BASEL 2018: ABSCHAFFUNG DES RECHTS? VIERTER KONGRESS DER DEUTSCHSPRACHIGEN RECHTSSOZIOLOGIE-VEREINIGUNGEN
PROGRAM FOR THURSDAY, SEPTEMBER 13TH
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09:30-10:00 Eröffnung der Konferenz
  • Begrüssung durch Kurt Pärli, Universität Basel
  • Grusswort der Dekanin der Juristischen Fakultät, Daniela Turnherr
Location: Aula 033 (EG)
10:50-11:30Kaffeepause
11:30-13:00 Session 1A: Wird das Recht geschlechtslos? (Track 1)

Organisiert von Sandra Hotz, Manuela Hugentobler und Nils Kapferer

Im Jahr 2021 können die Schweizerinnen auf 50 Jahre politische Rechte zurückblicken. Diese runde Zahl wird Anlass dafür sein, diese Situation kritisch zu hinterfragen. Eine Frage, die das FRI - Institut für feministische Rechtswissenschaft und Gender Law - interessiert, lautet: Ist das Recht 1971 geschlechtsblind geworden? Wird es heute gar geschlechtslos? Gehen dem Recht nach neuen Erkenntnissen und Entwicklungen in Soziologie, Biomedizin und Robotik das geschlechtliche, das sexuelle und/oder das fortpflanzungsfähige Subjekt abhanden? Wo entlarvt sich althergebrachtes Argumentarium zum Ausschluss einer geschlechtsoffenen Partizipation bloss in neuen thematischen Feldern? Welche theoretischen und praktischen Probleme stellen sich beim Zugang zu Recht und Justiz?

Chair:
Michelle Cottier (Universität Genf, Switzerland)
Location: HS 114 (1. OG)
11:30
Sandra Hotz (University of Fribourg, Switzerland)
Geschlechtsblindes, geschlechtsoffenes oder geschlechtsloses Recht? – Überlegungen zum „Dritten Geschlecht“ 

ABSTRACT. Wie ist das Urteil des deutschen Bundesverfassungsgerichts zum „Dritten Ge­schlecht“ aus dem Jahre 2017 für das aktuelle Verhältnis von Geschlecht und Recht zu deuten? Gehen dem Recht das geschlechtliche, das sexuelle und/oder das fortpflanzungsfähige Subjekt langsam abhanden? Wird dadurch das Recht dadurch geschlechtsoffen oder geschlechtsblind? Ist das Urteil ein Highlight oder letztlich auch ein Anwendungsfall gegen die geschlechteroffene Partizipation? Wie sind die Entwicklungen in der Schweiz? Was wäre für einen künftigen schweizerischen Lösungsansatz zu beachten?

11:45
Manuela Hugentobler (Institut für öffentliches Recht Uni Bern / Schweizerisches Institut für feministische Rechtswissenschaft und Gender Law, Switzerland)
(Un-)möglichkeiten politischer Partizipation: Demokratie, Diskriminierung und der Schweizerische Verfassungsstaat – aus der Geschlechterperspektive

ABSTRACT. Politische Rechte und Verfahren in der Schweiz sind formal geschlechtsblind. Da der Staat aber historisch als „Männerstaat“ entstanden ist, erscheint er gerade nicht als geschlechtslos. Der Beitrag geht der Frage nach, ob und wie das Recht damals und heute dazu beiträgt, nach etablierten Diskriminierungsmerkmalen, das heisst Geschlechtsmerkmalen, Personen von der politischen Partizipation auszuschliessen und damit sich selbst bzw. den demokratischen Verfassungsstaat unterminiert.

12:00
Nils Kapferer (FRI - Institut suisse d'études juridiques féministes et gender law, Switzerland)
Accès à la justice: une perspective OSIEGCS

ABSTRACT. Qu'est-ce que la justice? Comment est perçu le système judiciaire? Est-il facile de demander justice en Suisse? Qu'est-ce qui empêche l'accès à la justice? Est-ce qu'être une personne OSIEGCS (non exclusivement hétérosexuelle et/ou non exclusivement cisgenre) complique l'accès à la justice? Que pourrait apporter une autre approche de la justice, telle que la justice restaurative?

11:30-13:00 Session 1B: Erosion des Rechts durch technische Entwicklungen (Track 3)
Chair:
Bijan Fateh-Moghadam (University Basel, Switzerland)
Location: HS 115 (1. OG)
11:30
Romy Daedelow (University of Basel, Switzerland)
Algorithmen in der Justiz – eine Gefahr für die Garantie auf ein rechtsstaatliches Verfahren?

ABSTRACT. Seit ein U.S. Gericht bei der Verurteilung eines Straftäters das Ergebnis einer Datenanalyse namens COMPAS zur Berechnung einer erneuten Straffälligkeit einbezogen hat, wächst die Befürchtung, dass der Einsatz von Big Data-Technologien in der Justiz rechtsstaatliche Prinzipien unterwandern könnte. COMPAS und andere Big Data-Analysetechnologien sind computergestützte Datenanalysen (predictive analytics), die sich aus der Fülle der Daten bedienen und mit Hilfe von Algorithmen bestimmte statistisch berechnete Vorhersagen über menschliche Verhaltensweisen, aber auch über bestimmte Prozesse und Verfahrensausgänge treffen können. In der Justiz werden sie als predictive policing und predictive justice bezeichnet. Diese Analysetechnologien mögen zwar aus Effizienzgesichtspunkten und zur Risikominimierung für Entscheidungsträger attraktiv sein. Doch sie sind meist intransparent und nicht unfehlbar. Und sie beruhen auf rein statistischen Korrelationen. In ihrer gesamten Funktionsweise widersprechen diese Analysetechnologien daher jenen Prozessgrundsätzen, die menschliches Urteilsvermögen, Kausalitäten, Unabhängigkeit und Gleichheit voraussetzen. Welche Auswirkungen haben diese Technologien auf die Garantie eines rechtsstaatlichen Verfahrens? Dieser Fragestellung wird der vorliegende Beitrag schwerpunktmässig nachgehen. Vorab werden die aktuell möglichen Analysetechniken in der Justiz vorgestellt. Abschliessend fokussiert sich der Beitrag auf das EU-Datenschutzrecht und zeigt auf, wie datenschutzrechtliche Anforderungen für die Einhaltung der Verfahrensgrundsätze genutzt werden können und wo deren Grenzen liegen.

11:45
Claudia Stühler (juristische Fakultät Universität Basel, Switzerland)
“Becoming cyborg is (not) a reversible step“ – Technische Implantate am Lebensende

ABSTRACT. Glaubt man dem Historiker Yuval Noah Harari, wird der Dataismus zum vorherrschenden Glaubenssystem und Algorithmen als dessen inhärente Autorität lösen etablierte Religionen ab. Der Dataismus verspricht ewiges Leben, Glück sowie Wohlstand und der Mensch mutiert zum „homo deus“. Gemäß dieser Lesart entwickelt sich der Tod vom metaphysischen zum technischen Problem. Rechtstatsächlich lässt sich feststellen, dass Körperfunktionen zunehmend extern sowie intern durch intelligente technische Implantate überwacht und durch algorithmengesteuerte Entscheidungen reguliert werden. Es stellt sich die Frage, ob die technische Aufrüstung am Lebensende, die Transformation in ein Mensch-Maschinen-Hybrid (sog. „Cyborgisierung“) zu einer Autonomiesteigerung führt oder eine Gefahr für dieselbe darstellt oder sogar ein „technologischer Paternalismus“ droht. Handelt es sich bei der Implantation eines technischen Gerätes um einen Odysseus-artigen Akt der Selbstbindung des Patienten oder darf der Patient über die Deaktivierung des technischen Implantats bestimmen? Es gilt zu erörtern, ob die anerkannten strafrechtlichen Grundsätze der Sterbehilfe die neuartigen technischen Herausforderungen angemessen und normativ konsistent lösen oder ob technische Implantate die bestehende Dogmatik der Sterbehilfe in Frage stellen und eine Modifikation derselben fordern.

12:00
Katharina Anna Zangerle (University of Innsbruck, Austria)
Konstantin Hondros (Universität Duisburg-Essen, Germany)
Justifying patenting life forms and music sampling within court

ABSTRACT. Uncertainty about Intellectual Property (IP) regulations is prevalent in today’s knowledge based and creative industries. New technologies such as sampling techniques in digital music productions and scientific breakthroughs in molecular biology transform the fields itself and practices in regard to patent (in biotechnology) or copyright (in music) law. Yet, what inputs can be legally protected under which circumstances remains uncertain and is shaped by negotiations within courts that arbitrate uncertainty on field level and transfer them on to a legal level.

We study landmark cases to illustrate how court decisions in two distant fields (music and biotech) have affected IP related practices by applying a most different case logic. In biotech, we draw on a popular case ‘Diamond v. Chakrabarty’, which concludes that living, man-made micro-organisms are patentable and on a rather recent decision of the German Federal Court of Justice ‘Brüstle v. Greenpeace’ that deals with the subject of patenting stem cell inventions. In music, we investigate cases focusing the sampling-struggle between Negativland and U2, and the still undecided ‘Metall auf Metall’, where a two-second sample concerns courts for more than 15 years. Thereby we retrace actors’ legal and scientific/artistic justifications and show how technologies are debated across distant fields that both rely on technologies to implement ‘progress’.

While literature on IP heavily relies on insights of legal studies (e.g., Lemley et al. 1998), we focus on social processes within court leading to IP practices that are shaped by actors’ justifications (e.g., Boltanski & Thévenot 2006) and valuations (e.g., Lamont 2012).

12:15
Silvia Salardi (University of Milano-Bicocca, Italy)
The role of law in the age of genetics: predictive genetic testing and the resurgence of biological inequality

ABSTRACT. Since the end of the Genome Mapping Project, genetic testing has become a very widespread practice in different fields of human life ranging from search for susceptibility to genetic diseases or disorders to genetic enhancement. Legal regulations concerning genetic tests were early provided at the international, European, and national level. These rules were intended to prohibit genetic discrimination and stigmatization as well as to solve procedural and substantial problems related to information, protection of personal data and so forth. Many of the problems arising by genetic tests were assumed to be ‘solved’ by means of legal interventions by subsuming legal cases under specific regulations. To this purpose, questions concerning genetic discrimination were legally ruled in the majority of western countries with particular attention paid to prohibit abuses by third parties like insurance companies and employers. More than a decade has passed since these rules were provided at different levels of the legal systems. However, we still face the threat of biological inequality. The paper provides comparative insights into legal provisions concerning genetic testing from the earliest times to the latest trends from a biolaw’s perspective. This approach allows to highlight the consistency of the previous norms with the new ones within the framework of fundamental rights and to test new norms in relation to the equality and non-discrimination principles.

11:30-13:00 Session 1C: Der aktivierende Sozialstaat als grund- und menschenrechtliches Paradox?! (Track 4)

Organisiert von Melanie Studer, Universität Basel

Dass sozialstaatliche Leistungen zumindest in ihrem Kern auch in den Menschenrechten begründet liegen und die Ausrichtung dieser Leistungen auch die effektive Ausübung von Freiheitsrechten und der Menschenwürde garantieren soll, ist anerkannt. Der aktivierende Sozialstaat setzt jedoch Hilfesuchende durch Pflichten zur (Re-)Integration, welche zur Voraussetzung für einen (andauernden) Leistungsbezug erhoben werden, mehr oder weniger subtil unter Druck. Solcher Druck kann beispielsweise in der Verpflichtung an einem Arbeitsprogramm teilzunehmen entstehen. Diese und ähnliche Anordnungen schränken nicht nur den Zugang zu sozialen Rechten ein, sondern können auch eine Einschränkung beispielsweise der persönlichen Freiheit bewirken. Wir bewegen uns also in einem Spannungsfeld zwischen grundrechtlichen Abwehr- und Leistungsansprüchen. In diesem Panel soll beleuchtet werden, wie unterschiedliche Zweige der Sozialen Sicherheit mit diesem Spannungsfeld umgehen und unterschiedliche (nationale oder internationale) Lösungsansätze diskutiert werden. Handelt es sich um einen Versuch der Quadratur des Kreises oder gibt es bereits kohärente theoretische Konzepte, die auch in der Praxis durchgesetzt werden? Führt die Verstärkung der Aktivierungstendenzen zur Abschaffung des Rechts auf Soziale Sicherheit und zu einer Rückkehr zu einem Verständnis von Grundrechten als reine Abwehrrechte oder bringt uns die aktivierende Sozialpolitik gar in eine neue Ära der teilbaren und bedingten Grundrechte im Sozialstaat?

