BASEL 2018: ABSCHAFFUNG DES RECHTS? VIERTER KONGRESS DER DEUTSCHSPRACHIGEN RECHTSSOZIOLOGIE-VEREINIGUNGEN
PROGRAM FOR SATURDAY, SEPTEMBER 15TH
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08:30-09:30 Session 7: Rundtischgespräch "Rechtssoziologisch publizieren"

Das offene Rundtischgespräch beschäftigt sich mit der derzeitigen Publikationslandschaft im Bereich der Rechtssoziologie und interdisziplinären Rechtsforschung. Es wird durch einführende Kommentare eingeleitet, soll aber vor allem einen Raum für Diskussion bieten und will der Anfang einer vertieften Diskussion darüber sein, wo Forschende ihre Arbeiten publizieren (wollen), ob die derzeitigen Publikationskanäle ausreichen oder ob Veränderungsbedarf gesehen wird. Themen dabei können sein:

  1. Wahl der Publikationssprache und des Publikums
  2. Veränderte Publikationspraxen: von der klassischen Zeitschrift zum Blog oder Open access-Formaten
  3. Anforderungen des Wissenschaftsbetriebs als Rahmenbedingungen: Peer Review, Impact Factor etc. 

Einleitende Input-Statements von

Chair:
Christian Boulanger (Berliner Arbeitskreis Rechtswirklichkeit, Germany)
Location: HS 119 (1. OG)
09:30-11:00 Session 8A: Zugang zum Recht in der Sozialhilfe (Track 5)

Organisiert von Gesine Fuchs

Damit Rechte überhaupt in Anspruch genommen werden können, braucht es Wissen (legal literacy) und Zugang zum Recht. Dieser „Access to Justice“ hat verschiedene Aspekte – rechtsstaatliche, geographische, finanzielle, soziale und informationelle. Juristisches (Professions-)Wissen ist in der Regel teuer und gerade für Menschen mit wenig Einkommen und/oder Bildung schwer zugänglich, obwohl sie häufiger darauf angewiesen sind. Das Panel soll zivilgesellschaftliche Initiativen und Forscher*innen zusammenbringen, die sich mit Beratung und Bildung als Voraussetzung für die Mobilisierung und den Genuss von Recht befassen. Welche Konzepte werden entwickelt und genutzt, um legal literacy zu fördern? Was bewährt sich und wie lassen sich Beratung & Bildung finanzieren? Welche Wirkungen gehen von Rechtsberatung auf das Rechtsbewusstsein im Alltag, auf vor- bzw. außergerichtliche Mobilisierung von Recht bzw. auf Gerichtsprozesse aus?

Chair:
Gesine Fuchs (Hochschule Luzern, Switzerland)
Location: HS 117 (1. OG)
09:30
Sabine Berghahn (FU Berlin, Germany)
Effektiver Rechtsschutz von "Hartz IV"-Abhängigen - legal literacy kaum herstellbar

ABSTRACT. In der Praxis der deutschen „Grundsicherung für Arbeitsuchende“ (SGB II), genannt „Hartz IV“, gibt es zwar auch Leistungsempfänger*innen, die beruflich qualifiziert und sogar hochgebildet sind, um ihre Prozesse am Sozialgericht selbst zu führen, jedoch bedarf es im Allgemeinen sehr spezieller Kenntnisse, um hier erfolgreich zu sein. Zur Prozessführung in höheren Instanzen sind dann ohnehin zugelassene Rechtsvertreter erforderlich. Der größere Teil der SGB II-Betroffenen verfügt über sehr wenig rechtskognitive Fähigkeiten; oft fehlt schon die deutsche Sprachkompetenz. Dennoch klappt die Rechtsmobilisierung über Beratungsstellen und niedrigschwellige spezialisierte Rechtsanwaltskanzleien, die ihre Vergütung allerdings über Beratungs- und Prozesskostenhilfe bzw. Gebührenverzicht in der „pro-bono-Konstellation“ organisieren müssen.

Legal literacy „von unten“ ist im Feld von „Hartz IV“ also kaum vorhanden und auch selten herstellbar. Die Hinderungsgründe werden im Vortrag beispielhaft dargelegt: Nicht nur die ungünstigen Voraussetzungen der meisten von der Grundsicherung betroffenen Personen tragen dazu bei, sondern auch das Recht selbst wurde durch ständige Novellen seit 2005 häufig verändert und verkompliziert, so dass viele Unklarheiten und Inkonsistenzen geschaffen oder Fragwürdigkeiten zur Norm erhoben wurden. Hier sind kompetente Rechtsvertreter*innen unbedingt nötig, die notfalls auch über mehrere Instanzen den langen Atem und Überblick haben, die Praxis der Jobcenter durch Rechtsprechungserfolge, z.B. bei Sanktionen, fehlerhafter Einkommensanrechnung, bei Mehrbedarf oder der unvollständigen Übernahme hoher Miet- und Heizungskosten zu korrigieren. Zusätzlich versuchen einige Jobcenter sogar den effektiven Rechtsschutz durch spezialisierte Rechtsanwaltskanzleien auch noch zu hintertreiben, indem sie den Honoraranspruch der Rechtsvertreter*in, der im Erfolgsfall eines Widerspruchs vom Jobcenter zu befriedigen ist, gegen Rückzahlungsschulden der Mandant*innen aufzurechnen. Auf diese Weise bekommt der Rechtsvertreter am Ende kein Geld oder nur ein gekürztes Honorar. Dieses Hintertreiben des effektiven Rechtsschutzes, das bislang noch nicht zum Bundessozialgericht gelangt ist, soll Anwälte in die Flucht aus der Vertretung von SGB-II-Abhängigen schlagen und die Rechtsmobilisierung der Betroffenen „ganz unten“ noch weiter verschlechtern.

