Der Begriff des Anthropozäns kennzeichnet eine Vielzahl sich zuspitzender existentieller Herausforderungen und stellt damit zugleich das Recht in seinen Voraussetzungen in Frage: Wie hat das Recht zu dieser Situation, in der bisherige Lebensweisen und letztlich das Überleben auf dem Planeten auf dem Spiel stehen, selbst beigetragen und was kann es zukünftig (überhaupt noch) zur Gestaltung gesellschaftlichen Zusammenlebens beitragen? Wie können neue rechtliche Phänomene wie die „Rechte der Natur“, die Ökozid-Initiative oder Klimaklagen sich Gehör verschaffen, wenn grundlegende Kategorien wie Raum, Umwelt, Zeit, Wissen, Materialität sowie Subjekt, Zurechnung oder Verantwortung zur Disposition stehen? Das Panel wird anhand von vier Beispielen diesen konzeptuellen Herausforderungen nachgehen und so ausloten, ob und wie das „Recht im Anthropozän“ sich transformiert.
Teilnehmer:innen: Andreas Gutmann/ Jenny García Ruales: Nichthegemoniale Umwelten im Recht: Die Aushandlung der Rechte der Natur in Ecuador Susanne Krasmann: Urbizid (nicht Ökozid) als ein Problem des Rechts im Anthropozän Philipp Degens: Für ein law of the commons? Rechtliche Auseinandersetzungen um nachhaltige Landwirtschaft Doris Schweitzer: Eigentum, Materialität und Responsibilisierung im Anthropozän
Nichthegemoniale Umwelten im Recht: Die Aushandlung der Rechte der Natur in Ecuador
ABSTRACT. Rechte der Natur (RdN) werden häufig als ein Beispiel genannt, das die Repräsentation der nichtmenschlichen Umwelt im Recht grundlegend transformiert. Insbesondere in Ecuador - das als bislang einziges Land mit verfassungsmäßigen RdN - wird damit die Hoffnung verbunden, auch indigene und andere nichtwestliche Vorstellungen von Natur rechtlich adressierbar zu machen. Unter dem Konzept werden verschiedene Vorstellungen von Recht(en), Natur und deren vielfältigen (menschlichen und nichtmenschlichen) Bewohner*innen verhandelt, was die – gerade auch von ecuadorianischen Gerichten betonte – Notwendigkeit eines Dialogs zwischen Rechtswissenschaften und Anthropologie begründet. Eine Transformation der verrechtlichten Mensch-Natur-Verhältnisse setzt dabei voraus, dass sich das staatliche Recht für nichthegemoniale Naturvorstellungen öffnet. Gleichzeitig handelt es sich bei diesen Naturvorstellungen nicht um statische Konzepte, vielmehr reagieren auch diese auf die RdN und unterlaufen somit Veränderungen. So sind in Ecuador indigene Bestrebungen zu beobachten, das Konzept mit Leben zu füllen und an die eigene Realität im Territorium anzupassen. Der Vortrag möchte diese Übersetzungsvorgänge beschreiben und dabei untersuchen, wie RdN von nichthegemonialen Akteur*innen strategisch angeeignet und ausgedeutet werden und wie der Staat auf solche, Ausdeutungsversuche reagiert.
Für ein law for the commons? Rechtliche Auseinandersetzungen um nachhaltige Landwirtschaft
ABSTRACT. Dieser erörtert, wie Initiativen zivilgesellschaftlichen Wirtschaftens versuchen, ihre rechtlichen Rahmenbedingungen kreativ auszunutzen, um eigene Handlungsspielräume zu erweitern und mittelfristig rechtliche und wirtschaftliche Strukturen zu verändern. Dabei steht das Dilemma, ein gegenhegemoniales Law for the Commons innerhalb des bestehenden Rechts verwirklichen zu wollen, im Mittelpunkt des Vortrags. Ausgehend von einer empirischen Untersuchung zu Gestaltungsoptionen solidarischer Landwirtschaft (Solawi) in Deutschland zeige ich zunächst, vor welchen rechtlichen Herausforderungen diese Initiativen stehen, um ihre Vision einer regionalisierten, nachhaltigen und gemeinschaftsgetragenen Landwirtschaft experimentell umzusetzen. Dabei zeigt sich erstens auf lokaler Ebene, wie das Recht mit seiner Ausrichtung auf profit- und wachstumsorientiertes Wirtschaften an der Hervorbringung der ökologischen Krisenlagen im Anthropozän beteiligt ist. Zweitens lässt sich erkennen, wie (manche) Solawis auch mit den Mitteln des Rechts im Kleinen eine Ordnung jenseits von Privateigentum und Marktbeziehungen - ein Law for the Commons – aufbauen wollen, dabei aber notwendigerweise im bestehenden Recht operieren. Hier diskutiere ich, inwieweit sich gegenhegemoniale Formen einer rechtlichen Kodierung (Pistor) wirtschaftlicher Institutionen finden lassen und ob sie als Ansatzpunkte einer Transformation des Rechts im Anthropozän von unten zu begreifen sind.