Chair:
Kurt Pärli (University of Basel, Switzerland)
Location: HS 116 (1. OG)
11:30
Melanie Studer (Universität Basel, Switzerland)
Aktivierende Sozialhilfe als menschenrechtliches Paradox?

ABSTRACT. Die Reformen der aktivierenden Sozialpolitik haben auch im schweizerischen Sozialhilferecht zu einer grundlegenden Verschiebung von Rechten und Pflichten der Sozialhilfebezüger*innen geführt. Pflichten zur Erbringung von Gegenleistungen wurden zur Voraussetzung für einen (ungekürzten) Leistungsbezug erhoben. So ist auch die Pflicht an einem Beschäftigungsprogramm teilzunehmen Verhaltenspflicht und Anspruchsvoraussetzung für die – zumindest in ihrem Kern – in der Menschenwürde begründeten Leistungen des letzten Sicherungsnetzes.

Diese Verbindung von Pflichten mit dem Recht auf Sozialhilfe kann nicht nur den Zugang zu diesem Recht einschränken sondern auch die Autonomie sowie damit zusammenhängende (Freiheits-)Rechte beeinträchtigen. Auf der anderen Seite verspricht die Aktivierungspolitik auch befähigend zu wirken. Es entsteht ein Spannungsfeld zwischen menschenrechtlichen Abwehr- und Leistungsansprüchen und zwischen Unterlassungs- und Schutzpflichten, welches aufzulösen auch schon als Versuch der Quadratur des Kreises bezeichnet wurde.

Dieser Beitrag präsentiert dieses Paradox am Beispiel der Pflicht in einem sozialhilferechtlichen Beschäftigungsprogramm zumutbare Arbeit zu leisten. Dabei werden theoretische Lösungsvorschläge diskutiert und der Versuch unternommen, eine Lösung zu erarbeiten, die sich an der Unteilbarkeit der Menschenrechte orientiert.

11:45
Valery Gantchev (Universität Groningen, Netherlands)
Das Recht auf Sozialhilfe als international anerkanntes Grundrecht und dessen Ausgestaltung in der nationalen Rechtsordnung

ABSTRACT. Valery Gantchev, Doktorand an der Universität Groningen, präsentiert einen Beitrag zum Recht auf Sozialhilfe und dessen Auswirkungen auf die nationale Rechtsordnung in den Niederlanden und Deutschland.

12:00
Michael E. Meier (University of Zurich, Switzerland)
Bedrohung der (Grund-)Rechte durch Observationen von versicherten Personen

ABSTRACT. Michael E. Meier, Doktorand an der Universität Zürich erläutert, wie die (Grund-)rechte von versicherten Personen im schweizerischen Sozialversicherungssystem, insbesondere durch eine neu zu schaffende Rechtsgrundlage für Observationen (von Versicherten) bedroht werden.

12:15
Minou Banafsche (Universität Kassel, Germany)
Das „doppelte Mandat“ sozialer Leistungen

ABSTRACT. Der grundgesetzlich garantierten Menschenwürde liegt laut Bundesverfassungsgericht „die Vorstellung vom Menschen als einem geistig-sittlichen Wesen zugrunde, das darauf angelegt ist, in Freiheit sich selbst zu bestimmen und sich zu entfalten“ (BVerfGE 45, 187, 227). Sie zu realisieren, ist zentraler Regelungsgrund des Sozialrechts, welches durch Sozialleistungen dazu beitragen soll, ein menschenwürdiges Dasein zu sichern, gleiche Voraussetzungen für die freie Entfaltung der Persönlichkeit zu schaffen und besondere Belastungen des Lebens abzuwenden. Sozialleistungen verfolgen dabei – im Lichte der Verbindung von Autonomie und Menschenwürde – ein „doppeltes Mandat“: Sie haben nicht nur eine Sicherungs- und Schutzfunktion, sondern dienen auch als Hilfe zur Selbsthilfe mit dem Ziel, sich selbst überflüssig zu machen. Ebenso wie es fördern muss, darf das Sozialrecht deshalb Mitwirkung (ein)fordern, dies jedoch nur insoweit, als die Sicherungs- und Schutzfunktion erhalten bleibt. Besonders offenbar wird das Dilemma bei den Sanktionen in der Grundsicherung für Arbeitsuchende (SGB II) als existenzsicherndem System. Wäre jede Sanktion zugleich eine Unterschreitung des Existenzminimums, gerieten die Leistungen nach dem SGB II zu einem bedingungslosen Grundeinkommen und verlören ihre auf Stärkung der Eigenverantwortung gerichtete Funktion. Der vorliegende Beitrag will sich vor diesem Hintergrund der Frage widmen, welche Wege ggf. denkbar sind, um das Dilemma aufzulösen.

11:30-13:00 Session 1D: Transnationale Unternehmen und Menschenrechte (Track 5)

Organisiert von Laura Affolter, Angela Lindt and David Loher (alle Universität Bern)

The attribution of legal liability to transnational corporations for human rights violations and environmental disaster is currently a widely discussed topic in law and legal anthropology. In their attempts to hold transnational corporations liable for human rights and environmental crimes, victims, lawyers, and human rights activists face various obstacles: Not only is there the problem of a global governance gap, many obstacles are also inscribed in the law itself, such as the principle of the corporate veil, or statutes of limitations. Nonetheless, we can observe a series of initiatives which try to overcome the issue of corporate impunity; both on a legislative level and through specific legal cases. Interest groups mobilise and use existing national and international law in strategic ways to bring transnational corporations to court and sue them for their wrongdoings.

This panel brings into conversation different case studies from European, Latin American, and African countries which analyse both the limits of law in specific (trans)national settings and strategies of how law is mobilised by different actors such as (cause) lawyers, law firms, NGOs and human rights activist in order to overcome existing obstacles and hurdles when trying to hold transnational corporations liable for violating human rights or causing environmental disasters. It pays particular attention to the question how these actors invoke different legal forums in order to bring forward their cases.

Chair:
Laura Affolter (Universität Bern, Switzerland)
Location: HS 117 (1. OG)
11:30
Christian Schliemann (European Center for Constitutional and Human Rights, Germany)
Litigation without a remedy– investor state arbitration and affected third parties

ABSTRACT. Political contestation about Bilateral Investment Treaties and Trade Agreements including Investor State Dispute Settlement (ISDS) has been on the rise in the last years. Yet, numerous treaties already exist and despite all contestation they are continuously being signed by states, admittedly most recently with a few changes that have responded to some but by no means all criticism. Investor-state dispute settlement is therefore taking place more than ever in economic sectors with wide-ranging impacts on the general population from privatization of water services, to the management of hazardous substances or the protection of the environment. The contribution seeks to shed light on the systematically organized closeness of the ISDS system in the face of repeated attempts by affected third parties to have their rights recognized and corporate accountability established. By taking the arbitration proceedings in BTL v. Zimbabwe as an example, the contribution will show how indigenous communities have unsuccessfully tried to mobilize against the negative impacts of the proceedings. First, the limited role Amicus Curiae have played and will most probably continue to play in ISDS will be analyzed. Secondly, the contribution seeks to shed light on attempts to access remedies once arbitration is concluded, namely by intervening in the recognition and enforcement of arbitral awards. Fledgling procedures in the EU, Dutch courts and in the BTL v. Zimbabwe conundrum itself will help to clarify the picture in order to provide an assessment if such a legal interventionist strategy may be worthwhile to pursue and if and what normative changes may influence these chances positively.

11:45
Angela Lindt (University of Bern, Switzerland)
Rechtsmobilisierung und transnationale Unternehmensverantwortung: Der Fall Máxima Acuña de Chaupe vs. Minera Yanacocha S.R.L

ABSTRACT. Die Straflosigkeit von transnationalen Unternehmen für im sogenannten Globalen Süden begangene Menschenrechtsverletzungen stellt zurzeit eine der grossen rechtlichen Herausforderungen dar. Als wichtigste Entwicklung sind in diesem Kontext die Verhandlungen über ein international rechtlich verbindliches Abkommen anzusehen, das Opfern von solchen Vergehen einen effektiven Zugang zu Rechtsmitteln gewährleisten soll. Zu den Gründen, warum es in den sogenannten Home States oft nicht möglich ist, den Unternehmen eine rechtliche Verantwortung zuzuschreiben, wurde bereits viel geforscht. Die Frage hingegen, weshalb den Opfern der Zugang zum Justizsystem in den sogenannten Host States verwehrt bleibt, erhielt sehr viel weniger Aufmerksamkeit.

Im Beitrag zeige ich anhand eines ethnographischen Fallbeispiels auf, wie eine kleinbäuerliche Familie in der Region Cajamarca, Peru, versucht, die nationale Gesetzgebung zu nutzen, um ihre Rechte gegenüber der grössten Goldmine Lateinamerikas einzufordern. Der Fall zeigt, mit welchen Hürden Personen, die von Menschenrechtsverletzungen durch transnationale Unternehmen betroffen sind, auf lokaler Ebene zu kämpfen haben und weshalb der Zugang zu Recht und Gerechtigkeit oftmals verwehrt bleibt. Ich analysiere zudem, welche Strategien erfolgversprechend sein können, um das nationale Recht zu mobilisieren. Aspekte der strategischen Klageführung spielen dabei eine ebenso zentrale Rolle wie die Zusammenarbeit mit lokalen und internationalen NGOs.

12:00
Filipe Calvao (IHEID, Switzerland)
The force of law: mining corporations and ethical value

ABSTRACT. Since the early 2000s, corporate practices in the mining sector have had to comply with supranational regulatory regimes such as the Kimberly Process Certification Scheme (KPCS), introduced in 2003. Spearheading a global trend toward corporate transparency and accountability, the KPCS is a joint government, civil society, and industry initiative aimed at stemming the flow of rough diamonds used to finance wars through largely voluntary measures of certification. While the effectiveness of the KPCS is still being debated among development and activist networks, KPCS-certified stones allowed for a distinct class of ‘ethical’ gemstones to emerge. Based on ethnographic research of Angola’s corporate mining industry and diamonds’ global value chain, this paper examines the unintended consequences of this protocol as a binding instrument for corporate actors. In so doing, the presentation interrogates the limits of the law by way of an ethnographic analysis of traceability, legibility and the opacity of supply chains. Despite calls for consumer boycott of so-called ‘conflict’ gemstones and a growing awareness of the environmental toll of mining, could the Kimberly Process become a spurious effort as a strategy to promote, regulate, and certify transparent and sustainable mining?

12:15
David Loher (Department of Social Anthropology, University of Bern, Switzerland)
Piercing the Corporate Veil: Negotiating Responsibilities in the Aftermath of an Industrial Disaster in Northern Italy

ABSTRACT. The principle of the corporate veil is a strong barrier that protects shareholders from legal prosecution for alleged wrongdoing of their company. It says that they should not bear any liabilities beyond their invested assets. However, in litigation cases there are manifold attempts to pierce the corporate veil, constructing a causal chain between the negative effects of various types of a company’s economic activities and the shareholders.

This legal anthropological study examines a criminal case against the foreign main investors of an asbestos cement producing company in Italy, accused for the willful provoking of an environmental disaster causing death. It analyses how the different social forces involved in this case mobilised law in order to ascribe or reject responsibilities. While the defence was open to contribute voluntary compensation payments in view of the unfolding tragedy and therefore alleviating human suffering, it fiercely rejected any legal responsibility and accused the public prosecutor of bending the law with the charge. In contrast, the victims’ associations argued that the main investors are those, who are really responsible for this man-made disaster and demanded their criminal conviction. In this context, the contribution examines how certain ideas of moral responsibilities and justice are able to enter the realm of jurisdiction while others are excluded and silenced.