09:45
Alina Ghoddousi (Legal Literacy Project Wien, Austria)
Susanne Gstöttner (Legal Literacy Project Wien, Austria)
Legal Literacy Project Wien

ABSTRACT. Recht wird oft als sehr komplexes, schwer verständliches und trockenes Thema wahrgenommen. Für Nicht-JuristInnen ist es daher oft schwer sich zurechtzufinden, mehr über die eigenen Rechte und Pflichten zu erfahren und diese auch wahrzunehmen. Genau dort möchte das Legal Literacy Project Wien ansetzen: Wir sind ein Verein von Studierenden der Rechtswissenschaften, dessen Ziel es ist, rechtliches Grundwissen in der Gesellschaft zu fördern. Ganz nach unserem Vereinsmotto „making law simple“ erklären wir komplexe rechtliche Inhalte verständlich und vermitteln diese mit Hilfe kreativer und interaktiver Methoden.

Unsere Workshops richten sich dabei speziell an Jugendliche. Juristische Themen sind nur in wenigen Schulen in Österreich Bestandteil der Lehrpläne, obwohl diese Jugendliche genauso betreffen, wie alle anderen. Mit Themen wie “Recht im Alltag”, “Urheberrecht online”, "Jugendliche im Strafrecht" oder “Arbeitsrecht” soll den Jugendlichen dabei kein juristisches Detailwissen, sondern vielmehr ein grundlegendes Verständnis dafür vermittelt werden, was Recht ist und wie sie in ihrem Alltag damit in Berührung kommen.

Wir freuen uns daher, an dem Panel “Rechtsberatung und legal literacy” teilzunehmen, unsere Erfahrungen im Bereich der Vermittlung rechtlichen Grundwissens in die Debatte einzubringen und gemeinsam diverse Probleme sowie Lösungsansätze in diesem Bereich zu diskutieren.

10:00
Ulrike A. C. Müller (Universität Kassel, Graduiertenkolleg Wohlfahrtsstaat und Interessenorganisationen, Germany)
Hartz-IV-Beratung von unten – Innovationen und Grenzen der Wissensvermittlung durch Selbsthilfegruppen, Einzelaktivist_innen und Erwerbslosenräte

ABSTRACT. Im Bereich des deutschen Grundsicherungsrechts – auch bekannt als Hartz IV bzw. Arbeitslosengeld II – ist der Zugang zu Recht besonders schwierig: Die Angreifbarkeit von Entscheidungen ist oft nur schwer erkennbar. Gleichzeitig ist Rechtsberatung nicht einfach zu erhalten, da anwaltliche Gebühren hoch sind und staatliche Prozesskostenhilfe oft nicht bekannt ist. An dieser rechtsstaatlichen Lücke setzen selbstorganisierte Gruppen von Betroffenen an, die rechtsbezogene Information austauschen und verbreiten.

In dem Beitrag werden empirische Erkenntnisse aus qualitativen Interviews mit Erwerbslosengruppen und -aktivist_innen in den Räumen Halle und Kassel im Jahr 2015 vorgestellt. Sie zeigen eine Bandbreite an Konzepten, die vom gegenseitigen Informationsaustausch in einer Selbsthilfegruppe über Beratung durch Einzelaktivist_innen bis hin zur bundesweiten Struktur der Erwerbslosenräte in der Gewerkschaft ver.di reichen. Rechtsberatung wird mit sehr unterschiedlichen individuelle Motivationen und Perspektiven betrieben, die sich zwischen Rechtsaffinität und skeptischer Distanz bewegen. Erste Erkenntnisse betreffen die Effekte dieser gegenseitigen Beratung. Insgesamt wird aufgezeigt, dass gegenseitige Beratung mit Risiken behaftet ist, staatsbürgerliche Bildungsarbeit leistet und mittelbar politisch organisierend wirkt, indem sie die schwierige kollektive Organisierung stabilisiert.

10:15
Andreas Hediger (Unabhängige Fachstelle für Sozialhilferecht UFS, Switzerland)
Nicole Hauptlin (Unabhängige Fachstelle für Sozialhilferecht UFS, Switzerland)
Schwacher Rechtsschutz für Sozialhilfebeziehende in der Schweiz – die Notwendigkeit unentgeltlicher Rechtsberatungsstellen

ABSTRACT. Am Beispiel der Sozialhilfe bzw. des Sozialhilferechts lässt sich erkennen, dass in der Schweiz der Zugang zum Recht für Armutsbetroffene schwierig ist. Die Sozialhilfe zahlt erst, wenn keine anderen Mittel vorhanden sind, um den Lebensunterhalt zu bestreiten. Verweigert ein Sozialamt unrechtmässig Leistungen, fehlen den Betroffenen die Mittel zum Leben bzw. Überleben. Deshalb müssen sie sich bei Fehlentscheiden rasch wehren können. Doch das Gegenteil ist der Fall: Das Sozialhilferecht ist komplex, Armutsbetroffene haben kein Geld für einen Anwalt, unentgeltlicher Rechtsbeistand wird selten gewährt, Sozialarbeitende verfügen vielfach nicht über die notwendigen rechtlichen Kenntnisse, die Sozialhilfe steht öffentlich sowie politisch unter Druck und mit der Unabhängigen Fachstelle für Sozialhilferecht UFS existiert schweizweit nur eine auf Sozialhilferecht spezialisierte Rechtsberatungsstelle. Die UFS berät, begleitet und vertritt Armutsbetroffene kostenlos bei Anliegen zum Sozialhilferecht, führt Schulungen im Bereich Sozialhilferecht durch und setzt sich öffentlich für menschenwürdige Sozialhilfeleistungen ein. Mit den Leistungsbereichen Sozialhilferechtsberatung und Schulungen bewirkt die UFS, dass Armutsbetroffene die ihnen rechtmässig zustehenden Sozialhilfeleistungen auch tatsächlich erhalten. Die Aktivitäten im Bereich Öffentlichkeitsarbeit sollen einer breiten Öffentlichkeit die Bedeutung der Sozialhilfe vermitteln. Sie sollen aber auch dazu führen, dass die Leistungen in der Sozialhilfe nicht weiter abgebaut werden und Armutsbetroffene Anspruch auf menschenwürdige Sozialhilfeleistungen haben.

