscheint Präventionismus als das Gebot der Stunde. Das rückt das Konzept der abstrakten Gefährdungslagen in den Mittelpunkt, bei denen niemand die Wahrscheinlichkeit einer tatsächlichen Gefährdung prognostizieren kann. Mithilfe einer big-data-gestützten Verfahrensweise versucht die Polizei beim predictive policing allerdings gerade dies. Das gibt den Imaginationen des zukünftig Möglichen die Weihe eines Algorithmus, führt aber weiterhin zu einer stereotypen Etikettierung und Sekuritisierung des Raumes.
Beim predictive policing verwirklicht sich die abstrakte Gefährdungslage in einer lokal bestimmbaren Variante. Der Gefährder – ein anderes Beispiel für den Mechanismus – ist hingegen bereits als Person im polizeilichen Visier. Während der Gefährder eine Schöpfung der deutschen Polizei ist, arbeitet man in Chicago mit der Strategic Subjects List (SSL) und den Methoden des predictive profiling –eine personalisierte Strategie zur Prognose künftiger Gewalttaten.
Die vorherrschende pre-crime-Orientierung, die solchen Verfahrensweisen zugrunde liegt, nutzt das Konzept der abstrakten Gefährdungslagen als eine Form der konkreten Politik. Diese verändert den traditionellen Rechtsstaat durch die Imaginationen erhöhter Sicherheit bis zur Unkenntlichkeit – oder auch, geht man von einem neuen Autoritarismus westlicher Verfassungsstaaten aus – bis zur Kenntlichkeit.
Ausbau von Rechten – Strafverteidigung gegen algorithmisch determinierte Strafjustiz
ABSTRACT. Algorithmen basierte Einschätzungen determinieren zunehmend Entscheidungen in der Strafjustiz. Ein Beispiel dafür ist predictive policing, also eine statistische Analyse von Falldaten zur Berechnung der Wahrscheinlichkeit zukünftiger Straftaten, um Polizeikräfte gezielt einzusetzen. Wird eine durch dieses automatisierte Profiling als verdächtig wahrgenommene Person tatsächlich als mutmasslicher Straftäter identifiziert, scheint das Programm bestätigt: Die maschinengenerierte Hypothese wird zum Tatverdacht, gegen den sich der einzelne im anschliessenden Strafverfahren verteidigen kann. Fraglich ist, ob die Separation zwischen der Generierung eines Erstverdachts und anschliessender Strafverfolgung noch dem Gesamtanspruch auf ein faires Verfahren gerecht wird. Müsste es Angeklagten nicht vielmehr möglich sein, nicht nur den Tatverdacht, sondern auch den durch predictive policing generierten Erstverdacht zu bestreiten, indem beispielsweise das rechtmässige Funktionieren der Algorithmen in Frage gestellt wird, wenn die Vermutung nahe liegt, dass eine Programmierung unzulässig diskriminiert? Heute herrscht (noch) die Ansicht, dass die klassischen Verteidigungsrechte die Rechtspositionen im Strafverfahren ausreichend wahren. Anliegen des Vortrages "Ausbau von Rechten – Strafverteidigung gegen algorithmisch determinierte Strafjustiz" ist es, angesichts des Einzuges der Informationstechnologie in die Strafrechtspflege die Notwendigkeit eines Ausbaus strafprozessualer Verteidigungsrechte aufzuzeigen, damit im digitalen Zeitalter das Recht auf ein «faires Verfahren» erhalten bleibt.
Pete Burgess (University of Greenwich, UK) Armin Höland (Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, Germany)
Laien im Recht
ABSTRACT. Laien wirken an zahlreichen rechtlichen Verfahren in Europa und anderswo mit. Die populärste Erscheinungsform ist die Mitwirkung in „juries“ bzw. als Schöffen in strafgerichtlichen Verfahren. Weniger beachtet, aber nicht weniger bedeutend ist die Mitwirkung von Laien als Richter in anderen Gerichtsbarkeiten und in Widerspruchsausschüssen der deutschen Sozialversicherung. Eine im Jahr 2017 abgeschlossene vergleichende Untersuchung von „Lay judges in labour courts“ brachte interessante Selbstwahrnehmungen von rund 150 interviewten Laienrichtern an Arbeitsgerichten in Deutschland, Frankreich und Großbritannien zu Tage. Für eine rechtssoziologisch-theoretische Analyse werfen die Forschungsdaten vor allem Fragen nach Motiven und Auswahl der an Rechtsverfahren mitwirkenden Laien, nach ihrem wesentlichen Beitrag zum Verfahren und nach der Wirkung ihrer Mit-Wirkung auf. Hinzu kommt die Frage, wie zwei typische Spannungsverhältnisse in der Verfahrenspraxis bewältigt werden, das zwischen Laienwissen und Expertenwissen und das zwischen Interesse und Unparteilichkeit. Für eine theoretische Vertiefung der Forschungsdaten bieten sich unter anderem die Analyseangebote von Pierre Bourdieu zum juridischen Handlungsfeld, von Bettina Hollstein zur Soziologie des Ehrenamtes und wissenssoziologische Diskussionen zum Verhältnis von Laienwissen, verstanden auch als ‚implizites Wissen’, und Expertenwissen an.