11:30-13:00 Session 1E: Flexibilisierung staatlicher Macht (Track 9)

Organisiert von Kurt Pärli, Tobias Singelnstein and Walter Fuchs

Chair:
Sebastian Meyer (Institute for European Global Studies, University of Basel, Switzerland, Switzerland)
Location: HS 118 (1. OG)
11:30
Sebastian Meyer (Institute for European Global Studies, University of Basel, Switzerland, Switzerland)
Towards the informalisation of EU asylum and migration policy? How formal and informal instruments interact

ABSTRACT. In order to tackle the migration crisis, the EU has pursued a so-called “comprehensive approach”: the combination of internal and external policies and instruments, as well as the involvement of various actors into a coherent and effective set of measures. This contribution will explain the instruments of the comprehensive approach, especially the interaction between primary and secondary law on the one hand, and informal instruments on the other. A prominent example of the latter is the EU-Turkey Statement, concluded between the EU Member States and Turkey outside the Treaty framework. Analysing the interaction between EU law and informal arrangements like the EU-Turkey Statement offers insights into the degree to which the EU legal order, premised on law as the agent and object of integration, is capable of accommodating looser forms of cooperation. This is worth investigating because, first, informalisation may lead to fundamental rights violations, and secondly, on a more positive note, it may bring about flexibility that is necessary for effective implementation. Methodologically, this contribution will therefore adopt a “law in context” approach, considering how law and policy are made and which political, social or cultural factors influence the practical realisation.

11:45
Bernard Łukańko (Institut der Rechtswissenschaften der Polnischen Akademie der Wissenschaften, Warschau, Poland)
ENTFÄLLT! Verlagerung des Datenschutzes an Kirchen und Religionsgemeinschaften - Bemerkungen zur Reichweite des Art. 91 der Datenschutzgrundverordnung

ABSTRACT. Die Datenschutzgrundverordnung (Verordnung (EU) 2016/679), die am 25. Mai 2016 in Kraft getreten ist und die ab dem 25 Mai 2018 in allen EU-Mitgliedstaaten gelten wird stellt einen komplexen und modernen Regelwerk zum Schutz der Daten von natürlichen Personen. Sie enthält eine Reihe von Verpflichtungen, die sowohl Verantwortliche für die Datenverarbeitung, als auch Staaten betreffen. Sie regelt auch umfassend Rechte von betroffenen Personen, wie das Recht auf Löschung („Vergessenwerden“), oder das Widerspruchsrecht. Art. 91 Abs. 1 der Grundverordnung sieht vor, dass Kirchen und religiöse Vereinigungen oder Gemeinschaften, die zum Zeitpunkt des Inkrafttretens der Grundverordnung umfassende Regeln zum Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung anwenden, diese Regeln weiter anwenden dürfen, wenn sie mit Regelungen der Grundverordnung in Einklang gebracht werden. Art. 91 Abs. 2 sieht eine Kompetenznorm zur Schaffung einer kircheninternen unabhängigen Aufsichtsbehörde. Diese Regelung ermöglicht das Entstehen, oder präziser ausgedrückt, eine Fortentwicklung, eines vom Staat unabhängigen Systems des kircheninternen Datenschutzes. Gegenstand des Vortrags stellt die Frage nach dem Ziel, Umfang und Ausgestaltung des kircheninternen Datenschutzes, insbesondere im Lichte des Art. 17 AEUV. Es wird untersucht, am Beispiel von kircheninternen Datenschutzregelungen der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) und einer der evangelischen Kirchen in Polen, ob die Kirchen in zwei ausgewählten Mitgliedstaaten der EU den Weg einer vollständigen Übernahme der Verpflichtungen im Bereich des Datenschutzes gewählt haben (inklusive eigener Gerichtsbarkeit), oder ob bei dem Staat (den staatlichen Aufsichtsbehörden) weiterhin noch Aufgaben verbleiben.

12:00
Jelle Roelfsema (University of Groningen (Universität Groningen), Netherlands)
Privatrechtliche Gestalten des Staates in Deutschland und den Niederlanden. Ein Versuch zur Abschaffung demokratisch-rechtsstaatlicher Vorschriften?

ABSTRACT. Seitdem im letzten Jahrhundert in Europa Großprivatisierungen durchgeführt wurden, ist Privatisierung kein unbekanntes Phänomen mehr. Es wäre aber nicht richtig daraus zu folgern, dass privatrechtliche Erscheinungsformen des Staates der Vergangenheit angehören. Vor allem in den Bereichen der Innovation und der (erneuerbaren) Energie wurden zahlreiche neue privatrechtliche Entitäten gegründet, die unter genauer Betrachtung als staatlich einzustufen sind. Auffällig ist auch, dass diese Entwicklung sich in mehreren Staaten, darunter Deutschland und den Niederlanden, parallel zu vollziehen scheint. Für die Behörden, die derartige Entitäten gründen oder sich an ihnen beteiligen, haben solche Konstruktionen offenbar Mehrwert, aber zugleich erhebt sich die Frage, wie sich diese Entitäten zu den klassischen Begriffen des demokratischen Rechtsstaats und der Gewaltenteilung verhalten. Inwieweit sind privatrechtliche Erscheinungsformen des Staates demokratisch legitimiert? Inwieweit ist der Staat zu Kontroll- und Einwirkungsmöglichkeiten in Bezug auf seine privatrechtlichen Erscheinungsformen verpflichtet? Können demokratisch-rechtsstaatliche Vorschriften umgangen werden? Könnte dies letztendlich zu einer Abschaffung des Rechts führen, in dem Sinne, dass der Staat die für ihn geltenden Vorschriften in wesentlichem Maße umgeht. Der vorgenommen Beitrag erzielt einen Einblick in die wichtigsten Aspekte des rechtlichen Rahmens in Deutschland und den Niederlanden sowie eine Analyse dessen.

13:00-14:30Mittagspause
13:00-14:00 Gemeinsame Mitgliederversammlung/Sitzung der Sektion Rechtssoziologie der Österreichischen Gesellschaft für Soziologie und des FK Rechtssoziologie und Rechtswirklichkeitsforschung der Schweizer Gesellschaft für Soziologie

Die Sektion (A) und das Forschungskomittee (CH) Rechtssoziologie sind die Fach- und Berufsorganisationen der Gesellschaften für Soziologie in den beiden Ländern. Sie halten im Rahmen des 4. Kongresses in Basel ihre jährliche Mitgliederversammlung gemeinsam. Unsere Mitglieder sind gebeten, sich an dem Kongress als ordentliche Teilnehmende einzutragen. Nichtmitglieder und interessierte Personen sind als Gäste willkommen.

Chairs:
Josef Estermann (VICESSE, Wien and University of Zurich, Switzerland)
Walter Fuchs (IRKS, Austria)
Caroline Voithofer (Universität Innsbruck, Austria)
14:30-16:00 Session 2A: 100 Jahre gegen das Recht - Die Argumente der Rechtskritik gestern und heute I (Track 1)

Organisiert von Christian Schmidt and Benno Zabel

In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts entwickelte sich ausgehend von marxschen Texten eine Fundamentalkritik des Rechts. Ganz generell wurden die herrschaftssichernden Aspekte des Rechts hervorgehoben. Ihnen sollte mit einer Politisierung der Normen und Konfliktbewältigung begegnet werden. Daraus entwickelten sich neben dem sowjetischen Klassenrecht und dem nationalsozialistischen Volksgemeinschaftsrecht noch weitere Ansätze, die diesen Aporien entgehen wollten. Das Panel diskutiert inwiefern die heutige Rechtskritik an die damaligen Motive anschließt und wie sie versucht, die historischen Fehler der Rechtskritik zu vermeiden.

Chair:
Christian Schmidt (Universität Leipzig, Germany)
Location: HS 114 (1. OG)
14:30
Daniel Loick (Goethe-Universität Frankfurt am Main, Germany)
Rechtskritik als Liberalismuskritik

ABSTRACT. Die neuere Kritik der subjektiven Rechte impliziert eine radikale Zurückweisung liberaler politischer Philosophie und bürgerlicher Rechtspraxis. Sie stellt nicht nur die den bürgerlichen Rechten inhärente Individualisierung in Frage, sondern will auch grundsätzlich die willkürliche Entscheidungsfreiheit der Rechtssubjekte überwinden. Stattdessen will sie, so etwa Christoph Menke, das Wollen der Rechtssubjekte in soziale "Vermittlung" einspeisen. Der Vortrag diskutiert anhand des Beispiels der Meinungsfreiheit, wie diese Liberalismuskritik sich vor den offensichtlichen Gefahren des sozialen Konformismus und autoritären Dirigismus immunisieren könnte.

14:45
Benno Zabel (Universität Bonn, Germany)
Das Paradox der Rechtskritik

ABSTRACT. Rechtskritik hat ein emanzipatorisches Anliegen. Sie will die Ungerechtigkeit des Rechts zur Sprache bringen. Rechtskritik soll, um es mit Foucault zu sagen, gegen die subjektivierenden Praktiken, gegen die hegemoniale Ordnung des Rechts angehen. Aber wie ist das möglich und was sind die Folgen? Immer wieder ist in der Geschichte der Rechtskritik eine Politisierung des Rechts vorgeschlagen worden, zuletzt wieder von Christoph Menke. Nur so könne der instrumentelle Charakter des Rechts aufgebrochen und soziale Gerechtigkeit überhaupt in den Blick kommen. Die Dialektik mit der sich jede radikale Rechtskritik konfrontiert sieht, besteht nun darin, dass in der Mobilisierung des Politischen nicht nur die machtkritische Variante (im Sinne Arendts), sondern auch die freiheitszersetzende Seite (im Sinne Robespierres) zum Tragen kommen kann. Das heißt, es droht durch die Politisierung des Rechts eine Gewalt jenseits des Rechts. Denn jede Politisierung muss gleichzeitig in Kauf nehmen, dass auch die Gewaltbegrenzungsfreiheit des Juridischen zur Debatte steht. Kritik hat es also immer auch mit dem Freiheitsanspruch der Rechtsgewalt zu tun. Das Paradox der Rechtskritik können wir daher beschreiben als Dekonstruktion der juridischen Gewalt im Namen einer „Befreiungsgewalt“. Die Frage, die diskutiert werden soll, ist, wie eine Rechtskritik aus diesem Paradox herausfinden kann, wie sie einem Rechtsnihilismus aus dem Weg gehen, wie sie ein Akt der Befreiung ohne Gewalt sein kann.

14:30-16:00 Session 2B: Algorithmen und künstliche Intelligenz im digitalen Zeitalter (Track 3)
Chair:
Fatima Kastner (Institut für Weltgesellschaft, Universität Bielefeld, Germany)
Location: HS 115 (1. OG)
14:30
Peter Müller (MCTS, Technical University Munich, Germany)
Nikolaus Pöchhacker (MCTS, Technical University Munich, Germany)
Algorithmic Risk Assessment als Medium des Rechts. Medientechnische Entwicklung und Institutionelle Verschiebungen aus Sicht einer Techniksoziologie des Rechts

ABSTRACT. Im Zuge der Debatte über intransparente Algorithmen und Diskriminierung durch Big Data wurde im breiteren Diskurs auch die Nutzung von Risk Assessment Software in US-Amerikanischen Gerichten bekannt. Diese Software findet insbesondere in Presentence Trials Anwendung, um die Notwendigkeit einer Kaution, einer Untersuchungshaft, Bewährungsauflage, weiteren Verhandlung und das Strafmaß einzuschätzen. Mit dem Einzug besagter Software in Gerichtsverfahren hat sich eine lebendige Diskussion in den USA entwickelt, die jedoch weniger juristisch als datenwissenschaftlich geprägt ist. Der Einsatz dieser Technologie stellt dabei - vordergründig - keinen Bruch mit etablierten institutionellen Ordnungen des Rechtsapparats dar. Das zeigt sich u.a. im bereits zuvor institutionalisierten Presentencing Investigation Report (PSIR), der zur Beurteilung des Fluchtrisikos und der Rückfallwahrscheinlichkeit genutzt wird. Auf der Mikro-Ebene allerdings zeigen sich subtile Verschiebungen, welche die Praxis des Rechts in Form der etablierten Medientechniken neu formieren und Grundfragen des Rechtsverständnisses berühren. In unserem Beitrag argumentieren wir anhand des Falles ‚Northpointe', einer bereits in Anwendung befindlichen proprietären Risk Assessment Software, dass eine Verbindung aus rechts- und techniksoziologischer Perspektive diese subtilen Verschiebungen in den Rechtspraktiken und -institutionen offenlegen und einem reflexiven, demokratischen Diskurs zur Verfügung stellen kann.