09:30-11:00 Session 8B: Entformalisierung des Rechts (Track 9)

Organisiert von Kurt Pärli, Tobias Singelnstein and Walter Fuchs

Location: HS 118 (1. OG)
09:30
Kurt Pärli (University of Basel, Switzerland)
Jasmin Vögtli (University of Basel, Switzerland)
Impacts of Codes of conduct to labour rights

ABSTRACT. Introduction Codes of conduct and codes of ethics are written statements of standards formulated by companies and organizations with the intention to express the commitment to a particular conduct. These codes specify norms, values and procedures for ethical decision making in all business matters. Companies are applying codes of conduct directly to themselves, their employees and also to their business partners. In order to be legally binding, the codes need to be part of the contractual relationship between the parties. That is either achieved by making them part of the working contract between employer and employee or they can be released in form of directives by the employer without the consent of the employee. However, the latter is more common due to convenience for the employer to alter the regulations single-handedly if circumstances are changing.

Research questions: One aim of this paper is to determine the application of codes of conduct and whether they are an enforceable part of the contractual relationship between the mentioned parties. Once it is established that codes of conducts form part of the contractual relationship, the compatibility of them with national and international law has to be examined. If a global company’s ethical guidelines are meant to be applied in every country where it operates, the compatibility with existing national and international law is an important factor. Therefore the question arises whether code of conducts override the application of national and international law. It is worthy to analyse if behaviour guidelines in code of conducts and code of ethics may be violating basic labour human rights as for example the right to freedom of speech, freedom of religion or the right to privacy at workplace.

Research methods: In order to answer the above mentioned research questions, a selection of codes of conduct from national and international economic companies operating in different kind of economy sectors such as banking, finance, pharma, IT etc. will be examined. Differing categories of codes have been devised, covering topics such as ethical behaviour in general, working time, and romantic relationships. In many cases, guidelines consist of ambiguous wording, often regarding ethical behaviour, without specifying how such guidelines should be interpreted. Results: The authors will explain whether and how the examined codes of conduct impose a binding obligation in the contractual relationship between employer and employee. Furthermore, the conclusion will be drawn whether these obligations are incompatible with international and national laws and therefore may ultimately be unenforceable. Bibliography: Diller Janelle, A social conscience in the global marketplace? Labour dimensions of codes of conduct, social labelling and investor initiatives, International Labour review, Vol. 138 No. 2 (1999), p. 99-129 Küng Hans, A Global ethic in an Age of Globalization, Business Ethics Quarterly, Vol. 7 Nr. 3, (1997). p. 17-32 Laczniak Gene R., Kennedy Ann-Marie, Hyper Norms: Searching for a global Code of Conduct, Journal of Macromarketing, Vol. 31 No. 3 (2011), p. 245-256 Licci Sara, Codes of Conduct im Arbeitsverhältnis mit besonderem Blick auf das Whistleblowing, AJP 2015, p. 1168 ff. Mundlak Guy, De-Territorializing Labor Law, 3 L. & Ethics Hum. Rts. 189 (2009), p. 189-222

09:45
Laura Knöpfel (King's College London, UK)
Private self-regulation in transnational human rights litigations against corporations

ABSTRACT. For this contribution, I perceive corporations as assemblages of people, capital and materialities that through a series of messages constitute themselves as unified collective actors in distinction to their environment. In recent years, corporate social responsibility (CSR) policies have become a crucial part of those messages. Increasingly, multinational enterprises (MNE) adopt codes of conduct, participate in social and environmental multi-stakeholder dialogues and introduce operational-level grievance mechanisms (third pillar of the UN Guiding Principles on Business & Human Rights). In annual reports, MNE zealously convey their commitments and the related material projects to the public. The reports target a corporation’s environment and the public perception in hopes that societal attributions would shift from ‘the devil’ to ‘the good neighbor’. In this paper, I research how courts - the center of corporations’ legal environment - in typical home states of MNE have recursively reacted to this CSR communication. Especially of interest are its influences on the foreseeability criterion in tort law’s duty of care in negligence test and on legitimate expectations regarding the corporate law doctrines of separate corporate personality and limited liability. In cases in which CSR self-regulations had been incorporated into contracts, the focus will be on the position of third-party beneficiaries in relation to the doctrine of privity in contract law.

10:00
Nils Janson (Albert-Ludwigs-Universität Freiburg, Institut für Öffentliches Recht, Abt. I, Germany)
Der Zahn der Zeit – Bedrohung des Rechts durch soziale Beschleunigung?