ABSTRACT. Das Versprechen des Rechts muss sich in seiner Mobilisierung bewähren. Auch der Sozialstaat verweist die Bürger*innen in seinen normativen Versprechen häufig auf das Recht, denn sie sind in verrechtlichter Form institutionalisiert. So verspricht das Arbeitsrecht den Arbeitnehmer*innen, ihnen Mittel an die Hand zu geben, um sich gegen unternehmerische Willkür, aber auch die Bestimmung ihres Lebens durch Marktdynamiken zur Wehr setzen zu können. Die Frage, was Arbeitnehmer*innen und Arbeitgeber*innen vor und von den Arbeitsgerichten erwarten können, ist also von zentraler Bedeutung für die Frage, ob der verrechtlichte Sozialstaat seine Versprechen hält. Denn vor Gericht beweist sich, was das Rechtssystem leisten kann.
Ausgehend von einer Darstellung des Stands der rechtssoziologischen Debatte über die arbeits-gerichtliche Rechtsverwirklichung, stellt der Vortrag die Konzeption für ein empirisches Projekt vor: Was lernen diejenigen, die die Arbeitsgerichte in Anspruch nehmen, über den (Sozial-)Staat? Was erwarten sie – und was erwartet sie? Wie verstehen Richter*innen, Anwält*innen und andere Rechtsberater*innen ihre Aufgabe, was wissen diese über die Wirkungen ihres Verhaltens?
15:00
Petra Sussner (Universität Wien / Humboldt Universität Berlin (ab 1.4.2018), Germany)
Vulnerabilität als Ressource. Aufnahmebedingungen für LGBTIQ Asylwerber*innen
ABSTRACT. Schaffen es LGBTIQ Asylwerber*innen in Europa anzukommen, sind sie erst einmal in Sicherheit? Eine Vorstellung, die schon an den Aufnahmebedingungen scheitern kann. Fluchtauslösende Szenarien setzen sich in Quartieren fort; Gewaltschutz und adäquate medizinische Versorgung sind schwer zugänglich.
Die AufnahmeRL verhält sich zwiespältig zu dieser Verletzungsoffenheit. Sie nennt LGBTIQ Asylwerber*innen nicht explizit als schutzbedürftige Personen, lässt eine Subsumtion spezifischer Bedürfnisse unter die einschlägigen Bestimmungen allerdings zu. EASO handhabt LGBTIQ Asylwerber*innen relativ selbstverständlich als schutzbedürftig, der Unionsgesetzgeber hat (auch) in der Neufassung der AufnahmeRL davon abgesehen, diese dezidiert in den Anwendungsbereich zu inkludieren. Für Betroffene potenziert sich darüber Verletzungsoffenheit. Die Praxis der Mitgliedstaaten variiert und die Wahrnehmung fundamentaler Rechte wird zur Glückssache.
Der vorgeschlagene Beitrag greift die Problematik mit einem grundrechtsbasierten Zugang auf. Er arbeitet mit Martha Fineman und dem Anspruch, eine strukturell-gesellschaftliche Perspektive auf Vulnerabilität im Sinn konkreter Denkalternativen nutzbar zu machen. Dazu gilt es einerseits, die Durchlässigkeit des Flucht – Schutz Kontinuums sichtbar zu machen. Andererseits ist die Rechtsposition von LGBTIQ Antragsteller*innen in der Aufnahme herauszuarbeiten. Wie lässt rechtsförmige Anspruchsverfolgung denken und welche Rolle spielt dabei die Dimension der Verletzungsoffenheit?
15:15
Peter Voll (UAS Western Switzerland, Switzerland) Julia Emprechtinger (University of Applied Sciences Western Switzerland, Switzerland)
Abschaffung des Rechts – oder Monopolverlust der Rechtsprofession? Überlegungen am Beispiel des Kindes- und Erwachsenenschutzes in der Schweiz
ABSTRACT. Die Revision der Art. 360 ff. des schweizerischen ZGB verfolgte u.a. die Ziele, die Verfahrensrechte der von Kindes- und Erwachsenenschutzmassnahmen betroffenen Personen auszubauen und die Professionalität der Behördenarbeit zu verbessern. Ein wichtiges Element im Blick auf das zweite Ziel war die Schaffung interdisziplinärer Behörden oder Gerichte, d.h. von Entscheidgremien, in denen neben JuristInnen auch VertreterInnen weiterer Professionen, faktisch v.a. der Sozialen Arbeit und der Psychologie, gleichberechtigt Einsitz haben sollten.
Die neuen, unter dem Kürzel KESB bekannt gewordenen Behörden stellen deshalb ein Beispiel für die Mehrdeutigkeit und Ambivalenz von Entwicklungen des Rechts und der Rechtsorganisation dar: die Verrechtlichung, die in der verstärkten Formalisierung des Verfahrens und der Übertragung des Entscheids an professionelle Gremien liegt, wird durch die Aufweichung des Juristenmonopols und eine Erweiterung legitimer Deutungs- und Zugriffsmodi konterkariert. Professionssoziologisch lässt sich daran die Frage anschliessen, ob und in welchem Ausmass die juristische Profession, welche die Ausdifferenzierung des Rechts historisch getragen hat, weiterhin die Deutungs- und Problemlösungskompetenz im zunehmend intern differenzierten Rechtssystem beanspruchen kann.