Eigentum, Materialität und Responsibilisierung im Anthropozän
ABSTRACT. Als das Kernproblem des Anthropozäns wird der Umgang der Menschheit mit der materiellen Umwelt angesehen. Mit Blick auf das Recht wird hier insbesondere das Problem in der Ausformung des Instituts des Eigentum gesehen: Eigentum ermögliche und legitimiere den Gebrauch der Dinge, der res, bis hin zu ihrer Zerstörung. Genau dagegen werden die Rechte der Natur ins Spiel gebracht, werde doch dadurch die Natur als Rechtssubjekt (persona) dem Zugriff des Eigentums entzogen. Der Beitrag geht der Frage nach, ob man in den Rechten der Natur tatsächlich einen Angriff auf die Grundstruktur des Eigentums erkennen kann oder ob hier nicht eher neue – durch Materialität vermittelte – Formen der Responsibilisierung zu erkennen sind.
Urbizid (nicht Ökozid) als ein Problem des Rechts im Anthropozän
ABSTRACT. Am Beispiel der russischen Bombardierung und Zerstörung des Akademischen Drama Theaters in Mariupol geht der Beitrag der Frage nach, wie sich diese kriegerische Handlung als Teil eines Urbizids lesen lässt und was das Recht darüber denkt. Den Straftatbestand des Urbizids gibt es im Völkerrecht nicht, wohl aber einschlägige Bestimmungen sowie Versuche, analoge Bestimmungen rechtlich zu implementieren. Nur auf den ersten Blick, so das Argument, handelt es sich bei der Zerstörung von Gebäuden und städtischer Infrastruktur um eine Zerstörung der Umwelt des Menschen. Ähnlich wie beim Ökozid steht vielmehr die Zerstörung von Lebensgrundlagen auf dem Spiel – und eine Form der Gewalt des Menschen an seiner Mit-Welt, die man auch als Gewalt im Anthropozän bezeichnen kann. Nicht einfach, so scheint es, ist es für das Recht, seinen Gegenstand solchermaßen in Beziehungen zu denken.
Zugang zur Rechtsgestaltung: am Beispiel der Rolle des Wissens über Wirkungen in der Klimaschutzplanung
ABSTRACT. Kern des Klimaschutzrechts ist es, dass nur noch konkret bezifferte Mengen an CO2 in den kommenden Jahren in bestimmten Sektoren emittiert werden dürfen. Langfristig angelegte Kli-maschutzprogramme und Sofortprogramme müssen Maßnahmen entwickeln, mit denen die gesetzlichen Ziele erreicht werden. Damit kehrt eine Idee zurück, die insbesondere in den 1970er Jahren das staatliche Handeln nachhaltig geprägt hat: der Ansatz einer politischen Pla-nung über verschiedene Gesellschaftsbereiche hinweg, die einen umfassenden Geltungsan-spruch entwickelt. Zugleich rückt die Steuerungs- und Wirkungsdimension des Rechts stärker in den Mittelpunkt. Die Maßnahmen müssen in ihrer rechtlichen Ausgestaltung geeignet sein, die mit ihnen jeweils verbundenen Minderungsziele zu erreichen. Dabei handelt es sich freilich um höchst komplexe staatliche Interventionen in verschiedenste gesellschaftliche Teilbereiche und individuelle Handlungspräferenzen. Damit sind institutionelle, rechtssoziologische und rechtliche Fragen aufgeworfen, die in dem Beitrag diskutiert werden sollen: Wer erstellt auf welcher Wissensgrundlage mit welchen Methoden diese Wirkungsprognosen? Inwieweit und mit welchem epistemischen Hintergrund können Gerichte überprüfen, ob Maßnahmen in die-sem Sinn geeignet sind? Wie verhalten diese Planungen und Prognosen sich zum politischen Prozess, indem Rechtsetzungsoptionen bereits ausgeschlossen und Kompromissmöglichkeiten verengt werden?