ABSTRACT. Unsere Gesellschaft unterliegt einer allgemeinen sozialen Beschleunigung, wie sie Hartmut Rosa so eindrücklich nachgezeichnet hat. In Folge dessen scheint auch im Politischen schon länger das faktische Diktat der Dringlichkeit zu einer normgewordenen Unverzüglichkeit zu führen. Doch wie übersetzen sich solche Herausforderungen sozialer Beschleunigung in das Recht? Bedrohen sie dessen Entstehungs- und Wirkvoraussetzungen? Wie die Gesellschaft unterliegt das Recht einem steten Wandel: Als Steuerungsinstrument des dienenden Staates muss es responsiv auf gesellschaftliche Entwicklungen angepasst werden und selbst auf sie reagieren. Grell leuchtet insofern die Frage auf, wie sich dies mit der Diagnose sozialer Beschleunigung in Einklang bringen lässt: Wie verändert sie Staat, Recht und Rechtsetzungsprozesse? Ist eine zukunftsgestaltende Rechtsetzung überhaupt noch möglich? Der Vortrag wird Spuren der Beschleunigung im Recht als staatliche Strategien zum Umgang mit Phänomenen zeitlicher Verdichtung ausweisen, um den skizzierten Einfluss zu unterstreichen. Hierunter fallen unter anderem die zunehmende Flexibilisierung staatlicher Gewalt und die dynamisierenden Tendenzen in rechtsförmigen Verfahren. Außerdem werden weitere prozessuale und institutionelle Entlastungspotentiale des durch die gesellschaftlichen Entwicklungen beschleunigten Staates unter einem temporalen Blickwinkel beleuchtet. Im Ergebnis scheint es zwar nicht zu einer Abschaffung des Rechts zu kommen, doch verändern die Herausforderungen sozialer Beschleunigung Form und Inhalt des Rechts erheblich.

09:30-11:00 Session 8C: Das Volk und das Recht: Demokratie, Volkssouveränität und organisierte Interessen (General Papers)
Chair:
Christian Boulanger (Berliner Arbeitskreis Rechtswirklichkeit, Germany)
Location: HS 115 (1. OG)
09:30
Thomas Gawron (Beuth Hochschule für Technik Berlin, Germany)
Ralf Rogowski (The University of Warwick, UK)
Implementation von Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts durch Organisierte Interessen

ABSTRACT. Das paper wendet den Ansatz zur Untersuchung der judiziellen Implementation, den wir in Thomas Gawron und Ralf Rogowski, Die Wirkung des Bundesverfassungsgerichts, Baden-Baden: Nomos 2007, entwickelt haben, auf den Bereich Organisierte Interessen an. Der Bereich der Organisierten Interessen zeichnet sich durch nicht-staatliche Selbstregulierung aus und die leitende Fragestellung des papers wird sein herauszufinden, ob die bundesverfassungsgerichtliche Einflussnahme als Destabilierung oder als fördernde Regulierung von Selbstregulierung gewirkt hat.

Das paper hat drei Schwerpunkte. In einem ersten Teil werden konzeptionelle Fragen angesprochen, wie der Bereich Organisierte Interessen in Deutschland definiert werden kann. Dazu werden einige Ansätze aus der Forschung, insbesondere Theorien des Korporatismus und des Rechtspluralismus, sowie empirische Materialien präsentiert.

Im zweiten Teil werden relevanter Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts zu Organisierten Interessen vorgestellt und rechtssoziologisch analysiert. Ein Untersuchungsziel ist festzustellen, ob, in welcher Form und in welchem Umfang strategic litigation im Bereich Organisierte Interessen vorkommt.

Im zentralen dritten Teil werden Hypothesen zu Implementationsbedingungen von Bundesverfassungsgerichtsentscheidungen im Bereich Organisierte Interessen vorgestellt. Fragestellungen des Konferenzthemas werden dabei aufgegriffen, z.B. ob die verfassungsgerichtliche Steuerung der privaten Regulierung im Bereich Organisierte Interessen in erster Linie prozedural, und nicht substantiell oder materiell erfolgt. Weiterhin wird der Frage nachgegangen, inwieweit Mobilisierungsbedingungen im Bereich der Organisierten Interessen Einfluss auf die Implementation von Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts haben.

09:45
Uwe Kranenpohl (Evangelische Hochschule Nürnberg, Germany)
"Volkssouveränität" – unzureichende Distanz zu einem problematischen Begriff

ABSTRACT. Populistischen Bewegungen, seien sie programmatisch ‚rechts‘ oder ‚links‘ konnotiert, zeichnen sich durch eine Reihe gemeinsamer Merkmale aus: Es wird die Existenz einer homogenen Gesellschaft (‚Volk‘) postuliert, in der keine ernsthaften Interessendifferenzen bestehen. Das homogene Volk kann einen einheitlichen Willen bilden und diesen auch ausdrücken. Jene Gruppen, die sich diesem einheitlichen Volkswillen entgegenstellen, gelten als zumindest ‚abgehobene‘, wenn nicht korrupte Eliten, oder gar als ‚Volksverräter‘. Regeln und Institutionen, die die Realisierung des vermeintlich einheitlichen Volkswillens hemmen, gelten als ‚undemokratisch‘ und sind daher nicht zu beachten und erforderlichenfalls zu beseitigen. Im Lichte eines solchen naiv-rousseauistischen Politikverständnisses sind nicht nur materielle (verfassungs-)rechtliche Regelungen allenfalls unter Zweckmäßigkeitsgesichtspunkten zu betrachte, sondern auch Verfahrensregelungen. Immer zweifelhafter erscheint, ob die Bundesrepublik Deutschland als liberal-demokratischer Rechtsstaat der populistischen Herausforderung gewachsen ist. Dabei ist auch die Rolle der deutschen Staatsrechtslehre ambivalent: Ist sie doch einerseits sehr stark auf individuell ausgerichtete Rechtsgüter fokussiert, pflegt sie aber zugleich mit dem in dieser Perspektive problematischen Begriff wie „Volkssouveränität“ einen wenig reflektierten, wenn nicht gar problematischen Umgang. Verstärkt wird dieser Effekt noch durch eine kritikwürdige Verwendung des Begriffs in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (so z.B. in der Europarechtsprechung).