Auf der Basis von Interviews und ethnographischen Beobachtungen zeigt der hier vorgeschlagene Beitrag, wie sich Vertreter verschiedener Professionen in den KESB in Bezug auf Leitunterscheidungen des Feldes positionieren und dabei rechtliche und nicht-rechtliche Deutungen von Sachverhalten amalgamieren.
Die ambivalente Rolle des Rechts bei Mobilisierungen sozialer Bewegungen in Zeiten der Austeritätspolitik: der Fall Portugal
ABSTRACT. Die 2011 begonnene weltweite Demonstrationswelle hatte eine besondere Resonanz in Europa. Die Proteste in Irland, Spanien, Portugal, Griechenland und in jüngerer Zeit in Frankreich waren ein Meilenstein für die Debatten über die demokratischen Merkmale der Europäischen Union und die Rolle der wirtschaftlichen Institutionen bei der Gestaltung politischer Entscheidungen. Die Kritik an Sparmaßnahmen und Kürzungen sozialer Rechte steht heute im Mittelpunkt der Ansprüche von sozialen Bewegungen nicht nur im globalen Süden, sondern auch in Europa, insbesondere nach den sozialen desaströsen Auswirkungen der Politik „one fits all“, die von internationalen Institutionen und der sogenannten „Troika“ vorgeschlagen wurde. Akademische und aktivistische Debatten versuchen die vielfältigen Bedeutungen dieser Kämpfe und auch die Strategien der Bewegungen in diesem Kontext zu erfassen. Sowohl im juristischen als auch im soziologischen Feld wurde bereits eine bedeutende Literatur zu diesem Thema erstellt. Diese erklärt jedoch nicht die Rolle der Aktivist*innen in ihrer Zusammenarbeit mit sozialen Bewegungen im Rahmen von Auseinandersetzungen gegen Austeritätspolitik. In diesem Kontext konzentriert sich dieser Beitrag auf einen spezifischen Fall von contestation und legalen Strategien sozialer Akteure gegen Sparmaßnahmen, die noch mehr empirische Forschung aus der Perspektive der sozialen Bewegungsstudien benötigen, nämlich die rechtliche Konfrontation während des Höhepunkts der portugiesischen Krise 2011. Ziel meiner Präsentation ist es, die komplexen Beziehungen zwischen sozialen Bewegungen, Anwälten und Gerichten durch drei zentrale konzeptionelle Fragen zu diskutieren: erstens den ambivalenten Charakter der Anwendung des Rechts durch soziale Bewegungen; zweitens, die Notwendigkeit der Umgestaltung von Zeit-Raum-Skalen beim Studium sozialer Bewegungen; und schließlich das Verständnis der Idee von Erfolg oder Scheitern von Mobilisierungen unter Verwendung legaler Strategien.
14:45
Samira Akbarian (Goethe-Universität Frankfurt am Main, Germany)
Ziviler Ungehorsam als Mobilisierung des Rechts gegen das Recht
ABSTRACT. In der postdemokratischen Gesellschaft bietet das Spiel mit dem Recht in Form des zivilen Ungehorsams eine Möglichkeit der Durchsetzung politischer Anliegen. Der zivile Ungehorsam kann dabei als „Eintrittskarte“ in einen potentiell illegalen Raum, der den Weg in eine Öffentlichkeit ebnet, interpretiert werden. An den Grenzen der Legalität, findet die politische Aktion Eingang in den Gerichtssaal, der dadurch als politische Bühne genutzt werden kann. Damit wird der Aktion ein politischer Raum eröffnet, den es in anderen institutionalisierten Räumen nicht finden kann. Ziviler Ungehorsam geschieht dort, wo Bürger*innen auf den Kanälen, die der Rechtsstaat zur Verfügung stellt, nicht gehört und nicht gesehen werden. Dieses Versagen der politischen Machthaber*innen muss dann im Zusammenspiel zwischen den Gerichten und den Ungehorsamen kompensiert werden. Am Beispiel der sogenannten Laienverteidigung zeigt sich, wie das Recht dabei mit den Mitteln des Rechts bloßgestellt werden kann. Hierbei handelt es sich um eine bisher kaum untersuchte Form eines strategischen Aktivismus, in der politisch Aktive ohne juristische Ausbildung vor den Gerichten zur Verteidigung anderer Aktivist*innen auftreten, um auch das Rechtssystem gezielt zu irritieren und die Aktion im Gerichtssaal fortzusetzen. Das Recht wird dabei für politische Zwecke instrumentalisiert; hilft es so mit, sich selbst abzuschaffen? An der Schnittstelle zwischen Politik und Recht und im Zusammenspiel zwischen politischer Theorie und juristischer Praxis soll untersucht werden, wie das Recht gegen das Recht mobilisiert werden kann.