14:45
Marc Mölders (Universität Bielefeld, Germany)
Algorithmische richterliche Entscheidungshilfe als evidenzbasierte Weltverbesserung. Der Fall Public Safety Assessment

ABSTRACT. Zwar steht der „Subsumtionsautomat“ nicht kurz vor der Inbetriebnahme, gleichwohl haben es erste algorithmengestützte Orientierungshilfen bereits in den Gerichtssaal geschafft. Zu einer gewissen Prominenz hat es ein Tool namens Public Safety Assessment (PSA) gebracht, ein bereits in manchen US-Bundesstaaten und Großstädten eingesetzter Rückfälligkeitsvorhersagealgorithmus. Eher unbekannt sind die Entwickler, die Laura and Jane Arnold Foundation (LJAF). Diese ist eine der in den USA stark vertretenen philanthropischen Stiftungen. Die von der LJAF geförderten Projekte sind typische Ausprägungen einer Strömung, die ich als evidenzbasierte Weltverbesserung bezeichne. Einerseits geht es dabei abstrakt um großflächige Gesellschaftskorrektur, andererseits soll ebendies möglichst konkreten, vor allem aber: evidenzbasierten Lösungen zugeführt werden. Der PSA-Score ist ein solches Projekt. Wie für diese Form der Philanthropie üblich, geht es weniger um einen return on investment, sondern eher um einen return on impact. Eine solche Wirkung aber muss einen messbaren Unterschied (re)konstruierbar machen. Dass gerade aus Quantifizierung und Faktenorientierung nicht wie selbstverständlich rationale (und lineare) Umsetzung folgt, wird mitunter geradezu als Signatur der Gegenwartsgesellschaft ausgemacht. Aus einer übersetzungstheoretischen Perspektive wird gefragt, wie es um die Kompatibilität dieser konkreten Form technikbasierter Weltverbesserung mit der Rechtslogik bestellt ist.

15:00
Christoph Beat Graber (University of Zurich, Faculty of Law, Switzerland)
ENTFÄLLT! Artificial Intelligence, Affordances and Fundamental Rights

ABSTRACT. The presentation has been cancelled.

This paper is about the relationship between AI technology and society in fundamental rights theory. The relationship between technology and society is seldom reflected in fundamental rights practice. Jurists tend to view technology as a black box. For scholars of science and technology studies (STS), similarly, the law is a closed book. Such reductionist or compartmentalised thinking in the law and social sciences must be overcome if a conceptualisation of AI technology in fundamental rights theory is to be successful.

The paper offers a perspective on AI technology and communicative freedom online that is based on affordance theory (as originally framed in STS). First, it is argued that affordance theory should stand clear of technological determinism while at the same time avoiding a social constructivist perspective. Rather, affordances of AI technology are conceived to be co-determined in the recursive practices of material design and social interpretation. Second, the reviewed concept of affordances is combined with socio-legal theorising that understands fundamental rights as social institutions bundling normative expectations about individual and social autonomies. The question is how normative expectations about AI technologies and their affordances emerge and how they are juridified and then constitutionalised within the legal system.

14:30-16:00 Session 2C: Prekarisierung (Track 4)

Organisiert von Michael Wrase and Kurt Pärli

Chair:
Michael Wrase (WZB, Germany)
Location: HS 116 (1. OG)
14:30
Peter Moesch Payot (Hochschule Luzern, Switzerland)
Sozialschutzrechtliche Deregulierung für geringfügige und atypische Beschäftigungen: Stärkung oder Schwächung der Wohlfahrt?

ABSTRACT. Arbeits- und sozialversicherungsrechtlicher Sozialschutz besteht in ausgebauten Sozialstaaten insbesondere für unselbstständig Erwerbstätige. Es stellt sich die Frage, ob und inwieweit dieser durch Rechtsnormen avisierte Schutz des Arbeitnehmers auch im Bereich von atypischen und geringfügigen Beschäftigungen heute anwendbar ist und inwieweit das wünschbar und nützlich ist mit Blick auf die Zielsetzung der Sozialen Sicherheit und der Wohlfahrt. Eine Auslegeordnung bezüglich der heutigen rechtlichen (De-)Regulierung hierzu in der Schweiz und in Deutschland schafft die Grundlage für eine Diskussion entsprechender rechtssoziologischer, rechtsökonomischer und rechtspolitischer Aspekte.

14:45
Kurt Pärli (University of Basel, Switzerland)
Abschaffung des Rechts auf Privatsphäre für Bezüger/innen von Sozialversicherungsleistungen zwecks Missbrauchskontrolle

ABSTRACT. Sozialversicherungsleistungen werden unter bestimmten Voraussetzungen gewährt, deren Vorhandensein von den zuständigen Behörden abgeklärt werden müssen. Krankheits- oder unfallbedingte Arbeitsunfähigkeit führt zu Ansprüchen Leistungen von Erwerbsausfallversicherungen. Bei Zweifeln an der durch ärztliche Zeugnisse ausgewiesener Arbeitsunfähigkeit greifen Sozialversicherungsträger auch auf den Einsatz von Privatdetektiven zurück. Nachdem der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in der Entscheidung Vukota gegen die Schweiz für solche Observationen eine ausreichende gesetzliche Grundlage verlangt hat, hat der schweizerische Gesetzgeber eine entsprechende Novelle geschaffen. Das Gesetz erlaubt die Überwachung in zahlreichen Fällen und begrenzt die Mittel und Verwertung des Observationsmaterial kaum. Zudem ist die Regelung in allgemeinen Teil des Sozialversicherungsrecht verankert, so dass alle Sozialversicherer nun eine gesetzliche Legitimation zur Observation der Versicherten vorfinden. Diese umfassende Möglichkeit von Sozialversicherungsträgern zum Eingriff in das Privatleben der Versicherten, ist aus verfassungs- und menschenrechtlicher Perspektive kritisch zu beleuchten. Da zudem viele Leistungsansprüche der Sozialversicherer unmittelbar an das individuelle Verhalten der Versicherten anknüpfen, eröffnet sich für die Überwachung ein weites Feld. Diesen Zusammenhang gilt es näher zu analysieren. Auch ist zu beleuchten, wie sich das Legalitätsprinzip mit dem Erfordernis der gesetzlichen Grundlage im Ergebnis negativ für den Privatsphärenschutz der Versicherten auswirkt.

14:30-16:00 Session 2D: Neue Formen der Mobilisierung (Track 5)

Organisiert von Gesine Fuchs and Alexander Graser

Chair:
Alexander Graser (Universität Regensburg, Germany)
Location: HS 117 (1. OG)
14:30
Axel Pohn-Weidinger (Universität Göttingen, Austria)
Julia Dahlvik (FH Campus Wien, Austria)
Ombudsinstitutionen als Ressource für strategische Rechtsmobilisierung für kollektive Zwecke

ABSTRACT. Seit den 1970er Jahren existieren in den meisten modernen Demokratien nationale oder regionale Ombudsstellen, welche auf individuelle Beschwerden von BürgerInnen hin das Handeln staatlicher Verwaltungen auf ihre Rechtmäßigkeit prüfen bzw. prüfen, inwiefern Prinzipien einer „guten Verwaltung“ verletzt wurden. Erdacht als eine Art Vermittler zwischen den als einzelne Individuen auftretenden „BeschwerdeführerInnen“ und den öffentlichen Verwaltungen, operieren Ombudsinstitutionen als alternative Konfliktregulationsmechanismen außerhalb des klassischen Rechtsschutzsystems. Unser Beitrag widmet sich der Frage, ob und in welchem Ausmaß Ombudsinstitutionen Ziel strategischer Rechtsmobilisierungsprozesse von Seiten sozialer und politischer Gruppen sind. Tendenzen strategischer Rechtsmobilisierung wurden vor allem im anglo-amerikanischen Sprachraum analysiert, im Hinblick auf Gerichtsverfahren und der strategischen Produktion von Jurisprudenz. Inwieweit alternative Regulierungsmechanismen – zu deren ältesten Formen die öffentliche Ombudsinstitution zählt – von sozialen und politischen Gruppen als Ressource für die strategische Mobilisierung von Recht verwendet werden, ist bisher weitgehend unerforscht. Empirisch stützt sich der Beitrag auf der ersten soziologischen, ethnographischen Fallstudie über die österreichische Ombudsinstitution, der sogenannten „Volksanwaltschaft“, für die verschiedene Datensorten kombiniert zum Einsatz kommen (Interviews mit MitarbeiterInnen und BürgerInnen, Aktenanalyse, Beobachtung von Sprechtagen u.ä.). Anhand des österreichischen Falls wird die Hypothese formuliert, dass Ombudsinstitutionen vermehrt rechtspolitische Funktionen wahrnehmen, aufgrund eines doppelten und konvergenten Prozess. Erstens erscheint es so, dass BürgerInnen sich nicht nur in privaten Angelegenheiten an die Ombudsinstitution wenden, sondern auch mit gesellschaftlichen und politischen Problemstellungen. Im Bereich des öffentlichen Raumes etwa stellen Großbauprojekte oder Denkmäler ‚Problemherde’ dar, die dazu führen, dass BürgerInnen kollektiv (oder auch individuell) Recht für kollektive Zwecke mobilisieren. Andererseits hat sich die Institution selbst gewandelt, in dem Sinne, als die AmtsinhaberInnen sich verstärkt gesellschaftspolitischen Fragen annehmen und die Institution vor allem in der Kontrolle von Menschenrechtsverletzungen auch als Garant von „soft law“ auftritt, was die traditionell am Einzelfall ausgerichtete juristische Prüfaktivität in die Nähe rechtspolitischer Problembereiche rückt.

14:45
Walter Fuchs (Institut für Rechts- und Kriminalsoziologie, Austria)
Andrea Kretschmann (Centre Marc Boch, Germany)
Zur Mobilisierung alten und "Neugründung" bestehenden Rechts am Beispiel rechter Staatsverweigerung

ABSTRACT. Der Vortrag beschäftigt sich mit Rechtsmobilisierungen und Eigen-Konstruktionen von Recht am Beispiel rechter Staatsverweigerung. Im Zentrum der Untersuchung steht die Frage nach dem Wie und Warum der Bezugnahme auf und der Verwendung von imaginiertem Recht, so etwa durch das Ausrufen eigener „Gerichte“ oder das Verfassen umfangreicher Eingaben an Behörden, die diese nicht nur beanspruchen und zeitlich binden, sondern ihnen auch Legitimität absprechen. Hierbei wird auch darauf eingegangen, wie Reichsbürger bestehende Rechte für sich in Anspruch nehmen und Rechtsinstitutionen als Forum nutzen. In einem weiteren Schritt diskutieren wir, warum „Staatsverweigerer“ ausgerechnet im Modus rechtlicher Semantiken agieren. Wir argumentieren, dass das Phänomen auf Begründungsprobleme, Paradoxien und entfremdende Effekte modernen positiven Rechts und seiner herrschaftsförmig-bürokratischen Durchsetzung verweist. Indem „Reichsbürger“ rechtliche Formen und Begründungen – in einer, aus Sicht von Behörden oder auch soziologischen BeobachterInnen, karikaturhaften Art und Weise – kopieren, versuchen sie, sich die Autorität des Rechts anzueignen. Dabei nutzen sie, ob gewollt oder ungewollt, die Kontingenz eines verfahrensförmig legitimierten Rechts, das naturrechtliche Geltungsansprüche hinter sich gelassen hat.