10:00
André Brodocz (Universität Erfurt, Germany)
Stabilisierte Enttäuschungen: Wie sich selbst enttäuschende normative Erwartungen durch populistische Parteien aufrecht erhalten werden

ABSTRACT. Demokratietheorien wie die von Chantal Mouffe, Jeffrey Edward Green und Pierre Rosanvallon haben gezeigt, wie die liberalen Demokratien des Westens auf Seiten der Bürgerinnen und Bürger Erwartungen erzeugen, die ihre politischen Ordnungen in der Praxis gar nicht, zumindest nicht vollends erfüllen können und Politikverdrossenheit fördern. Dennoch werden die Erwartungen an die Demokratie in den sogenannten liberalen Demokratien des Westens nicht geändert. Aber wie werden in Demokratien sich selbst enttäuschende normative Erwartungen aufrecht erhalten, obwohl die Erfahrung gemacht wurde, dass diese Erwartungen nicht erfüllt worden sind? Der Beitrag verfolgt diesbezüglich zwei Ziele: Zum einen wird die These vertreten, dass die von populistischen Parteien öffentlich diagnostizierten „Krisen“ der Demokratie als Narrative politischer Verunsicherung bei den Bürgerinnen und Bürgern die Erwartung stabilisieren, dass die durch das Narrativ weiterhin gerechtfertigten Erwartungen an die demokratische Ordnung wieder enttäuscht werden. Krisen-Narrative schaffen also eine paradoxe der Form der Sicherheit, indem sie nicht die enttäuschte Erwartung revidieren, sondern die künftige Enttäuschung erwartbar machen, ihr so die Unsicherheit nehmen, und statt dessen Enttäuschungen stabilisieren. Zum anderen wird eine Heuristik narrativer Mechanismen vorgestellt, mit der sich diese Krisen-Narrative empirisch rekonstruieren und analysieren lassen.

09:30-11:00 Session 8D: Selbstabschaffung des Rechts II (Track 8)

Organisiert von Caroline Voithofer and Ines Rössl

Trägt das Recht die Möglichkeit seiner Selbstabschaffung in sich und/oder unter welchen gesellschaftlichen Bedingungen lassen sich Phänomene der Selbstabschaffung beobachten? Unterschiedliche Antworten auf die Frage, ob und wie sich Recht selbst abschaffen kann, sind sowohl im Hinblick auf die Fächerperspektive als auch im Hinblick auf die verwendeten Rechtsbegriffe zu erwarten.

Chairs:
Ines Rössl (Universität Wien, Institut für Rechtsphilosophie, Austria)
Caroline Voithofer (Universität Innsbruck, Austria)
Location: HS 119 (1. OG)
09:30
Anna Menzel (n.a., Germany)
Über das Hören (auf das Andere) im Recht

ABSTRACT. „Eines Tages wird die Menschheit mit dem Recht spielen wie Kinder mit ausgedienten Gegenständen, nicht um sie wieder ihrem angestammten Gebrauch zurückzuführen, sondern um sie endgültig von ihm zu befreien. [...] Diese Befreiung ist Aufgabe des Studiums – oder des Spiels“ (Agamben). Als wesentliches Problem und somit vielleicht auch Ursprung des Wunsches nach seiner Abschaffung, wird dem Recht und seiner Rechtstheorie ein unreflektierter Umgang mit der ihm innewohnenden Gewalt attestiert (Benjamin, Derrida, Agamben). Solange die Gesellschaft aber noch mit diesem (gewaltvollen) Recht arbeitet, bzw. sich ihm ausgesetzt wiederfindet, stellt sich schon jetzt die Frage, wie mit dieser Gewalt im Recht gerecht(er) umgegangen werden kann. Die Gewalt des Rechts zeigt sich zum Beispiel in jeder getroffenen richterlichen Entscheidung, die niemals allen Beteiligten oder betroffenen Parteien gerecht werden kann. Sie erfährt in weiten Teilen ihre verfassungsrechtliche Recht-Fertigung über das Recht auf richterliches Gehör als Legitimierungsnarrativ. Es zeichnet sich aber gleichzeitig ab, dass das Recht, welches in hiesigen Kulturkreisen geprägt ist von einer abendländischen hörvergessenen Philosophie, eben auch selbst hörvergessen ist, bzw. eine gewaltvolle Tradition des „Sagens-über-Andere-ohne-Hinzuhören“ fortschreibt. Das relevante Moment des Hörens (auf das Andere) im Recht bedarf sowohl in der Rechtstheorie, die sich mit der sprachlichen Bedingtheit von Recht auseinandersetzt, als auch in der Praxis des richterlichen Gehörs, mehr Aufmerksamkeit. Mit der Thematik des Hörens kann dieser Moment im Recht genauer adressiert, bzw. das rechtliche Gehör feiner gestimmt werden.

09:45
Filippo Contarini (Universität Luzern, Switzerland)
Das "vivre ensemble" und das Recht: lass die Maske fallen!