Islam im Gerichtssaal - Welches Wissen hilft dabei?
ABSTRACT. Unstreitig ist die Rechtspraxis auf extrajuridisches Wissen angewiesen. Geht es beispielsweise um medizinische Fragen, konsultiert man Expert*innen aus dieser Fachrichtung und bittet sie um entsprechende Gutachten. Ziel der Forschungsarbeit ist es, herauszufinden, aus welchen Quellen Richter*innen ihr Wissen beziehen, wenn es um islamrechtliche und religiöse Fragen geht. Welche Überlegungen fließen in die Abwägung des Gerichts mit ein, wenn es z.B. entscheidet, dass es muslimischen Arbeitnehmenden zuzumuten ist, alkoholische Getränke einzuräumen, weil das Alkoholverbot sich nur auf den Genuss aber nicht auf jeglichen Umgang bezieht und eine Weigerung aus diesem Grund eine Kündigung rechtfertigt? Werden muslimische Expert*innen befragt und um ein Gutachten gebeten? Falls nein, woran liegt das?
Es soll auch der Frage nachgegangen werden, woher betroffene Muslim*innen ihr Wissen beziehen, wenn es darum geht zu entscheiden, ob etwas für sie aus religiöser Sicht erlaubt ist oder nicht.
Zuletzt soll geprüft werden, ob es nicht sinnvoll ist, Beratungsstellen einzurichten die mit muslimischen Expert*innen (bspw. Theolog*innen) besetzt sind und bei den oben dargestellten Problemen sowohl von den Gerichten als auch den Muslim*innen konsultiert und um Gutachten gebeten werden können.
Konstruiertes Wissen in polizeilichen Ermessensentscheidungen
ABSTRACT. Ermessensentscheidungen von Exekutivorganen setzen stets ein Wissen der handelnden Behörde voraus. Anhand der Rechtsdogmatik kann die Einzelfallentscheidung analysiert und rechtlich bewertet sowie das behördliche Wissen beurteilt werden. Was regelmäßig nicht gelingt ist die strukturelle Untersuchung einer behördlichen Praxis, die auf einem innerbehördlichen Wissenskanon basiert. Dieses Problem wird im Zusammenhang mit dem Vorwurf rassistischen Polizeiverhaltens virulent. Der Beitrag möchte daher die für die Analyse hilfreiche Forschung der empirischen Soziologie in Form von qualitativen Studien über die Polizei vorstellen und deren Anknüpfungspunkte für die Rechtswissenschaft aufzeigen.
Studien beschreiben das Selbstverständnis der Behörde Polizei und wie sich in ihr Wissen bildet. Welchen Einfluss Erfahrungswissen durch Ausbilder:innen hat und wie dieses weitergetragen wird und somit ein situativ konstruiertes Wissen, welches sich auch als rassistisches Wissen darstellen kann, bildet, ist für die Bewertung von polizeilichen Ermessensentscheidungen essenziell. Woher weiß die Polizei wie Verdächtige aussehen? Wie wird entschieden wer eine gefährliche Person ist?
Die Rechtssoziologie kann durch das Aufgreifen soziologischer Studien einen Beitrag leisten. Die empirischen Daten ermöglichen einen Zugang zur Rechtsanalyse, zu der die Dogmatik aufgrund ihres Fokus auf den Einzelfall nicht ohne interdisziplinäres Wissen in der Lage ist.
Übersetzungsrealitäten und konstruierte Wirklichkeit in der geheimen Kommunikationsüberwachung
ABSTRACT. Die geheime Kommunikationsüberwachung ist eine wichtige Ermittlungsmassnahme in Fällen von schwerer Kriminalität wie Drogen- und Menschenhandel. Falls überwachte Personen fremdsprachig sind, kommen sogenannte Sprachmittler/innen zum Einsatz. Ihre Aufgabe ist es, die Gespräche mitzuhören – mittels überwachter Telefone, verwanzter Fahrzeuge und Räume. Sie verdolmetschen und verschriftlichen Teile davon in die Verfahrenssprache. So entstehen Protokolle, die von der Polizei für die weitere Ermittlung ausgewertet und von der Staatsanwaltschaft allenfalls als Beweismittel verwendet werden.