15:00
Lisa Hahn (Law & Society Institute, Humboldt-Universität zu Berlin, Germany)
ABSTRACT. Beobachten wir die Abschaffung des Rechts? Diese im Call for Papers aufgeworfene Frage könnte mit Blick auf die zunehmende Nutzung strategischer Prozessführung in der Rechtspraxis sowie das verstärkte wissenschaftliche Interesse an dieser besonderen Form der Rechtsmobilisierung verneint werden. Im Gegenteil: Gerichte strategisch als Impulsgeber sozialen Wandels zu nutzen setzt einen Glauben an das emanzipatorische Potenzial von Recht voraus. Unter welchen Bedingungen sich dieser verwirklichen kann, untersucht für die Nutzung von Recht allgemein die rechtssoziologische Mobilisierungsforschung. Doch vermögen die etablierten Theorien auch diesen neuen Weg der Rechtsmobilisierung zu erklären, bei dem gezielt Gerichtsverfahren angestrebt und geführt werden, um eine über den Einzelfall hinausgehende, gesellschaftspolitische Wirkung zu erzielen?
Wie diese Frage für ein Rechtsgebiet mit ungünstigen Gelegenheitsstrukturen zu beantworten sein könnte, zeigt eine erste Auswertung empirischer Daten zur Mobilisierung von Asylrecht, die im Jahr 2017 in rechtsethnographischer Forschung erhoben worden sind. Das Material legt nahe, dass die strategische Nutzung von Recht als Instrument sozialen Wandels nicht entscheidend von günstigen Gelegenheits-, sondern Akteursstrukturen und -netzwerken abhängt. Deren komplexes, arbeitsteiliges Zusammenwirken kann dazu beitragen, die im Asylrecht angelegte Fragmentierung verschiedener Rechtspositionen infrage zu stellen und dabei gezielt das zu nutzen, was rechtssoziologische Forschung als den strukturellen Erfolgsvorteil von Vielprozessierern nachgewiesen hat. Ferner zeichnet das Material ein differenziertes Bild weiterer Mobilisierungsformen wie Musterklagen, deren Abgrenzung von strategischer Prozessführung dazu beitragen kann, die Bedingungen und Wirkmechanismen dieser bisher wenig erforschten Rechtspraxis näher zu beleuchten.
15:15
Vinzent Vogt (Forschungsstelle Migrationsrecht Uni Halle & refugee law clinics abroad e.V., Germany) Robert Nestler (refugee law clinics abroad e.V., Germany)
ENTFÄLLT! Rechtsmobilisierung ohne Rechtsweg? - Strategische Prozessführung zur Familieneinheit nach der Dublin-III-Verordnung
ABSTRACT. Im Mai 2017 verständigten sich der deutsche Innen- und der griechische Migrationsminister auf eine – im Detail unklare – „Begrenzung“ der Familienzusammenführungen von Griechenland nach Deutschland, auf die ein Anspruch nach der Dublin-III-Verordnung besteht.
Im Nachgang haben deutsche wie griechische NGO`s versucht, diese administrative Verzögerungs- und Vereitelungstaktik anzugreifen. Neben politischem Vorgehen wurde strategische Prozessführung als Mittel genutzt. Ein Mittel, das in der migrationsrechtlichen Expertendiskussion schon häufig thematisiert, bisher aber selten aktiv eingesetzt worden war. Die Vortragenden sind als Vorstandsmitglieder von refugee law clinics abroad e.V. praktisch und wissenschaftlich intensiv mit diesem Thema befasst. Aus dieser praktischen Erfahrung wollen sie einige Faktoren für ein erfolgreiches Vorgehen gegen strukturell (grund-)rechtswidrige staatliche Praktiken identifizieren. Für die Konstellation der Familienzusammenführung nach der Dublin-III-Verordnung sind dabei zwei Aspekte besonders zu berücksichtigen: Erstens ist die Überstellung in den zuständigen Mitgliedsstaat ein kooperativer Akt zwischen zwei Mitgliedsstaaten der Europäischen Union. Dies birgt die Schwierigkeit festzustellen, welcher Staat für eine ausbleibende oder verzögerte Überstellung zur Herstellung der Familieneinheit verantwortlich ist. Ein Vorgehen dagegen ist daher zwangsweise transnational. Zweitens sieht die Verordnung für diese spezifische Konstellation keinen expliziten Rechtsbehelf vor.
Die Auswirkung dieser beiden Faktoren auf die Rechtsmobilisierung sind von besonderem Interesse.
Das Recht der Anarchie und die Anarchie des Rechts. Aspekte von Recht, Macht und Herrschaft
Seit einiger Zeit zeigen empirische Befunde eine Zurückdrängung oder ein Zurückweichen staatlich organisierter Entscheidungsstrukturen zugunsten nicht-staatlicher Akteure. Diese nicht-staatlichen Akteure sind nicht nur Individuen, sondern treten in der Qualität von juristischen Personen auf, hinter denen Privatpersonen nur als Eigner, nicht aber als Akteure eigenen Rechts stehen. Bei zivilrechtlichen, monetären Ansprüchen tritt die „freiwilliger Gerichtsbarkeit“ vermehrt anstelle der durch die staatlichen Zivilprozessordnungen bestimmten Strukturen.