ABSTRACT. Im Rahmen der Diskussion über das Burkaverbot könnte es scheinen, dass wir vor einer Abschaffung des Rechts durch Rechtsschöpfung stehen. Eine Paradoxie? In der Entscheidung S.A.S. vs. France hat der EuGMR (Punkt 141) die Begründungen des Französischen Staates aufgenommen, die die Vertragskonformität des Verschleierungsverbotes vertraten: «le projet de loi […] indique que, ‘si la dissimulation volontaire et systématique du visage pose problème, c’est parce qu’elle est tout simplement contraire aux exigences fondamentales du ‘vivre ensemble’ dans la société française’ et que ‘la dissimulation systématique du visage dans l’espace public, contraire à l’idéal de fraternité, ne satisfait pas (...) à l’exigence minimale de civilité nécessaire à la relation sociale’ […]». Vor der neu erschienenen gesellschaftlichen rein nicht-liberalen Institutionen (wie die Burka), nimmt das Recht die einzige Stellung, die es nehmen kann: es entscheidet über die Unterscheidung Recht/Unrecht. In der S.A.S. vs. France offenbart sich das Rechts in aller seiner Nacktheit und verzichtet, die eigene Tautologie dank seiner eigenen Begrifflichkeit und seiner Redundanz zu verschleiern, da hier Begriffe ganz fehlen. Es kann nicht die eigene Dekomposition in unterscheidbaren Identitäten finden (Luhmann 1993/1995, 395). Das Recht schützt für den EuGMR das «vivre ensemble». Ist aber nicht genau Aufgabe des Rechts, die Bedingungen des «vivre ensemble» zu schaffen? Vor dem sogenannten Burkaverbot zeigte sich das Recht einfach als Recht, ohne Schleier.

10:00
Constantin Hruschka (Max-Planck-Institut für Sozialrecht und Sozialpolitik, Germany)
Tim Rohmann (Max-Planck-Institut für Sozialrecht und Sozialpolitik, Germany)
Abschaffung des Rechts durch Gesetzesflut im Migrationsbereich?

ABSTRACT. Seit 2015 hat es mehr als 20 Änderungen des Aufenthaltsgesetzes und des Asylgesetzes in Deutschland gegeben. Diese Gesetzgebung ist vordergründig oft anlassbezogen („Köln“, „Breitscheidplatz“) und adressiert lediglich punktuelle, im politischen Diskurs identifizierte Insuffizienzen. Der deutsche Gesetzgeber verfällt zunehmend in einen partikularen Aktionismus und produziert Normen, die im Weber’schen Sinne ausschließlich zweckrational fundiert sind. Für die migrationsrechtlichen Änderungen der letzten drei Jahre, lassen sich die erlassenen migrationsrechtlichen Normen in drei Hauptkategorien aufteilen: 1) Normen zur Vereinfachung der Verwaltungspraxis 2) Normen zur Verbesserung der Integration 3) Normen zur Reduzierung von (vermeintlichen) Pull-Faktoren Der Verlust systemischer Kohärenz sowie der rapide Wandel der gesetzlichen Bestimmungen führen dazu, dass auf der Ebene der Rechtsanwendung eine zunehmend divergierende Praxis bei den angelegten Entscheidungsmaßstäben zu beobachten ist. Hierdurch droht das ohnehin bereits stark fragmentierte Migrationsrecht, welches ein zentrales staatliches Steuerungsinstrument darstellen soll, weiter an Klarheit und Steuerungskraft zu verlieren und sich so zumindest faktisch – selbst abzuschaffen. Auf Seiten der rechtsunterworfenen Personen werden die staatlichen Eingriffe spiegelbildlich als arbiträr und illegitim wahrgenommen. Basierend auf einer rechtswissenschaftlichen Analyse und den Erkenntnissen soziologischer und anthropologischer Forschung zu den Lebensumständen von migrierenden Personen in Deutschland untersucht dieses Paper systematisch Fragen nach der praktischen Wirksamkeit gesetzgeberischer Regulierung im Asylrecht seit 2015. Die Autoren zeigen auf, dass das Diktat des effizienten Migrationsmanagements die Rechtssicherheit und den Geltungsanspruch der rechtlichen Regelungen unterminiert und damit deren Legitimität grundsätzlich in Frage stellt.

10:15
Karlson Preuss (Universität Bielefeld, Germany)
Was ist neu an der heutigen „Krise des Rechts“? Radikale Rechtskritik zu Beginn des 20. Jahrhunderts

ABSTRACT. Verschiedene gesellschaftspolitische Entwicklungen der letzten Jahre haben zu Diagnosen einer „Krise des Rechts“ Anlass gegeben und die Rechtsform an sich thematisch werden lassen. Legt man einen größeren historischen Rahmen zugrunde, so fällt auf, dass sich im Kontext der multidisziplinären Krisenreflexionen der 1920er Jahre auch in der Rechtswissenschaft Stimmen gemehrt haben, die eine Krise des Rechtlichen konstatieren. Die These des Vortrags ist, dass sich zentrale Momente dieser frühen Krisenreflexion in heutigen rechtstheoretischen und -praktischen Krisensymptomen kontinuieren. Um diese historischen Kontinuität zu belegen, sollen zentrale Motive dieser frühen rechtswissenschaftlichen Krisenreflexion identifiziert werden und anschließend auf heutige Topoi der Rechtstheorie und -praxis bezogen werden. Hierfür werden rechtswissenschaftliche Vorstöße aufgegriffen, die die Vorstellung eines autonomen Rechtssystems einer Fundamentalkritik unterziehen. Der in den 1920er aufkommende „legal realism“ in den USA und die wertjuristischen Grundlegungen im Zuge des Weimarer Methodenstreits können diesbezüglich als Symptome einer weitverbreiteten antiformalistischen Grundstimmung verstanden werden. Am Beispiel verschiedener Autoren soll historisch komparativ veranschaulicht werden, wie sich unter dem Deckmantel juristischer Positivismuskritik innerhalb der Rechtswissenschaft zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine radikale Rechtskritik formiert hat, die den konzeptuellen Boden für die heutige „Krise des Rechts“ gelegt hat.