15:00
Katharina van Elten (Ruhr-Universität Bochum, Germany)
Britta Rehder (Ruhr-Universität Bochum, Germany)
Legal Tech und Dieselgate: Wie die Digitalisierung ‚Eurolegalism‘ vorantreibt

ABSTRACT. Der Beitrag beschäftigt sich mit der Auswirkung von ‚legal technology‘ auf das deutsche Rechtssystem und die damit einhergehende Justizialisierung der Interessenvermittlung. Recht und digitale Rechtsmobilisierung haben in der Interessenvermittlung stark an Bedeutung gewonnen. Anwaltskanzleien und neue Rechtsdienstleister machen sich zunehmend digitale Instrumente zunutze, die auf eine Klägermobilisierung abzielen und eine Veränderung der (Klage-)Kultur einleiten. Dies wird auch von Interessengruppen oder zivilgesellschaftlichen Akteuren genutzt. Die digitale Prüfung von Beschwerden (etwa bzgl. Bußgeldern, Schadenersatzansprüchen) oder Klagemöglichkeiten ist inzwischen über online-tools ein Massengeschäft geworden, das den potenziellen Klienten einen niedrigschwelligen und kostenlosen Service anbietet und so teilweise Klage- und Widerspruchswellen produziert. Damit verbunden ist auch eine strukturelle Änderung in den Kanzleien. Erstens ist eine Entpersonalisierung der juristischen Beratung zu beobachten, so dass Kanzleien mehr IT- als juristisches Fachpersonal beschäftigen. Zweitens etablieren sich Rechtsdienstleister, die sich durch (ausländische) Investoren finanzieren und deren Geschäftsmodell sich auf die Mobilisierung von Massen- und Musterklagen und prozentuale Beteiligung am ausgehandelten Schadensersatz stützen. Die Klagewelle im Gefolge des Dieselgate-Skandals in der deutschen Automobilindustrie ist dafür ein prominentes Beispiel. Dies impliziert einen erleichterten individuellen und quasi-kollektiven Zugang zum Rechtssystem als Arena der Interessenvermittlung, der auch Folgen im Bereich der politischen Regulierung zeigt: so wird in den Justizministerien seit längerem über eine Erweiterung der kollektiven Klagerechte diskutiert. Die Entwicklungen verweisen auch auf die intensiv diskutierte Debatte, ob und in welchem Umfang europäische Rechtssysteme einen ‚Eurolegalism‘ in Anlehnung an das amerikanische Modell des ‚Adversarial Legalism‘ adaptieren. Mit einer Entwicklung zum Eurolegalism gewinnt das Rechtssystem im Vergleich zur politischen Arena der Konfliktregulierung an Bedeutung. Die Digitalisierung der Justizialisierung eröffnet sowohl Non-Profit-Organisationen und Verbänden als auch gewerblichen Rechtsdienstleistern neue Möglichkeiten, Interessen zu bündeln und juristisch zu vertreten und so den Prozess des Eurolegalism voran zu treiben.

15:15
Maria Seitz (Freie Universität Berlin, Germany)
ENTFÄLLT. Subjektiver Rechtsschutz und Kollektivitäten - Geschlechtergleichstellung zwischen staatlicher und kollektiver Verantwortung

ABSTRACT. Abgesagt.

14:30-16:00 Session 2E: Lex Sportiva (Track 9)

Organisiert von Gralf-Peter Calliess

Als Lex Sportiva wird das selbstgeschaffene Recht der internationalen Sportverbände, also eine transnationale, nicht-staatliche, und in diesem Sinne private Rechtsordnung mit Geltungsanspruch jenseits des Nationalstaates, bezeichnet. Private Regelwerke wie die FIFA Transfer Rules oder hybride Regelungen wie der World Anti Doping Code werden vom Sportschiedsgericht CAS in relativer Autonomie und ohne Rücksicht auf nationale Besonderheiten angewendet. Die Schiedssprüche werden mit Verbandsstrafen wie Doping-Sperren oder Zwangsabstieg durchgesetzt. Ob und unter welchen Bedingungen diese private Rechtsdurchsetzung im Hinblick auf betroffene Grundrechte und Grundfreiheiten hingenommen werden kann, hat die nationale Rechtsprechung immer wieder beschäftigt, zuletzt etwa den Bundesgerichtshof in den Entscheidungen Pechstein und SV Wilhelmshaven. Für die Lex Sportiva streitet dabei das Bedürfnis nach Schaffung eines weltweiten 'level playing field'. Eine Grenze dürfte freilich in der Einhaltung international zwingender Normen des Allgemeinwohls liegen. Wie etwa der FIFA-Korruptionsskandal zeigt, ist es durchaus fraglich, inwieweit sich der autonome Weltsport im Sinne der These der Eigenkonstitutionalisierung auf die Einhaltung eines 'ordre public transnational' zu verpflichten in der Lage ist.

Chair:
Gralf-Peter Calliess (Universität Bremen, Germany)
Location: HS 118 (1. OG)
14:30
Mark Pieth (Universität Basel - Basel Institute of Governance, Switzerland)
Governance - Chancen der Selbstverfassung?

ABSTRACT. Aus der Governance-Perspektive beschäftigt sich der Autor mit der Fähigkeit (bzw. Befähigung durch Beratung) privater Organisationen, durch interne institutionelle Reformen die Einhaltung international zwingender Normen sicherzustellen. Aus seiner langjährigen Erfahrung unter anderem als Vorsitzender der unabhängigen Kommission für Governance bei der FIFA von 2011 bis 2013, nimmt er zu den Möglichkeiten und Grenzen der Selbstkonstitutionalisierung von Sportverbänden Stellung.

14:45
Antoine Duval (Asser Institute for European and International Law in The Hague, Netherlands)
Counter-democratizing the Lex Sportiva: The role of EU law and institutions

ABSTRACT. This paper builds on Pierre Rosanvallon's political theory to argue that EU law plays a vital counter-democratic function vis-à-vis the lex sportiva. I focus on procedures challenging the private rules of Sports Governing Bodies (SGBs) in front of the CJEU and the European Commission to show that they constitute a type of constitutional control on the transnational authority exercised by the SGBs. More precisely, they allow for the expression of distrust vis-à-vis the SGBs and for the emergence of a duty of justification for their norms and decisions.

15:00
Christoph Möller (Universität Bremen, Germany)
Die Eigenverfassung der Lex Sportiva

ABSTRACT. Im Sinne der Autokonstitutionalisierungsthese wird in diesem Beitrag beschrieben, wie sich die Lex Sportiva in den drei Dimensionen der Rechtsetzung, der Rechtssprechung und der Rechtsdurchsetzung als transnationales Rechtsregime konstituiert, um in einem zweiten Schritt anhand aktueller Rechtsprechung der Frage nachzugehen, ob die Lex Sportiva Tendenzen zur Selbstkonstitutionalisierung im Hinblick auf Grundrechte und Grundfreiheiten der Rechtsunterworfenen sowie im Hinblick auf Allgemeinwohlbelange zeigt.

14:30-16:00 Session 2F: Fehlerquellen und Fehlurteile im Strafverfahren (General Papers)

Organisiert von Jens Puschke and Tobias Singelnstein

Das Strafrecht als "schärfstes Schwert des Staates" zieht sowohl rechtstheoretisch als auch rechtstatsächlich einen erheblichen Teil seiner Legitimation aus der besonders strengen Form des Strafverfahrens. Strafrechtliche Verurteilung und Sanktionierung sollen nur nach besonders gründlicher Prüfung erfolgen, Fehlurteile so weit wie möglich vermieden werden. Fehler bei der Rechtsanwendung können das Vertrauen in die Strafrechtspflege erschüttern, eine hohe Fehlerquote stellt das strafrechtliche System insgesamt in Frage. Dogmatik, Justiz und Öffentlichkeit sehen Fehlurteile zumeist eher als theoretische Möglichkeit an, der durch eine konsequente Anwendung der bestehenden Vorgaben für ein rechtsstaatliches Strafverfahren begegnet werden könne. Rechtssoziologisch betrachtet ist es hingegen eine Selbstverständlichkeit, dass auch im Strafrecht Fehlentscheidungen keine nur ganz seltene Erscheinung sind. In der jüngeren Vergangenheit wurden z.B. die Verfahren gegen Gustl Mollath und Harry Wörz besonders medienwirksam erörtert. Empirisch kann als gesichert gelten, dass ein erheblicher Teil strafrechtlicher Urteile fehlerhaft ist, wenngleich die insofern angenommenen Größenordnungen divergieren. Neben individuellen Fehlern lassen sich bestimmte Fehlerquellen identifizieren, die besonders häufig zu falschen Urteilen führen. Darüber hinaus können bestimmte, teilweise auch im Recht angelegte, "Einfallstore" für Fehlentscheidung - z.B. Absprachen im Strafverfahren, unüberprüfbare Einstellungsentscheidungen der Staatsanwaltschaft, Confirmation Bias - eine systematische Entscheidungsfindung außerhalb rechtsstaatlicher Prinzipien befördern. In dem Panel sollen Fehlerquellen im Strafverfahren, Methoden zur Feststellung und Untersuchung von Fehlurteilen sowie die Auswirkungen von Fehlern auf das Recht, seine Anerkennung und Funktion thematisiert werden.

Chairs:
Jens Puschke (Philipps-Universität Marburg, Germany)
Tobias Singelnstein (Ruhr-Universität Bochum, Germany)
Location: HS 119 (1. OG)
14:30
Fredericke Leuschner (Kriminologische Zentralstelle, Germany)
Fehlurteile mit Folgen: Ergebnisse einer empirischen Untersuchung von zu Unrecht inhaftierten Personen in Deutschland

ABSTRACT. Fehlurteilsforschung wurde in der deutschen Kriminologie – anders als in den USA – lange Zeit wenig Beachtung geschenkt. Die vorgestellte Studie versucht erstmals, sich dem Thema empirisch zu nähern. Es wurden sämtliche zugängliche Fälle seit 1990, in denen Personen eine Freiheitsstrafe (teilweise) verbüßten und später in einem erfolgreichen Wiederaufnahmeverfahren freigesprochen wurden, ermittelt und ausgewertet. Die Daten wurden durch eine ausführliche Aktenanalyse erhoben. Einerseits gibt die vorliegende Studie Hinweise auf die Häufigkeit dieser Teilgruppe von Fehlurteilen. Andererseits bieten die erhobenen Details die Möglichkeit, die Fälle mit der bisherigen internationalen Fehlurteilsforschung abzugleichen und dadurch Besonderheiten und Gemeinsamkeiten zu identifizieren. Es werden potentielle Fehlerquellen im deutschen Strafrecht herausgearbeitet und mit den bisher in der Literatur diskutierten gegenübergestellt.

14:45
Ralf Kölbel (Ludwig Maximilian University of Munich, Germany)
Methodische Grundlagen und Probleme der Fehlurteilsforschung

ABSTRACT. Die Erforschung von Fehlurteilen im Strafverfahren (Prävalenz, Entstehungsverläufe, Risikofaktoren, Folgen, Verarbeitungsformen usw.) ist im deutschen Sprachraum derzeit - nach einer langen Unterbrechung - wieder in Entwicklung begriffen. Profitieren kann diese junge Forschungslinie von den Erfahrungen in den USA. Der Beitrag stellt daher die dort eingesetzten Methodiken einschließlich ihrer methodologischen Grenzen und Möglichkeiten dar. Sichtbar wird dabei, dass es in diesem Forschungsbereich auf absehbare Zeit nur (aber immerhin) second-best-Ansätze geben wird. Insbesondere soll diskutiert werden, ob und wie diese in der deutschsprachigen Justizforschung umsetzbar sind.

15:00
Stefanie Kemme (University of Applied Police Sciences, Germany)
Barbara Dunkel (University of Hamburg, Germany)
Gründe für justizielle Fehlentscheidungen – Ergebnisse einer Aktenanalyse in der Freien und Hansestadt Hamburg

ABSTRACT. In Deutschland wurden Fehlentscheidungen zuletzt intensiv von Peters im Rahmen einer Analyse von Akten der Jahre 1951 bis 1964 untersucht. Zwar wurden seine Daten zum Teil von anderen Forschern reanalysiert, darüber hinaus hat es aber in Deutschland kaum speziell auf Fehlurteile fokussierte empirische Arbeiten gegeben. Anders sah es in der sich stark entwickelnden Rechtspsychologie aus. So sind über psychologische Risikofaktoren, die zu Fehlurteilen führen können, und ihre Mechanismen (bspw. false confessions) einige Studien vorhanden. Der nachfolgende Beitrag wird einige wichtige psychologische Risikofaktoren vorstellen. Wie oft diese Faktoren allerdings dazu beitragen, dass konkret Fehlentscheidungen getroffen werden, kann nicht abgeschätzt werden. Die vorhandene Forschungslücke hat Anlass zu der aktuell in Hamburg stattgefundenen Aktenanalyse von Wiederaufnahmeverfahren der Jahre 2001 bis 2015 geführt. Auf Basis dieser Stichprobe wird untersucht, welche Erkenntnisse über psychologische Risikofaktoren gewonnen werden können. Abschließend sollen methodische Zugänge, die Hinweise auf das Ausmaß von zu Fehlentscheidungen führenden Faktoren liefern können, kritisch hinterfragt.