Basierend auf einer quantitativ-qualitativen Inhaltsanalyse von Telefonprotokollen aus vier Schweizer Strafakten untersucht dieser Beitrag die Frage, wie Sprachmittlerinnen in die Selektion und Interpretation von Informationen eingreifen. Die Analyse zeigt auf, dass Sprachmittler bei der Verdolmetschung und Verschriftlichung auch Personen und Orte zu identifizieren sowie Gegenstände und Handlungen genauer zu bestimmen haben, die für den Sachverhalt relevant sein könnten. Unsere Ergebnisse verdeutlichen die Komplexität dieser Tätigkeit und die Relevanz unterschiedlicher Wissensbestände. So stützen sich die sprachmittelnden Personen nebst ihrem Sprachwissen auf kultur- und milieuspezifisches Alltagswissen sowie auf kriminalistisches Erfahrungswissen.
Die Strafjustiz tut sich schwer diesen Umstand zu akzeptieren und angemessen ins aktuelle Normengerüst zu integrieren. Gemäss Rechtsprechung des Schweizerischen Bundesgerichts sollen beispielsweise einzig Polizeiangehörige für die Selektion und Interpretation von Gesprächsinhalten verantwortlich sein. In dieser Wirklichkeitskonstruktion wird an der Fiktion festgehalten, dass Sprachmittlerinnen das Gehörte mechanisch von einer Sprache in die andere transferieren und es wird die Komplexität und Vielfältigkeit ihrer Tätigkeit ignoriert. Friktionen mit der Realität sind unvermeidlich.
Der Prozess der Mobilisierung des Rechts ist häufig in mehrfachem Sinne von Organisationen beeinflusst: Wird das Recht angerufen werden in der Regel Gerichte angerufen. Für die Durchsetzung individuellen und kollektiven Rechts wird auf Organisationen zurückgegriffen oder gar neu gegründet, nicht zuletzt aufgrund ihrer teilweise spezifischen Mobilisierungsrechte. Und nicht selten gründen Menschen Organisationen, weil mit diesen Interessen häufig besser durchsetzbar sind, obwohl sie diesen skeptisch gegenüberstehen. Aber Organisationen sind auch Orte, in denen Rechte erst mobilisiert werden müssen. Dazu müssen Gesetze häufig in organisationale Regeln umgesetzt, resp. übertragen werden und verändern dabei zumeist ihren Inhalt und Charakter. Gleichzeitig sind Organisationen selbst rechtlich konstituierte Systeme. Diese Prozesse zu erforschen, heißt explizit, Organisation (auch) in ihrer Funktion, als mögliche Voraussetzung und/oder Ressource für die (Nicht-)Inanspruchnahme bzw. Bezugnahme zum Recht zu befragen. Das vorgeschlagene Panel soll daher von drei Fragen geleitet werden: 1.) Wie wird Recht innerhalb von Organisationen mobilisiert? Welche Kräfte werden dabei wirksam? Welche stehen der Mobilisierung des Rechts entgegen? Wie verändert sich dabei das Recht, resp. seine Deutung? 2.) Wie werden Organisationen genutzt, um Recht zu mobilisieren? Welche Ambivalenzen werden dabei sichtbar? Wie verändern sich dabei Zielsetzungen der Akteure, die Recht mobilisieren und wie ändern sich Kräfteverhältnisse zwischen ihnen als Herausforderer und ihren Gegnern? 3.) Unter welchen Umständen und mit welchen Implikationen führt die Mobilisierung von Recht zu Verorganisierungsprozessen? Wie verändern sich dabei die beteiligten Akteure? Mit welchen Restriktionen und welchen Chancen sind diese Prozesse verbunden?