09:30-11:00 Session 8E: Roundtable: "Pierre Bourdieu im Kontext der Rechtssoziologie" (General Papers)

Organisiert von Andrea Kretschmann

Pierre Bourdieu hat nie eine eigene Rechtssoziologie entwickelt; sein Rechtsdenken ist immer fragmentarisch geblieben. Dass seine Auseinandersetzung mit rechtlichen Phänomenen innerhalb der Rechtssoziologie abseits des frankophonen Wissenschaftskontexts bislang nur vereinzelt rezipiert wurde, verwundert dennoch; nicht nur angesichts von Bourdieus überragendem Status in der soziologischen Welt. Denn sein Rechtsdenken - auch wenn es in ihm weder ausformulierte Soziologiken noch empirisch fundiert Analysen gibt -, hält einiges an Potenzialen bereit. Als Soziologe, der etwa auch im Recht Subjektkonzeptionen mit größeren gesellschaftlichen Entwicklungen zu verweben gewusst hat, der konzeptionelle Hinweise auf die Verzahnung von rechtlicher Struktur und professioneller oder alltäglicher Praxis zugrunde legte oder der strukturelle und symbolische Qualitäten des Rechts zu kombinieren vermochte, stellt er - gelesen in Verbindung mit seinem übrigen Werk - einen reichhaltigen Fundus bereit, aus dem sich hinsichtlich drängender theoretischer und empirischer Fragen rechtssoziologisch schöpfen lässt. Erst in den letzten Jahren, zeitgleich mit dem praxeological turn innerhalb der Soziologie, entwickelt sich auch in der deutschsprachigen Rechtssoziologie langsam eine differenziertere Auseinandersetzung mit Bourdieus konzeptionellen Werkzeugen für soziologische Analysen des Rechts. Ausgehend hiervon beabsichtigt der Roundtable, einen genaueren Blick auf Bourdieus Rechtsdenken im Kontext der Rechtssoziologie zu richten.

Chair:
Andrea Kretschmann (Centre Marc Boch, Germany)
Location: HS 116 (1. OG)
09:30
Pierre Guibentif (ISCTE Universitätsinstitut Lissabon, Portugal)
Beitrag zum Roundtable: "Pierre Bourdieu im Kontext der Rechtssoziologie"

ABSTRACT. Beitrag zum Roundtable: "Pierre Bourdieu im Kontext der Rechtssoziologie"

10:00
Walter Fuchs (Institut für Rechts- und Kriminalsoziologie, Austria)
Beitrag zum Roundtable: "Pierre Bourdieu im Kontext der Rechtssoziologie"

ABSTRACT. Beitrag zum Roundtable: "Pierre Bourdieu im Kontext der Rechtssoziologie"

10:30
Andrea Kretschmann (Centre Marc Bloch, Germany)
Beitrag zum Roundtable: "Pierre Bourdieu im Kontext der Rechtssoziologie"

ABSTRACT. --

10:45
Michael Wrase (WZB, Germany)
Beitrag zum Roundtable: "Pierre Bourdieu im Kontext der Rechtssoziologie"

ABSTRACT. Beitrag zum Roundtable: "Pierre Bourdieu im Kontext der Rechtssoziologie"

09:30-11:00 Session 8F: Die Urteilskraft von Laien. Punitivität, Strafwürdigkeitsvorstellungen und Einstellungen zur Strafe in Europa (General Papers)

Organisiert von Fabien Jobard and Tobias Singelnstein

Das Strafrecht urteilt über abweichendes Sozialverhalten. Solche Urteile wie auch das Strafrecht insgesamt beziehen ihre Legitimität aus der Akzeptanz und Zustimmung der Bevölkerung bzw. der Gesellschaft. In der jüngeren Vergangenheit mehren sich die Stimmen, die eine zunehmende Punitivität in der Bevölkerung und einen strafrechtsbezogenen Populismus diagnostizieren. Die damit verbundene Forderung nach Sicherheit, die Lust auf Strafen würden durch die Justizpraxis weniger zufriedengestellt. An dieser Stelle setzt das Panel an und macht Einstellungen in der Bevölkerung zum Strafrecht und zur Sanktionierungspraxis zum Thema. Gibt es tatsächlich eine neue Straflust der BürgerInnen und wie lässt sich das untersuchen? Welche Ausdrucksform findet diese vermutete Punitivität? Gibt es eine Kluft zwischen Laien und professionellen Rechtsanwendern und wie sieht das Verhältnis zwischen beiden Gruppen aus? Welche generellen Einstellungen haben BürgerInnen in Europa zur Strafe und wie wirkt sich das bei konkreten Fällen aus? Gibt es so etwas wie einen strafrechtsbezogenen Populismus? Gibt es auch Forderungen nach einer Abschaffung oder Milderung der Strafe in unseren Gesellschaften? Diesen Fragen gehen die Beiträge des Panels in empirischer oder theoretischer Perspektive nach.