Es existiert ein liberal inspirierter Diskurs, welcher Recht sich autopoietisch aus individuellen Interaktionen entwickeln und den Staat als Gefäss normgebender Strukturen in den Hintergrund treten lässt. Inwiefern sich in diesem Zusammenhang die Kopplung von Recht, Macht und Herrschaft ausgestaltet, bleibt eine weitgehend offene Frage.
Die zweite Session des Tracks fokussiert innerstaatliche Auseinandersetzungen.
Chair:
Reinhard Kreissl (Vienna Center for Societal Security (VICESSE), Wien, Austria)
Josef Estermann (VICESSE, Wien and University of Zurich, Switzerland)
Anarchie des Rechts?
ABSTRACT. Zeitdiagnostisch scheint sich ein Rückzug der Staaten aus der Rechtsetzung und -anwendung zeigen zu lassen, resultierend in Rückgängen der Prozesshäufigkeiten und komplementärer Zunahme der freiwilligen Gerichtsbarkeit oder der Mediation. Handelt es sich um eine Folge der von gesellschaftlichen Kräften verlangten Beschränkung des Staates auf seine durch den Ordoliberalismus zugeschriebene Aufgabe als Nachtwächter oder eine Folge der Globalisierung der kapitalistischen Produktionsweise oder als Ankündigung einer späten Erfüllung der Gesellschaftsvorstellung von Anarchist*innen?
Die Macht der Gewerkschaften - Arbeitskampf zwischen Recht und Gewalt
ABSTRACT. Vor dem Hintergrund des gesellschaftlichen Bedeutungsverlusts der Gewerkschaften behandelt der Beitrag rechtstheoretische und verfassungsrechtliche Implikationen ihres Auftretens als außerrechtliche Akteure.
Das Arbeitsrecht erscheint heute als komplexes Rechtsgebiet, das mit einer Vielfalt von Normen und kaum überschaubarer Kasuistik einen zentralen lebensweltlichen Bereich regelt, der von einem prinzipiellen Interessenkonflikt bestimmt ist. Insbesondere im Arbeitskampfrecht Deutschlands scheint der Versuch der rechtlichen Bewältigung dieses Konflikts in seinem dramatischsten Auftritt nicht gelungen. Der Arbeitskampf ist als Rechtsbruch geboren und bis heute will weder Gesetzgeber noch Rechtsprechung eine Definition dieses Phänomens geben oder es durch ein formales Verfahren einhegen.
Bereits der Grundstein des kollektiven Arbeitsrechts wurde nicht durch den Gesetzgeber, sondern durch die gegenseitige Anerkennung der Kontrahenten im Stinnes-Legien-Abkommen von 1918 gelegt. Seitdem wurde immer wieder festgestellt, dass die Koalitionen Gewalt ausüben. Sei es öffentliche Gewalt per Delegation oder eine nicht näher bestimmte soziale Gewalt durch die kollektive Wirkung der Tarifverträge. Im Sinne des Souveränitätsbegriffs scheint es insofern passend, dass die Kreation dieser Gewalt im Arbeitskampf, welcher erst die soziale Macht der Koalitionen begründet, bis heute keinem formal-juristischen Verfahren folgt. Das BAG legte in seinem Grundsatzbeschluss vom 28. Januar 1955 die Legitimität – im impliziten Gegensatz zur Legalität – als Maßstab von Arbeitskampfmaßnahmen zugrunde. Ihre Rechtmäßigkeit wird erst post factum bestimmt.
Walter Benjamin konstatierte zum Streikrecht, dass die organisierte Arbeiterschaft die einzige Kraft außerhalb des modernen Staates sei, der noch ein Recht auf Gewalt zustehe. Die juristischen Debatten waren gerade auf Gewerkschaftsseite aber darauf bedacht, die Gewerkschaften nicht als gewaltausübende Instanz in Konkurrenz zur Staatlichkeit, sondern als Sachwalter der Gerechtigkeit im sozialen Rechtsstaat zu institutionalisieren. Die daraus folgende korporatistische, quasistaatliche Bürokratisierung ermöglichte laut Franz Neumann erst die Ausschaltung der Gewerkschaften als Machtfaktor durch die Nationalsozialisten. Vor diesem Hintergrund sind Koalitionsfreiheit und Tarifautonomie nicht als individuelles Freiheitsrecht oder Delegationsnorm, sondern als institutionelle Garantie freier und kampffähiger Gewerkschaften zu verstehen.