Die Mobilisierung des Gleichstellungsrechts in der Polizei
ABSTRACT. Wie rechtliche Regelungen in Organisationen zur Wirkung kommen, schien lange Zeit weitgehend klar zu sein: Das Recht definiert Bedingungen, unter denen Organisationen als legitim gelten, und setzt sie damit unter Anpassungsdruck. Organisationen müssen sich dem unterordnen, um ihre Legitimität zu sichern. Entgegen dieser klassischen Perspektive gehen wir von einem wechselseitigen, dynamischen Verhältnis von Recht und Organisation aus, und zeigen, wie Akteur:innen das Antidiskriminierungsrecht in der Polizei mobilisieren müssen, bzw. welche Kräfte einer Mobilisierung entgegen stehen. Auf Basis von ca. 15 mehrstündigen Interviews mit Gleichstellungsbeauftragten verschiedener Länder- und Bundespolizeien zeigt sich a), dass in dieser männlich dominierten und konnotierten Organisation die Grenzlinien widersprüchlich sind. Es kann nicht einfach zwischen Polizist:innen und Gleichstellungsbeauftragten, die das Recht zu mobilisieren suchen und denen, die diesem Ziel entgegenstehen, unterschieden werden. Weiterhin zeigt sich b) wie sich das Recht und die Organisationen im Zuge der Auseinandersetzung um die Mobilisierung verändern, und c) in welchem widersprüchlichen Verhältnis dabei Gleichstellungs- und Antidiskriminierungsrecht stehen.
Verbraucher:innenrecht trifft Antidiskriminierung? Über die (Nicht-)Mobilisierung von Antidiskriminierungsrechten durch Verbraucherzentralen
ABSTRACT. Verbraucherzentralen sind in Deutschland die zentralen Organisationen, um Verbraucher:innen zu schützen, ihre Interessen zu vertreten und niedrigschwelligen Zugang zum Recht zu ermöglichen. Sie sollen für alle Verbraucher:innen da sein, unabhängig von Geschlecht, Alter, Bildung, oder Herkunft. Diesem Anspruch werden sie allerdings nicht gerecht, wie in diesem Vortrag aufgezeigt wird. Auf der Grundlagen von Expert:inneninterviews mit Mitarbeitenden von Verbraucherzentralen, Rechtsexpert:innen und Aktivist:innen in Verbindung mit Dokumentenanalysen wird nachgezeichnet, wie Verbraucherzentralen die Mobilisierung von Antidiskriminierungsrechten verhindern. Es wird sichtbar, wie diese Nicht-Mobilisierung sowohl das Ergebnis einer enge Auslegung des Verbraucher:innenrechts, einer neoliberalen vebraucher:innenpolitischen Ausrichtung, einer marginalen Einbindung von Mitgliedsorganisationen als auch eines fehlenden Framings der Verbindung von Verbraucher:innenschutz und Antidiskriminierung ist. Insgesamt wird mit diesem Vortrag die Diskussion vertieft, wie Organisationen als zentralen Akteure bei der (Nicht )Mobilisierung von Rechten beteiligt sind.
Collective Mobilizations for Rights of Platform Workers in Berlin
ABSTRACT. This presentation examines the relationship between the type of organization and the capacity to mobilize for workers' rights in a context of the increasingly vibrant labor movement in Berlin. In recent years, a diverse set of social actors, including grassroot unions, traditional unions, work councils and non-governmental organizations have stepped up their efforts to improve working conditions of workers of the labor platforms. Drawing on six years of qualitative research focused on the less formalized organizations, such as worker collectives and activist networks, this presentation proposes to shift the focus of the debate about 'partial organizations' (Ahrne and Brunsson 2011; Apelt et al. 2017) to the groups' efforts to create alternative 'affective arrangements' (Slaby and Scheve 2019) and their decisions-making practices. Although ephemeral and instable by nature, these informal groups have proven adaptable and capable in articulating workers' rights in the public discourse about platform economy. This presentation focuses on the moment in a life-cycle of these groups when a decision is reached to evolve into a formal organization, for example a work council or an association, and the consequences that such decision has for the group's 'affective arrangement' and its ability to pursue certain rights, such as gender equality or co-determination of workplace technologies.