15:15
Ingke Goeckenjan (Ruhr-Universität Bochum, Germany)
Fehlerquellen im Strafverfahren

ABSTRACT. Psychologische Erkenntnisse über Fehler im Denken und Urteilen werden immer stärker auch in der Straf(prozess)rechtswissenschaft rezipiert. Als besonders relevante Verzerrungen erweisen sich vor allem der Bestätigungsfehler (confirmation bias), der Rückschaufehler (hindsight bias) und der Ankereffekt (anchoring effect). In diesem Beitrag werden die genannten Verzerrungen in ihrer Phänomenologie unter Berücksichtigung methodischer Zugangswege vorgestellt und in ihrer Bedeutung für das Strafverfahren reflektiert. Zugleich soll untersucht werden, inwiefern auch mithilfe experimenteller Untersuchungsdesigns valide Erkenntnisse für die strafjustizielle Praxis generiert werden können.

16:00-16:30Kaffeepause
16:30-18:00 Session 3A: 100 Jahre gegen das Recht - Die Argumente der Rechtskritik gestern und heute II (Track 1)

Organisiert von Christian Schmidt and Benno Zabel

Fortsetzung von Panel 2A

Chair:
Benno Zabel (Universität Bonn, Germany)
Location: HS 114 (1. OG)
16:30
Herlinde Pauer-Studer (Universität Wien, Austria)
Die Rechtsverschiebungen im NS

ABSTRACT. In meinem Panel-Beitrag gebe ich zunächst einen kurzen Überblick über die maßgeblichsten Verschiebungen im Rechtssystem der NS-Zeit. Dann gehe ich genauer auf die von den NS-Juristen postulierte Einheit von „Recht, Moral und Politik“ ein. Abschließend skizziere ich die Konsequenzen, die sich daraus für eine rechtsstaatlich fundierte Rechtskonzeption und eine angemessene Sicht des Verhältnisses von Recht, Moral und Politik ergeben.

16:45
Christian Schmidt (Universität Leipzig, Institut für Philosophie, Germany)
Politisierungen des Rechts

ABSTRACT. Ich beginne den Vortrag mit der Rekonstruktion von drei aktuellen Vorschlägen, das Recht für politische Einflüsse zu öffnen, die sich bei Daniel Loick, Christoph Menke und Andreas Fischer Lescano finden lassen. In einem zweiten Schritt konfrontiere ich diese Ansätze mit Versuchen einer Politisierung bzw. Aufhebung des Rechts im frühen Sowjetrussland, um dann in einem dritten Schritt mit einem Seitenblick auf das Rechtsverständnis im Nationalsozialismus, Bedingungen zu formulieren, denen eine Politisierung des Rechts genügen müsste, um den Gefahren zu entgehen, die sich am sowjetischen Beispiel bereits gezeigt haben. In einem vierten Schritt möchte ich abschließend diskutieren, ob angesichts der gewonnenen Bedingungen eine Politisierung des Rechts überhaupt möglich ist und ob sie die Hoffnungen erfüllen kann, die in sie gesetzt werden.

16:30-18:00 Session 3B: Kann Recht die polizeiliche Techniknutzung wirksam begrenzen und steuern? (Track 3)

Organisiert von Hartmut Aden and Clemens Arzt 

Neue technische Entwicklungen stellen das Rechtssystem vor die Herausforderung, entweder bestehende Strukturen und Regelungen im Wege der Auslegung auf die neuen Entwicklungen anzuwenden oder das Recht durch gesetzgeberische Eingriffe anzupassen. Die technische Entwicklung hat gegenüber den Anpassungen im Rechtssystem dabei in der Regel einen erheblichen zeitlichen Vorsprung. Wenn die Techniknutzung mit Grundrechtseingriffen verbunden ist, machen die rechtsstaatlichen Anforderungen an die Bestimmtheit von Eingriffsnormen oftmals gesetzgeberische Maßnahmen erforderlich. Dennoch tendieren gerade Sicherheitsbehörden dazu, neue technische Möglichkeiten zunächst zu nutzen und sich erst später – manchmal erst nach Klageverfahren Betroffener – über die nötigen rechtlichen Eingriffsbefugnisse und rechtsstaatlichen Eingrenzungen Gedanken zu machen. Die Beiträge des Panels, die auf laufenden Forschungsprojekten beruhen, gehen der Frage nach, ob und ggf. wie Recht die polizeiliche Nutzung neuer technischer Möglichkeiten wirksam steuern und rechtsstaatlich begrenzen kann.

Chairs:
Hartmut Aden (Berlin School of Economics and Law, Germany)
Clemens Arzt (Hochschule für Wirtschaft und Recht/ Forschungsinstitut für Öffentliche und Private Sicherheit (FÖPS Berlin), Germany)
Location: HS 115 (1. OG)
16:30
Viktoria Rappold (Hochschule für Wirtschaft und Recht/ Forschungsinstitut für Öffentliche und Private Sicherheit (FÖPS Berlin), Germany)
Clemens Arzt (Hochschule für Wirtschaft und Recht/ Forschungsinstitut für Öffentliche und Private Sicherheit (FÖPS Berlin), Germany)
Polizeiliche Detektion unkonventioneller Spreng- und Brandvorrichtungen – neue Technik, neue Befugnisse?

ABSTRACT. Immer wieder werden an öffentlichen Orten wie bspw. Bahnhöfen Objekte aufgefunden, die von der Polizei auf so genannte unkonventionelle Spreng- und Brandvorrichtungen (USBV) überprüft werden. Zu diesem Zweck wird im deutschen Konsortium des mit Österreich betriebenen bilateralen BMBF-Verbundprojekt DURCHBLICK seit 2017 eine robotergestützte Kombination berührungsloser Detektionsverfahren entwickelt, die auf Röntgenrückstreu- und Röntgentransmissionstechnologie, Millimeterwellenstrahlung sowie Sensorik zur Identifikation von Radioaktivität beruht und durch optische Verfahren ergänzt wird.

Der Einsatz der untersuchten Detektionstechnologien macht Informationen über die Beschaffenheit und den Inhalt des aufgefundenen Objekts „sichtbar“, die auch „personenbezogene Daten“ beinhalten können und damit in den Schutzbereich des Grundrechts auf informationelle Selbstbestimmung wie auch des europäischen und deutschen Datenschutzrechts fallen.

Die präventiv-polizeilich zur Gefahrenabwehr gegen mögliche USBV gewonnen personenbezogenen Daten, deren Weiterverarbeitung und Nutzung sowie eine mögliche spätere repressiv-polizeiliche (strafprozessuale) Verwendung sind nur zulässig, wenn die Polizei hierzu durch eine hinreichend bestimmte, die betroffenen Grundrechte ausreichend schützende Eingriffsbefugnis berechtigt ist. Das Gesetz muss also klar festlegen, wann eine Durchleuchtung stattfinden darf und welche gesetzlichen Rahmenbedingungen bei der Informationserhebung zu beachten sind.

16:45
Jan Fährmann (Hochschule für Wirtschaft und Recht/ Forschungsinstitut für Öffentliche und Private Sicherheit (FÖPS Berlin), Germany)
Hartmut Aden (Berlin School of Economics and Law, Germany)
Polizeiliche Nutzung von Tracking-Daten - ermöglichen oder begrenzen?

ABSTRACT. Die Nutzung von Geolokalisierung, zumeist über das Global Positioning System (GPS), prägt im Zeitalter mobiler IT-Geräte (Smartphone, Tablet-Computer, Smart Watches usw.) zunehmend das Alltagsleben vieler Menschen. Die anfallenden Daten sind auch für die polizeiliche Gefahrenabwehr und Strafverfolgung interessant. Sie werden z.B. für längerfristige Observationen genutzt. Aber können und dürfen diese Daten auch verwendet werden, um im Interesse des Geschädigten Diebesgut wiederzufinden, z.B. ein gestohlenes Fahrrad? Wie lassen sich Tracking-Daten, die Geschädigte mit ihren eigenen Geräten „produzieren“ so an die Polizei übertragen, dass die rechtsstaatlichen Absicherungen nicht in Frage gestellt werden? Der Beitrag basiert auf dem Projekt FindMyBike, in dem diese Fragen derzeit untersucht werden.

17:00
Susanne Schuster (Hochschule für Wirtschaft und Recht/ Forschungsinstitut für Öffentliche und Private Sicherheit (FÖPS Berlin), Germany)
Clemens Arzt (Hochschule für Wirtschaft und Recht/ Berlin School of Economics and Law, Germany)
Polizeiliche Drohnendetektion und -abwehr – zugleich ein Mittel der Einschüchterung?

ABSTRACT. Das Bundesverwaltungsgericht hat 2017 die Einschüchterungswirkung staatlicher Überwachungsmaßnahmen durch Überflug eines Tornados über einem Protestcamp bejaht. Urteile der Verwaltungsgerichte schreiben der Videoüberwachung im öffentlichen Raum und bei Versammlungen ein hohes Einschüchterungspotential zu. Der zunehmende Einsatz von Bodycams und der automatisierten Gesichtserkennung wird nach vergleichbaren Maßstäben zu beurteilen sein.

Der Einsatz technischer Mittel durch die Polizei steht zunehmend im Zentrum ihrer Maßnahmen. Ein Grundrechtseingriff wird dabei bejaht, wenn staatliches Handeln geeignet ist, die Handlungsfreiheit, freie Willensbildung oder Meinungsäußerung zu beeinflussen. Maßnahmen der Datenverarbeitung wirken dabei oft subtil und indirekt über den Mechanismus der Einschüchterung.

In diesem Umfeld werden im BMBF-Forschungsprojekt AMBOS polizeiliche Maßnahmen zur Abwehr unbemannter Flugsysteme (Drohnen) durch die Polizei untersucht. Hier werden u.a. optische und akustische Aufnahmen verschiedener Art zur Detektion gefertigt. Die Möglichkeit einer Erhebung personenbezogener Daten im Rahmen dieser Detektionsmaßnahmen kann dazu führen, dass Anwesende sich veranlasst sehen, ihr Verhalten an die (vermeintliche) Überwachungssituation anzupassen oder auf die Ausübung ihrer Grundrechte zu verzichten. Die Bereitstellung und der Einsatz von Störsendern und Netzwerfern können in diesem Rahmen weiter einschüchternd wirken.

17:15
Hartmut Aden (Berlin School of Economics and Law, Germany)
Interoperabilität polizeilicher Datenbanken und Datenschutz

ABSTRACT. Lange Zeit galt die Trennung von Datenbeständen bei Sicherheitsbehörden als eine Art Privacy by Design: Die Trennung erleichterte die Beschränkung des Zugriffs auf diejenigen Stellen, die diese Informationen wirklich für die Erfüllung ihrer Aufgaben benötigen. Diese Trennung ist seit einiger Zeit unter Druck geraten. Erweiterte technische Möglichkeiten machen die Suche nach Zusammenhängen über mehrere Datenbestände hinweg attraktiv. Fälle, in denen Sicherheitsbehörden aufgrund der Fragmentierung ihrer Informationsbestände Lagen und Zusammenhänge unzutreffend einschätzten, z.B. hinsichtlich der Gefährlichkeit von Personen, die mit Terrorismus in Verbindung gebracht werden, haben zu dieser Entwicklung beigetragen. National und in der EU ist die „Interoperabilität“ von Datenbeständen damit zu einem bedeutenden Thema geworden. Der Beitrag diskutiert die Frage, ob die bisherigen Ansätze für die rechtliche Steuerung der polizeilichen Datennutzung durch diese Interoperabilität obsolet wird und welche neuen Steuerungsansätze für eine interoperable Datennutzung durch Recht wie durch Privacy by Design entwickelt werden können.