Von der Unfähigkeit zur Unrechtmäßigkeit des Staates – „Souveräne“ Bewegungen in Europa
ABSTRACT. Traditionellerweise werden verschiedene extremistische Strömungen in Rechts- und Linksextremismus, nationalistisch-separatistisch und religiös motivierte Formen unterteilt. In den letzten Jahren lässt sich jedoch die Entstehung eines neuen Typs von Extremismus beobachten, der quer zu diesen Kategorien liegt und mit diesen traditionellen Unterscheidungen nicht angemessen erfasst werden kann. Zusammenstellungen von völlig unterschiedlichen, scheinbar widersprüchlichen Versatzstücken verbinden sich bei diesem neuen Extremismus in manchmal bizarren verschwörungstheoretisch anmutenden Kombinationen aus traditioneller linker Gesellschaftskritik, rechtsradikalem Antisemitismus, verbunden mit ökologischen Motiven und esoterischer Naturmystik und diversen Ideen aus dem Repertoire des New Age Denkens. All diese sehr heterogenen Gruppen haben zwei Merkmale gemeinsam: alle operieren mit irgendeinem Endzeitszenario, einer Vorstellung des bevorstehenden Untergangs der gegenwärtigen gesellschaftlichen und staatlichen Ordnung und alle verweigern sich den traditionellen Kanälen politischer Teilhabe im institutionellen Rahmen demokratisch-parlamentarischer Politik. Sie verweisen sowohl auf die nachlassende soziokulturelle Bindungskraft politischer Ideologien und Parteien, als auch auf die Folgen zunehmender Verunsicherung der individualisierten Einzelnen in modernen Gesellschaften. Der Beitrag diskutiert ihre Erscheinungsform in unterschiedlichen europäischen Staaten sowie staatliche Reaktionen auf sie.
Trägt das Recht die Möglichkeit seiner Selbstabschaffung in sich und/oder unter welchen gesellschaftlichen Bedingungen lassen sich Phänomene der Selbstabschaffung beobachten? Unterschiedliche Antworten auf die Frage, ob und wie sich Recht selbst abschaffen kann, sind sowohl im Hinblick auf die Fächerperspektive als auch im Hinblick auf die verwendeten Rechtsbegriffe zu erwarten.
ABSTRACT. Technische und gesellschaftliche Entwicklungen fördern die Idee einer erkennbaren Wahrheit. Eine solche könnte aus der Empirie geschöpft werden. Mit ihr könnte dann eventuell ENDLICH das auf das wirklich Gute gerichtete Recht geschaffen werden. Denn der Mangel des nach-naturrechtlichen, „demokratischen“, von jeweiligen repräsentierten Mehrheiten geschaffenen Rechts lag in der Abwesenheit eines politischen Ideals von absoluter Gültigkeit, in seiner Relativität. Letztere macht, dass eine Zwangsordnung nur so beschaffen sein darf, dass Minderheiten jederzeit selbst zur Mehrheit werden können, dass Abweichung möglich und Veränderung dadurch inspirierbar ist.
In der Möglichkeit des Rechtsbruchs liegt die Essenz des Rechts, normativer Praktiken schlechthin. Die faktische Einschreibung von Normen in die Welt bedeutet den Tod des Rechts. Und doch ist es ein breites gesellschaftliches Bestreben, Devianz im Entstehen zu verhindern und rechtliche Regeln vor dem Bruch zu bewahren. Die weitest mögliche Durchdringung der Welt mit seiner Geltung könnte zugleich die Selbstabschaffung des Rechts bedeuten.
Die Tyrannis ist das Bild absoluter Herrschaft, die aber offensichtliche Vorteile für die gesellschaftliche Produktivität, die Sicherung der innenpolitischen Verhältnisse und die Stabilität der Regierung bringt. Unsere Tyrannis könnte auch durch die Vielen, die im kollektiven Körper verschmelzen, oder von dem aus der umfassenden Empirie unserer Datenspuren schöpfenden Algorithmus geführt werden.
Welcher Wert aber liegt im Recht und noch mehr in der Möglichkeit seines Bruchs?
Bleibt alles anders oder: Kann man abschaffen, was nie so wirklich da war?
ABSTRACT. Vor dem Hintergrund hochaktueller Entwicklungen in Recht und Politik stellen die Organisator*innen die Frage nach der "Abschaffung des Rechts". Dieser Beitrag versucht, die Frage vor dem Hintergrund empirischer Rechtsforschung zu beleuchten. Zentral ist dabei die Herausarbeitung analytischer Schärfe: was genau wird womöglich abgeschafft? Zwei Punkte stehen hierbei im Vordergrund: a) die im Call bereits erwähnte Trennung zwischen Abschaffung und Transformation sowie b) die Gefahr der Neu- oder Wiederentdeckung bestehender Phänomene. Werden Menschenrechte abgeschafft oder neu umgangen? Wird Recht entformalisiert oder wird die Informalität von Recht wiederentdeckt? Beide Punkte stellen klassische Hürden der (sozial)wissenschaftlichen Zeitdiagnose dar und haben etwa die "Globalisierungsdebatte" lange beeinflusst. Hier sollen dabei pedantische Definitionskämpfe (s. "Spät/Postmoderne") vermieden werden. Stattdessen soll - anlehnend an Jens Bartelson's Unterscheidung von transference/transformation/transcendence - ein Begriffsinstrumentarium entwickelt werden, dass die interdisziplinäre Debatte um Rechtswirklichkeit erleichtern könnte.