Chair:
Fabien Jobard (Centre Marc Bloch, Germany)
Location: HS 120 (1. OG)
09:30
Pérona Océane (CESDIP, France)
Gender, Punitivität und Gewalt in der Ehe : eine deutsch-französische Perspektive

ABSTRACT. Heutzutage ist die Strafjustiz zunehmend dazu aufgerufen, Schutz der körperlichen Unversehrtheit von Frauen zu gewährleisten. Der zunehmende Gebrauch der Gerichtsbarkeit durch z.B. die Opfer von häuslicher Gewalt zeugt von diesen Erwartungen. Was sind aber die Grundeinstellungen der BürgerInnen gegenüber dieser geschlechtsspezifischen Straftat? Ist die Neigung zur Strafhärte hinsichtlich häuslicher Gewalt in der Gesamtbevölkerung gleichmäßig verteilt oder variiert sie nach soziodemographischen Merkmalen wie Alter, Geschlecht oder Beruf? Ist die mögliche Punitivität von dem Strafsystem beeinflusst? Nehmen die BürgerInnen diese Straftat in gleicher Weise wahr, wie die RichterInnen ihrer jeweiligen Länder? Auf diese Fragen wollen wir in unserem Beitrag eingehen, in dem wir die Befragung von 3.000 französischen und 3.000 deutschen BürgerInnen auswerten. Sie basiert auf der Analyse der Antworten auf einen fiktiven Fall von Gewalt in der Ehe, zu dem die Befragten aufgefordert wurden, eine Strafe zu verkünden.

09:45
Bénédicte Laumond (Centre Marc Bloch, France)
Punitivität und politische Einstellungen aus einer deutsch-französischen Perspektive

ABSTRACT. Dieser Beitrag basiert auf einer Bevölkerungsumfrage, die 2017 unter jeweils 3000 Deutschen und Franzosen durchgeführt wurde. Ziel war, ihre Einstellungen zu unterschiedlichen fiktiven strafrechtlichen Fällen zu identifizieren. Konkret wurde bei jedem Fall erfragt, welche Sanktionierung jeweils von den Befragten als angemessen angesehen wird. Außerdem wurden die Befragte nach ihrer politischen Einstellung gefragt: Die Teilnehmer der Umfrage, die sich auf einer politischen Skala zwischen 9 und 10 positionierten (0= linksextrem, 10= rechtsextrem), werden im Mittelpunkt dieses Beitrags und als rechtsradikal eingestellt betrachtet. Die Rechtsradikalismusforschung, insbesondere im europäischen Raum, stellte fest, dass die Kriminalpolitik zu der Issue-Ownership von rechtsradikalen Parteien in zahlreichen europäischen Ländern zählt (vgl. Walgrave, Deswert, 2004; Smith, 2010). Zusammen mit der Migrationspolitik ist die Kriminalpolitik ein zentrales Thema in den rechtsradikalen Programmen und diese Parteien fordern härtere Strafen (Mudde, 2000). In diesem Beitrag wird der Frage nachgegangen, ob Befragte mit einer rechtsradikalen Einstellung eine höhere Straflust nachweisen als die Allgemeinbevölkerung. In der Befragung wurde zwischen unterschiedlichen Delikten aus der leichten und der mittleren Kriminalität differenziert. Aus diesem Grund wird es in diesem Beitrag untersucht, ob die Straflust der rechtsradikalen Befragten von den verschiedenen Fallkategorien abhängig ist. Außerdem wird untersucht, ob die vorgeschlagenen fiktiven Delikte, die von Menschen begangen wurden, die einen Familiennamen ausländischer Herkunft tragen, von Befragten mit einer rechtsradikalen Einstellung stärker bestraft werden. Schlussendlich zielt diese Studie darauf ab, herauszufinden, ob eine europäische rechtsradikale Bevölkerung zu identifizieren ist. Anders formuliert: Kann man Gemeinsamkeiten in den Strafen, die von Rechtsradikalen geäußert werden, trotz aller nationalen Unterschiede feststellen? Fällen rechtsradikale Franzosen ähnliche Urteile wie die allgemeine Bevölkerung oder wie deutsche rechtsradikale Befragten?

10:00
Fabien Jobard (Centre Marc Bloch, Germany)
Tobias Singelnstein (Ruhr-Universität Bochum, Germany)
Strafwürdigkeitsvorstellungen von Richtern und Laien im Vergleich

ABSTRACT. Die Bevölkerung empfindet die Strafjustiz als zu lasch und milde. So lautet eine verbreitete Einschätzung und oft gelesene Meinung in Kommentaren. Ergebnisse von Meinungsumfragen scheinen diesen Befund zu bestätigen. Indes haben sozialwissenschaftliche Forschungen über Strafeinstellungen in verschiedenen Ländern auch folgendes Paradoxon gezeigt: Zwar halten Laien die Justiz ihres Landes allgemein für zu milde. Fragt man jedoch nicht nach allgemeinen Einstellungen, sondern konfrontiert man die Befragten mit konkreten Fällen, erweisen sich die Laien mitunter sogar als milder als die Richter. Ausgehend hiervon sollen in dem Beitrag erste Ergebnisse unseres Forschungsprojekts präsentiert werden, in dem wir einerseits eine repräsentative Bevölkerungsbefragung in Deutschland und Frankreich vorgenommen und andererseits französische und deutsche Richter befragt haben. Die Ergebnisse zeigen, dass die Dichotomisierung der Punitivitätsforschung in mild/streng nicht in der Lage ist, die tatsächliche Diskrepanz der Urteilskraft zwischen professionellen Rechtsanwendern und Laien zu erfassen.

11:00-11:10Pause