16:30-18:00 Session 3C: Aktuelle Ansätze der Justizforschung: Moral, Emotion, Aktivismus (Track 5)

Organisiert von Tobias Eule

Chair:
Tobias Eule (Universität Bern, Switzerland)
Location: HS 117 (1. OG)
16:30
Lisa Marie Borrelli (Institute of Sociology, Bern University, Switzerland)
Zwischen Diskursdruck und Gleichgültigkeit: Migrationsrechtliche Entscheidungen in Schwedischen Strafgerichten

ABSTRACT. Aktuelle Debatten um Migration bewegen sich zwischen Aufforderung zu humanitären Integrationsstrategien und Kriminalisierung, welche eine Dualität von erwünschten und unerwünschten Migranten erzeugt. Wie genau diese moralisierenden Debatten auf Recht einwirken und von Rechtsanwendern aufgenommen und gegebenenfalls in täglichen Entscheidungen eingebettet sind, ist bisher wenig geforscht. Der Beitrag befasst sich dementsprechend mit emigrationsrechtlichen Entscheidungen von schwedischen Strafgerichten, welche innerhalb des Strafurteils ebenfalls über den Entzug der Aufenthaltserlaubnis bestimmen.

16:45
Anne Kneer (Universität St. Gallen, Switzerland)
Das «losgelöste» Asylverfahren: Juristische Beobachtungen und Risiken des gesetzgeberischen Aktivismus im Asylgesetz

ABSTRACT. In kaum einem anderen Verwaltungsverfahren treffen derart viele Gegensätzlichkeiten und Spannungsverhältnisse zusammen, wie dies im Asylverfahren der Fall ist. Zum einen wurde das Asylgesetz (AsylG) und dessen Vorgängergesetze, unaufhörlich kritisiert und revidiert. Die diversen Änderungen des Asylgesetzes zum einen und die vergleichsweise hohe Beständigkeit des Verwaltungsverfahrensgesetzes (VwVG) als Hauptgrundlage des asylrechtlichen Beschwerdeverfahrens zum anderen, stellen Praktiker und Praktikerinnen des Asylrechts immer wieder vor die Herausforderung, den Überblick über die geltenden Bestimmungen und die mit den Revisionen verbundenen Zusammenhänge und Veränderungen zu behalten. Zudem ist das Asylrecht und insbesondere das Asylverfahrensrecht unbestrittenermassen zu den Verwaltungsverfahren des Bundes zu zählen. Nichts desto trotz erscheint das Asylverfahren oftmals anders als das übrige Verwaltungsverfahren. Auch die grosse Aufmerksamkeit seitens der Politik, welche die Maximen der Verfahrensbeschleunigung und der Prozessökonomie jeweils ins Zentrum rückt, demgegenüber Aspekte der Qualität und Sorgfalt gegenüber stehen, unterstreicht diesen prima vista Eindruck der Spezialität des Asylrechts.

So ist festzustellen, dass sich das Asylverfahren im Vergleich zu anderen Bundesverwaltungsverfahren durch viele (oft schnelllebige) Spezialverfahrensbestimmungen auszeichnet. In der Lehre wurde dieser Umstand bereits als unbedachter Aktionismus kritisiert, welcher die Frage aufwerfe, mit welcher Ernsthaftigkeit der Gesetzgeber das öffentliche Prozessrecht gestalte.

Der Panelbeitrag hat zum Ziel, Abweichungen des Asylverfahrens vom Allgemeinen Verwaltungsverfahren zu untersuchen. Dabei soll die Frage beantwortet werden, ob diese Abweichungen vom Allgemeinen Verwaltungsverfahrensrecht durch spezifische Eigenschaften des Asylverfahrens gerechtfertigt sind.

17:00
Friederike Bahl (Hamburger Institut für Sozialforschung, Germany)
Neue Prüfsteine richterlicher Unabhängigkeit? - Welche Theorieangebote zur richterlichen Entscheidungspraxis kann die Emotionssoziologie anbieten

ABSTRACT. Justizforschung ist stets mit der doppelten Frage befasst: Wie weit reicht die Autonomie des Rechts und was macht die Richterschaft mit diesem institutionellen Puffer ihrer Unabhängigkeit? Angefangen von den Einflüssen der sozialen Herkunft von Richtern auf ihre Entscheidungspraxis bewegt sich die Diskussion heute in Richtung Emotionsmanagement im Gerichtssaal. Zu prüfen, was eine solche emotionssoziologische Perspektive für die Justizforschung leisten kann, steht im Zentrum des Beitrags.

17:15
Tobias Eule (Universität Bern, Switzerland)
Diplomatie und Alltag: Zur Beforschung internationaler Streitschlichtungsverfahren

ABSTRACT. Internationale Streitschlichtungsverfahren - zwischen Staaten und/oder Unternehmen/Investoren - gehören zu den etablierten Konfliktlösungsmitteln in einer globalisierten Welt. Um diese Verfahren hat sich in den letzten Jahren eine rege Industrie aus Praktiker*innen, Studiengängen, Zeitschriften und Forschenden entwickelt. Gleichzeitig zeigen aktuelle Daten, dass diese Verfahren unterschiedlich (wenig) genutzt werden. Aufbauend auf bestehenden empirischen Ergebnissen entwickelt dieser Beitrag ein Forschungsprogramm zur Beforschung internationaler Streitschlichtungsverfahren. Dabei werden sowohl auf aktuelle Entwicklungen in (vorwiegend nationaler) Justizforschung als auch der soziologischen Diplomatie- und Verhandlungsforschung berücksichtigt.

16:30-18:00 Session 3D: Innovation und Konflikt im Sozialrecht (Track 4)

Organisiert von Gesine Fuchs

Chair:
Gesine Fuchs (Hochschule Luzern, Switzerland)
Location: HS 116 (1. OG)
16:30
Enrico Gragnoli (Università degli studi di Parma, Italy)
The introduction of the so-called citizenship income in Italy. New laws on individual protection?

ABSTRACT. A discussion of the strengthening or weakening of the regulatory system related to the protection of workers in the welfare state was reflected in the Italian debate of the last months on a general protection related to citizenship, with the granting of a minimum income regardless of the carrying out of any professional activity. The readjustment inherent in income protection tries to help a break in life, with consequent anxiety and suffering for family lot. The debate on the “citizenship income” invokes an answer that goes beyond the ability of lobby groups to impose partial solutions. The starting point should be justice, a crucial question on how resources should be redistributed. We can ask ourselves: a. does another law integrating the complex framework of those already existing in Italy on protection forms make sense? b. is citizenship sufficient to justify the distribution of resources? c. shall protection against poverty be guaranteed to anyone even without a minimum contribution to the overall social action? d. does the introduction of the citizenship income free people from need or boost social passivity? e. does the citizenship income complete distributive justice or lead to maximum injustice against active people? f. are we debating on the social state ultimate simplification (freedom from need for all) or the realization of maximum inequality (active people financing those who do not care about working)? g. does talking about citizenship for those who do not care about working make sense?

16:45
Susanne Dern (Hochschule Fulda, Germany)
Simone Kreher (Hochschule Fulda, Germany)
Fetischisierung des Rechts oder wie Mehrpersonenbedarfsgemeinschaften Recht erleben?

ABSTRACT. Der Beitrag problematisiert das Rechtsempfinden von SGB II-beziehenden Familien auf der Grundlage eines Forschungsprojektes zu den „Lebenszusammenhängen in Mehrpersonenbedarfsgemeinschaften“ . Obgleich nicht als Rechtstatsachenforschung angelegt, offenbaren die empirischen Analysen eine Erosion, Neukonfiguration oder Aberkennung subjektiver Rechte. So erhalten auch als arm geltende Familien grundgesetzlich verbürgt besonderen Schutz und Unterstützung, der unter anderem im Existenzsicherungsrecht umgesetzt werden soll. Zugleich erfahren sie unter den Augen der Mehrheitsgesellschaft und sekundiert von einem doppelbödigen politisch-medialen Diskurs genau das Gegenteil – ihre Besonderung als Familien, die mittels der Rechtsinstrumente des SGB II reglementiert und kontrolliert werden. Im Dialog von kritischem Sozialrecht und familialer Armutsforschung fragen wir, ob und inwiefern hier von einer Fetischisierung des Rechts gesprochen werden muss.

17:00
Ulrike A. C. Müller (Universität Kassel, Graduiertenkolleg Wohlfahrtsstaat und Interessenorganisationen, Germany)
Protest, Stigma und Rechtsstreit: Die konfliktkonservierende Funktion von SGB-II-Mobilisierung

ABSTRACT. Das gesellschaftliche Machtverhältnis der Klasse findet sich fundamental im Recht, etwa im Schutz des Eigentums und in der Vertragsfreiheit. Mit subjektiven sozialen Rechten ist jedoch auch ein – begrenzter – Ausgleich dieses ökonomischen Machtverhältnisses ins Recht eingespeist worden. Die sozialen Rechte, die vor Erwerbslosigkeit und Erwerbsarmut schützen, ssind in Deutschland seit der Agenda 2010 gesellschaftlich umkämpft: Auf politischen Protest im Gesetzgebungsprozess folgte eine extrem hohe Zahl an Klagen. Anhand von qualitativen Interviews mit Kläger_innen wird die Bedeutung dieser vielfachen Rechtsmobilisierung für die politische Mobilisierung um soziale Sicherung herausgearbeitet. Die Interviews wurden 2015 mit SGB II-Kläger_innen in den Räumen Halle und Kassel geführt. Sie zeigen eine konfliktkonservierende Funktion von Sozialrechtsmobilisierung auf: Wo in Bezug auf die politische Thematisierung Resignation vorherrschte, wurde die rechtliche Konfliktbearbeitung sowohl mit Resignation als auch mit Empörung verbunden. Wo politische Foren als unzugänglich und stigma-verhaftet beschrieben wurden, wurde die Sozialgerichtsbarkeit als ansprechbare und neutral-kontrollierende Instanzen erlebt. Die materielle und gerade auch die prozessuale Verrechtlichung von sozialer Sicherheit stellt ein Mindestmaß an gesellschaftspolitischer Debatte her. In Bezug auf Erwerbslosigkeit und -armut als Element von Klassenverhältnissen wirkt Rechtsmobilisierung gegenwärtig neutraler als politische Mechanismen.

17:15
Michael Wrase (Universität Hildesheim/Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung, Germany)
Evidenzbasierte Gesetzgebung im sozialpolitischen Bereich: Ein Weg zu mehr sozialem Ausgleich?

ABSTRACT. In Deutschland hat sich die Bundesregierung dazu bekannt, größeres Gesetzesvorhaben nach einer gewissen Zeit evaluieren zu lassen. Die Gesetzesfolgenabschätzung soll ausgebaut werden, um Wirkungen von Gesetzen besser zu erfassen und zielgerichteter in gesellschaftliche Prozesse zu intervenieren. Das betrifft vor allem auch den sozialpolitischen Bereich. Dennoch gelingt es anscheinend immer weniger, durch sozialpolitische Maßnahmen mehr berufliche und gesellschaftliche Teilhabe zu ermöglichen und einen sozialen Ausgleich herzustellen. Ganze Schichten der Bevölkerung partizipieren nicht (mehr) in ausreichendem Maß an der wirtschaftlichen Entwicklung, bleiben auf Sozialleistungen angewiesen und weisen zudem eine sehr geringe Partizipation am politischen Entscheidungsprozessen (zB durch Teilnahme an Wahlen) auf. Warum gelingt es der Sozialgesetzgebung trotz GFA, Evaluierungen und wissenschaftliche Beratung nicht, die Lebensverhältnisse sozial benachteiligter Gruppen zu verbessern? Ist eine evidenzbasierte Gesetzgebung überhaupt in der Lage, sozialen Benachteiligungen und Ungleichheiten entgegenzuwirken? Was sind die Hindernisse? Mit diesen Fragen möchte ich mich in meiner Präsentation auseinandersetzen und dabei die Möglichkeiten und Grenzen evidenzbasierter Gesetzgebung im sozialpolitischen Bereich aufzeigen.

16:30-18:00 Session 3E: Abschaffung des Rechts durch Alternativen zum Recht – sinkende Prozesszahlen, steigende Bedeutung aussergerichtlicher Streitschlichtung? (Track 9)

Organisiert von Walter Fuchs

In Deutschland und Österreich geht die Häufigkeit von Prozessen seit einigen Jahren deutlich zurück. Gleichzeitig ist – nicht auf nationaler Ebene – eine Ausdifferenzierung vielfältiger außergerichtlicher Streitschlichtungsverfahren zu beobachten. Wird das formelle Recht, in dem es solche Möglichkeiten zulässt und gleichzeitig hohe Anforderungen an die Durchführung von Prozessen vor staatlichen Gerichten stellt, zum Hindernis für die Durchsetzung des materiellen Rechts?