Fluggastdatenverarbeitung und die automatische Begründung des Tatverdachts
ABSTRACT. Heute wird zunehmend versucht, polizeiliche Verdachtsmomente aus Big Data, Statistiken und Wahrscheinlichkeiten zu gewinnen. In diesem Beitrag soll der Frage nachgegangen werden, inwieweit dies eine Tendenz darstellt, rechtliche Entscheidungen in den Bereich empirischer Schätzung auszulagern, welche Gefahren dies birgt und welche Machtstrukturen auf diese Weise verschleiert werden.
Die Frage, ob hier das Recht selbst einen Beitrag zu seiner eigenen Abschaffung leistet, soll an dem Beispiel der EU-Richtlinie (Nr. 2016/681) über die Verwendung von Fluggastdatensätzen (PNR-Daten) zur Verhütung, Aufdeckung, Ermittlung und Verfolgung von terroristischen Straftaten und schwerer Kriminalität erörtert werden. Sie bietet erstmals eine Rechtsgrundlage für ein auf großen Datensätzen beruhendes algorithmisches Profiling. Alle Daten von Fluggästen, die in oder aus der EU fliegen, sollen in Zukunft anhand bestimmter „Kriterien“ automatisch analysiert werden. Diese Kriterien können unter anderem auch direkt aus den Datensätzen heraus entwickelt werden, sind nicht öffentlich und weder überprüfbar, noch den üblichen Rechtsschutzmitteln zugänglich. Auf einen erfolgten Treffer kann sich ein Verdacht gründen, der zu besonderen Sicherheitskontrollen, „No Fly“- Listen, und letztendlich zu strafrechtlichen Ermittlungen führen kann. Die anscheinende Objektivität wird jedoch getrübt durch fehlerhafte Datensätze und diskriminierende Prämissen.
15:15
Christian Sillaber (Institut für Informatik, Universität Innsbruck, Austria)
ENTFÄLLT! Code is law and law is code (unless it’s bad times?): Der “DAO Hack” als Beispiel für die selbstorganisierte Abschaffung und Wiedereinführung des Rechts im Kleinen?
ABSTRACT. Proponenten des Credos “Code is law” fanden in Blockchains, Ethereum (einem darauf aufbauenden Ökosystem) und der DAO (der ersten relevanten, im Ethereum Ökosystem laufenden, dezentralen autonomen Organisation) – vermeintlich losgelöst von als solche wahrgenommenen Beschränkungen und Unzulänglichkeiten des Vertrags- und Unternehmensrechts ihre erste Bestätigung mit ökonomisch nicht unerheblicher Relevanz. Die DAO war eine dezentralisierte autonome Organisation – ohne Angestellte, vermeintlich losgelöst von nationalstaatlicher Grenzen und Kontrolle - die einen Venture Capital Fonds abbildete. Im Juni 2016 führte ein ausnutzbarer Fehler in der Implementierung des der DAO zugrundeliegenden Smart Contracts dazu, dass ein Betrag von 1.6m Ether (ca. 50m Euro zum damaligen Zeitpunkt) entwendet und unter die Kontrolle von bis dato unbekannten Akteuren gebracht wurde. Der dadurch den Betroffenen entstandene Schaden stellte das Ökosystem vor die Herkulesaufgabe, die lautstark geforderte Entschädigung bzw. Rückabwicklung mit dem Ewigkeitsanspruch der unveränderlichen Blockchain zu balancieren. Eine unmittelbare Rückabwicklung des Betrages durch Rückbuchung war und ist ohne aktive Unterstützung der Gegenseite (i.e. Verwendung des privaten Schlüssels) mathematisch nicht möglich. Somit kam es nach Diskussion im Kleinen und Großen zu einem Paradigmenbruch: Der demokratisch herbeigeführte Systemwechsel, der das bis dato unumstößliche Credo der immerwährenden Beständigkeit der Blockchain umstößt und die als unerwünscht wahrgenommene Transaktion rückabwickelt. Der skizzierte Fall zeigt den unterzogenen Wandel eines Ökosystems, das mit seinen zugeschriebenen Eigenschaften als Abkehr von der klassischen Rechtsstaatlichen Ordnung hin zu einem auf Algorithmen und kryptographischen Primitiven aufbauenden regulatorischen Framework (“Rechtskonformität by design”) und die Abkehr von selbigem im Not- bzw. Fehlerfall und den damit verbundenen Spannungsfelder auf. Der Vortrag rekonstruiert die Geschehnisse fallstudienartig und skizziert die dogmatischen Spannungs- und Problemfelder zwischen den regulativen Realitäten.
Besser als das Recht? Über die vermeintlich guten, sinnvollen und notwendigen, aber rechtswidrigen Handlungen von Polizeivollzugsbeamten
ABSTRACT. Die Rechtsstaatlichkeit ist ein innerhalb der Deutschen Polizei hoch geschätztes Gut und unterhält man sich mit Polizisten aller Hierarchiestufen, so behaupten diese fast ausnahmslos, dass das Recht die Grundlage und das Ziel ihres Handelns sei.
In der Praxis kann man jedoch beobachten, dass dies keineswegs immer der Fall ist und zwar nicht nur, weil die Polizisten das Recht aus eigennützigen Gründen missachten wollen, sondern ebenfalls, weil sie manchmal glauben, dass sie abseits vom Recht und von den Dienstvorschriften bessere Entscheidungen treffen können – für die Gesellschaft und für die Organisation. Aber um was für Abweichungen handelt es sich dabei? Und wie werden sie von den Polizisten gerechtfertigt?
In dem Vortrag werden einige zentrale Ergebnisse des Forschungsprojektes "Wenn der Zweck die Mittel heiligt – Zur Entscheidungstreffung von Polizisten in dilemmatischen Situationen“ vorgestellt, das sich mit den Zwickmühlen des polizeilichen Berufsalltages auseinandersetzt und in dessen Rahmen Polizisten des Wach- und Wechseldienstes einer deutschen Großstadt über mehrere Monate hinweg begleitet und interviewt wurden. Wann sich Polizisten für die Nicht-Befolgung des Rechts entscheiden und dies als gutes, sinnvolles oder notwendiges Handeln erachten und wie sie dies genau rechtfertigen, sind einige der Fragen, die beantwortet und diskutiert werden.
ABSTRACT. Die Lebensrealitäten und Verfolgung von homosexuellen Frauen in der NS-Zeit blieb lange Zeit unerforscht. Das geschlechtsspezifische Vorgehen und die Grenzziehung zwischen Privatheit und Öffentlichkeit zeigt sich ideologisch im Nationalsozialismus – männliche Homosexualität wurde als Gefahr für die Öffentlichkeit dargestellt, und stand somit unter Strafe, wohingegen lesbische Liebe nur in Österreich (§ 129 I b ÖstGB) und dem ‚Protektorat Böhmen und Mähren‘ ein Straftatbestand war (was die Verfolgung und Unterdrückung derselben in Deutschland natürlich nicht ausschloss). Auch in Deutschland gab es (juristische) Debatten um eine Kriminalisierung lesbischer Frauen, und somit der Ausweitung des § 175 RStGB. Fragen, denen ich mich in meinem Beitrag widme, sind daher: Wie wurde die strafrechtliche Verfolgung einerseits und das Ausklammern weiblicher Homosexualität andererseits begründet? Wieviel ‚Unrecht‘ ging hier vom Recht aus? Wie unterschiedlich wurden lesbische Frauen im damaligen Österreich und Deutschland tatsächlich unterdrückt und verfolgt? Welche Bedeutung hat das Recht hier?
15:00
Max Laube (Technische Universität Berlin - Zentrum für Antisemitismusforschung, Germany)
Der ambivalente Umgang der NS-Justiz mit regimekritischen Äußerungen am Beispiel des Urteils gegen Wilhelm Weber vom 15.09.1943.
ABSTRACT. Hitlers „Chefideologe“ Alfred Rosenberg hat stets die volkshygienische Funktion des Strafrechts hervorgehoben: „Strafe ist einfach die Aussonderung fremder Typen und artfremden Wesens“. Die Tatsache, dass diese „Aussonderung“ in der NS-Rechtsprechung nicht „konsequent“ und mechanisch, sondern flexibel und kontextsensitiv organisiert war, bleibt in öffentlichen und wissenschaftlichen Debatten unterbelichtet. Die Diskrepanz zwischen Rechtsdogmatik und Rechtswirklichkeit soll am Beispiel des Umgangs der NS-Justiz mit regimekritischen Äußerungen aufgezeigt werden. Exemplarisch wird das (bislang nicht beforschte) Urteil des Volksgerichtshofes gegen Wilhelm Weber vom 15.09.1943 analysiert. Anhand dieser Quelle lässt sich der ambivalente Umgang der NS-Justiz mit regimekritischen Äußerungen veranschaulichen. Bei Fällen von „Heimtücke“ und „Wehrkraftzersetzung“ – diese betrafen u.a. kritische Äußerungen bezüglich des sog. Euthanasie-Programms und des Judenmordes – stand die NS-Justiz vor einem Dilemma: Einerseits sollten „defätistische“ Äußerungen schnell und hart sanktioniert werden, andererseits waren gerade die Verantwortlichen im Reichsjustizministerium auf die „Vermeidung ‚peinlicher’ Verfahren“ (Dörner) bedacht. Ob bei entsprechenden Fällen letztlich Strafverfolgung angeordnet wurde oder nicht, hing stärker von politisch-taktischen Überlegungen ab, als von der „Schwere“ der angezeigten Äußerungen. Wie unberechenbar und widersprüchlich diese Praxis war, lässt sich anhand des Urteils gegen den Dentisten Wilhelm Weber verdeutlichen – ein Urteil, das ihm den Tod brachte und wie sämtliche Urteile gegen sog. „Kriegsverräter“ erst im Jahr 2009 aufgehoben wurde.
Ein Gespräch mit Christian Rath (rechtspolitischer Korrespondent u.a. der taz) anlässlich des Erscheinens von Boulanger / Rosenstock / Singelnstein, Interdisziplinäre Rechtsforschung (Springer, 2018).
Anschließend wird zu einem kleinen Apéro eingeladen.
Mit freundlicher Unterstützung des VS Springer Verlags und der Hamburger Stiftung zur Förderung von Wissenschaft und Kultur.