Chair:
Kurt Pärli (University of Basel, Switzerland)
Location: HS 118 (1. OG)
16:30
Walter Fuchs (Institut für Rechts- und Kriminalsoziologie, Austria)
Prozessebbe? Auf der Suche nach Gründen für die sinkende Nachfrage nach streitiger Ziviljustiz

ABSTRACT. In Deutschland und Österreich ist die Nachfrage nach streitigen Zivilverfahren in den letzten zwei Jahrzehnten deutlich gesunken. Drohte in den 1980er Jahren noch eine "Prozessflut", die damals Forschungen und Diskussionen über "Verrechtlichung" ausgelöst hatte, scheinen der Justiz gegenwärtig ihre Fälle abhanden zu kommen. Diese Situation hat nicht nur kritische rechtsstaatliche Implikationen, sondern wirft auch grundlegende rechtssoziologische Fragen auf. Der Beitrag nimmt mögliche Ursachen des Phänomens in den Blick. Es wird danach gefragt, welche Rolle justizinterne oder aber weitere wirtschaftliche und gesellschaftliche Bedingungsfaktoren spielen könnten. Zudem wird auf die Bedeutung von - nicht auf nationale Rechtsordnungen beschränkte - "Alternativen" zur Justiz (z.B. Mediation, Alternative Dispute Resolution) eingegangen. Anhand ausgewählter Daten aus Österreich wird gezeigt, dass die Klagehäufigkeiten nicht für alle Verfahrensgegenstände gleichermaßen zurückgehen. Abschließend wird dafür plädiert, dem Thema der Mobilisierung von Zivilgerichten in der Rechtssoziologie wieder mehr Aufmerksamkeit zu schenken.

16:45
Karin Sonnleitner (Karl-Franzen-Universität Graz, Austria)
Außergerichtliche Streitschlichtung: Salonfähig? Beständig? Wirksam?

ABSTRACT. Böhm konstatierte bereits 2001, dass Mediation und außergerichtliche Streitschlichtung in Österreich salonfähig geworden sind. Die Vermutung, dass im Jahr 2018 die Beständigkeit die Salonfähigkeit abgelöst hat, greift allerdings fehl. Vielmehr zeichnen sich unterschiedliche Konfliktlösungsmechanismen, die neben der gerichtlichen Verfahrenstür bestehen, durch eine Heterogenität in der Einleitung, im Verfahren und in der Ergebnisfindung aus. Daraus resultierend könnte man als Konfliktbeteiligter glatt vermeinen, dass zwischen jenen Alternativen beinahe schon eine gewisse Konkurrenz besteht. Zu konstatieren ist ebenfalls, dass europäische Staaten ein unterschiedliches Verständnis für außergerichtliche Streitschlichtung entwickelt haben. Dies zeigt sich nicht zuletzt in der ODR-Verordnung und der ADR-Richtlinie, die in Österreich mit dem Alternative-Streitbeilegung-Gesetz (AStG) umgesetzt wurde. Gerade anhand der Teilnahme- und Einigungsquoten bspw. des Internet Ombudsmannes oder der Schlichtung für Verbrauchergeschäfte ist erkennbar, dass außergerichtliche Streitbeilegung wirkt. Bei der Frage nach der Beständigkeit jener Verfahren ist folglich darüber nachzudenken, ob sich jeder Konflikt pauschal für ein schlichtendes Verfahren im Allgemeinen oder Mediation im Besonderen eignet oder Streitbeteiligte die Möglichkeit haben sollten, nach ausreichender Information in einem Multi-door-Court-house (Sander 1976) ein für sie „passendes“ Verfahren im Sinne einer „appropriate dispute resolution“ wählen zu können.

17:00
Philip Stolkin (Kanzlei, Switzerland)
Die schweizerische Zivilprozessordnung, ein Instrument zur Rechtsverhinderung oder wie ein Rechtsstaat zu Grabe getragen wird

ABSTRACT. Die schweizerische Zivilprozessordnung legt dem Rechtsuchenden zahlreiche Hürden in den Weg. Als da wären die Formulierung des Rechtsbegehren, die übertriebenen Anforderungen an die Darlegungslast und an das Erbringen eines Regelbeweises, über die Fragen der Eventualmaxime bis zur Kostenverlegung mit ihren ruinösen Folgen für den Mittelstand. All das macht die Rechtsuche für den Normalverbraucher zum Ding der Unmöglichkeit. Nur wer sich einen Anwalt leisten kann, über die nötigen finanziellen Mittel verfügt, ein jahrelanges Verfahren zu durchstehen, wird seine Recht durchsetzen können, alle anderen nicht. Dies wirft die Frage auf, ob das liberale Rechtssystem nur für Gutbetuchte eine Lösung vorsieht, während der grosse Teil der arbeitenden Bevölkerung den Grosskonzernen ausgeliefert ist, gerade in Haftpflichtprozessen, Konzernen die ganz offensichtlich in der Lage sind, mit ihrer Lobby eigene verfassungswidrige Gesetze zu erlassen. Ist das System der Checks and Balances in der Schweiz am Ende, braucht es da noch ein Gerichtssystem?

16:30-18:00 Session 3F: Anspruch und Rechtswirklichkeit universaler Menschenrechte I (Track 2)

Organisiert von Fatima Kastner

Die Session umfasst empirische und theoretische Beiträge, die das Thema des Tracks aus unterschiedlichen Perspektiven problematisieren. Diskutiert werden Erosionsprozesse des Rechts als Folge zielgerichteter Politiken der Entbindung von Rechtsverpflichtungen. 

Chair:
Fatima Kastner (Institut für Weltgesellschaft, Universität Bielefeld, Germany)
Location: HS 119 (1. OG)
16:30
Bilgin Ayata (University of Basel, Switzerland)
Erosion of Law through illegal migration control: A critical assessment of the EU-Turkey refugee cooperation

ABSTRACT. This paper explores the EU-Turkey Refugee cooperation that is being implemented since March 2016. While the EU Commission evaluates this “refugee deal” to be very successful given the reduced numbers of migrants arriving on Greek Islands from Turkey and suggests to replicate this particular form of externalization in other areas of externalized migration control, there have been many objections by human rights organisations, migration scholars and refugee advocacy networks to this assessment. Most of this criticism refers to the access to asylum or the situation of migrants in Greece and Turkey. Yet the 2017 decision by the EJC that in effect declares such a cooperation between the EU and Turkey to be inexistent from a legal point of view, raises the question of accountability and transparency when it comes to the externalization of migration control. While migration research has so far spoken of the “securitization” of migration, I suggest to go a step further and take authoritarianism as a conceptual and analytical lens when exploring border regimes. I argue that migration partnerships with authoritarian regimes are not accidental aspects or unavoidable side effects of EU migration management, but in fact constitute a backbone of its architecture – one in which legal and democratic procedures are increasingly dispensable also at the EU level.

16:45
Klaas Eller (Humboldt-Universität zu Berlin, Germany)
Globale Lieferketten als kommunikative Entscheidungsketten

ABSTRACT. Globale Lieferketten, die heute dominante Organisationsform des Kapitalismus, werden immer mehr als eine normativ relevante Sozialstruktur aufgefasst. Zahlreiche der gegenwärtigen Bestrebungen der rechtlichen Regulierung von Arbeitsrechts- und Umweltverletzungen im Kontext globaler Lieferketten beruhen jedoch auf einer zu linearen Vorstellung der Kette und ihrer Machtzentren. Demgegenüber soll eine kommunikationstheoretische Lesart von Lieferketten vorgeschlagen werden, die in Erweiterung des herkömmlichen, akteurszentrierten Rahmens die Kette zugleich als kommunikatives System mit ausgeprägtem Eigensinn begreift. Lieferketten entstehen nicht nur aus einem strategischen Umgang mit politischen, wirtschaftlichen und sozio-kulturellen Differenzen der Weltgesellschaft, sondern erzeugen ihrerseits eine neue Differenz.

Davon ausgehend lassen sich Zertifizierungen nachhaltiger Produktion als privates Regulierungsinstrument verstehen, dass die systemische Struktur der Kette über politische und rechtliche Grenzen hinaus nachzeichnet und Konflikte, die entlang der Kette entstehen, in ein kettenspezifisches Forum übersetzt. Der Vortrag untersucht, wie Konflikte, die das staatliche Recht als bloß "lokal" wahrnimmt, dergestalt reformuliert werden, dass Normen, Akteure und Prozesse die transnationale Dimension des Konflikts abbilden. Besondere Vorsicht ist bei der Übersetzung menschenrechtlicher Gewährleistungen in private Regelungsstrukturen geboten.

17:00
Robert Nestler (refugee law clinics abroad / Max Plack Institute for Social Anthropology, Germany)
ENTFÄLLT! Konstruiertes Chaos? Zur Krise als Instrument der Migrationssteuerung

ABSTRACT. Der Vortrag muss leider entfallen.

Das Migrations- und Flüchtlingsrecht ist insgesamt exklusiv – und inklusiv zugleich. Es hat den „Anderen“ ständig vor Augen und integriert ihn so in die Rechtsordnung, obwohl das Ziel, das insbesondere mit dem sog. Hotspot-Konzept, spätestens seit Inkrafttreten des EU-Türkei-Deals, verfolgt wird, ein exklusives ist – nämlich Personen, die Schutz begehren, wieder aus der EU abzuschieben. Dies, und das Festhalten auf vorgelagerten Inseln, das mit dem Hotspot-Konzept umgesetzt wird, ist es, was Giorgio Agamben als „einschließende Ausschließung“ bezeichnet (Ausnahmezustand, S. 31, 95). Die „Versicherheitlichung“ der Migrationspolitik ist ohnehin eine lange beobachtete Tendenz. Öffentlich sind bisher vor allem strengere Grenzkontrollen diskutiert worden. Verschiebungen und die Allgegenwärtigkeit eigentlicher Grenzerfahrungen hatte Étienne Balibar allerdings schon Anfang des Jahrtausends diagnostiziert und als „governance on a distance“ eingeordnet. Das Hotspot-Konzept scheint dem nun eine neue Dimension hinzuzufügen. Besonders in den griechischen Hotspots sind die Bedingungen besorgniserregend – Grundrechte werden verletzt, Zuständigkeiten bleiben ungeklärt, rechtsstaatliche Prinzipien werden über Bord geworfen, europäische Agenturen überschreiten die Grenze des Erlaubten – es herrscht Chaos (Aufbereitung: Ziebritzki/Nestler, Hotspots an der EU-Außengrenze). Die Diagnose der Hotspots als Orte des Ausnahmezustands drängt sich geradezu auf. Trotzdem bleiben politische Reaktionen aus, das Abkommen wird gar als „vorbildlich“ bezeichnet. Diese Diagnose führt hin zu dem Gedanken, dass die immerwährende Krise systematischer Natur ist. Sie wirkt als Regierungstechnik, die dazu eingesetzt sein könnte, die „Sogwirkung“ (Pull-Faktor) der Europäischen Union einzudämmen und durch unmenschliche Zustände abzuschrecken. Wenngleich Abschreckung als Steuerungsinstrument vornehmlich aus dem Strafrecht bekannt ist, hat James Hollifield eine solche politische Agenda schon für die Migrationssteuerung mit “eleminating as many pull factors as possible” (Hollifield, The Emerging Migration State, S.57.) In einem solchen Vorgehen kann gleichsam eine Regierungstechnik „selbstbestimmter Ausgrenzung“ gesehen werden, denn unmenschliche Zustände führen unter Umständen dazu, dass verfolgte Personen eine Flucht dorthin zu vermeiden suchen.

18:30-19:00 Verleihung des Preises für Recht und Gesellschaft

Verleihung des Preises für Recht und Gesellschaft der Christa-Hoffmann-Riem-Stiftung an Dan Wielsch, Universität zu Köln

Laudatio und Dankesworte

Chair:
Gralf-Peter Calliess (Universität Bremen, Germany)
Location: Aula 033 (EG)