Zugänge zur Opferhilfe – Potenziale und Grenzen digitaler Angebote
ABSTRACT. Die Digitalisierung bietet zahlreiche Chancen für einen erleichterten Zugang zum Recht. Das gilt auch für die Opfer von Straftaten, auch wenn Innovationen bisher primär in den Rechtsbereichen zu finden sind, in welchen ökonomisch geleitete Interessen den Fortschritt stärker vorantreiben. Im strafrechtlichen Bereich liegt der Fokus der Debatte vor allem darauf, Hemmschwellen für Anzeigeerstatter*innen bei der Polizei abzubauen. Selbst die Antragstellung für die grundlegende staatliche Opferhilfe nach dem Gesetz über die Entschädigung für Opfer von Gewalttaten ist nur teilweise online möglich. Der Vortrag geht darüber hinaus und erweitert die Betrachtung auf nichtstaatliche Akteur*innen der Opferhilfe. Am Beispiel des „Weißen Rings e.V.“ werden Potenziale und Grenzen digitaler Zugänge zur organisierten Hilfe für Opfer von Straftaten analysiert. Wo können Zugänge durch digitale Lösungen eröffnet werden, die sonst verschlossen blieben? Können Ungleichheiten im Zugang zur Opferhilfe durch digitale Ansätze abgeschwächt werden? Und wo liegen die Grenzen digitaler Lösungen in einem maßgeblich auf menschlichem Beistand gründenden Unterstützungssystem? Diese und weitere Fragen werden auf Grundlage interner Statistiken und geführter Interviews mit Akteur*innen der nichtstaatlichen Opferhilfe untersucht.
Inklusion und Exklusion von Verletztenbelangen im Strafverfahren
ABSTRACT. Für Verletzte kann die erlebte Straftat ein einschneidendes Ereignis sein und unterschiedliche wirtschaftliche, physische und psychische Folgen haben. Daraus entspringen nicht selten verschiedene Interessenlagen, deren Durchsetzung auch im Strafverfahren angestrebt wird. Auch aus rechtssoziologischer sowie aus strafverfahrensrechtlicher Sicht lassen sich Gründe für die Berücksichtigung eben jener Verletzteninteressen finden. Dementsprechend wurden in den letzten Jahrzehnten zahlreiche verletztenbetreffende Rechte in die Strafprozessordnung implementiert. Anknüpfend daran wird sich zunächst mit der Frage auseinandergesetzt, ob diese schrittweise Veränderung der rechtlichen Situation auch tatsächlich den Bedürfnislagen entspricht und eine echte Wahrnehmung von Verletztenbelangen ermöglicht – das Strafverfahren also tauglicher Zugang für die Durchsetzung von Verletzteninteressen ist. In diesem Zusammenhang werden auch die dahingehenden Grenzen des Strafprozesses und dessen im Einzelfall den Verletzten exkludierender Charakter beschrieben. Das wiederum wirft die Frage auf, ob es ausreichende ergänzende staatliche Zugänge zur Durchsetzung von Verletzteninteressen gibt. Der Vortrag schließt mit Überlegungen zu neuen alternativen Unterstützungssystemen, die eine noch stärkere Berücksichtigung von Verletztenbelangen ermöglichen.
Barrieren im Strafverfahren für Menschen mit Behinderungen
ABSTRACT. Verschiedene nationale wie auch internationale (Dunkelfeld-)Studien zeigen, dass Menschen mit Behinderungen weitaus häufiger von Gewalt- und Sexualstraftaten betroffen sind als Menschen ohne Behinderungen. Die Studien verdeutlichen eine Wechselwirkung zwischen Gewalt und Behinderung. Zudem bleibt die Gewalt gegenüber Menschen mit Behinderungen häufig rechtlich ungeahndet. Menschen mit Behinderungen erhalten jedoch nicht nur als Opfer von Straftaten erschwerten und eingeschränkten Zugang zum Recht und sind strukturellen Barrieren im Strafverfahren ausgesetzt, sondern auch als Beschuldigte, zum Beispiel wenn ihre Beeinträchtigung nicht erkannt wird. Dies betrifft insbesondere Menschen mit kognitiven bzw. intellektuellen Einschränkungen.
In diesem Beitrag soll es darum gehen, wie die Ausgestaltung des Strafverfahrens zur rechtlichen Wehrfähigkeit von Menschen mit Behinderungen beitragen kann. Zunächst werden Barrieren im Strafverfahren für Menschen mit Behinderungen erörtert. Sodann lotet der Beitrag aus, was zu einer gleichberechtigten Ausgestaltung des Strafverfahrens von Nöten wäre und welche Potentiale in einer ableismussensiblen Strafverfolgung auch für andere vulnerable Gruppen zu sehen sind, die strukturellen Barrieren im Strafverfahren ausgesetzt sind.
Zugang zu Rechten im Ermittlungsverfahren für Betroffene von Menschenhandel
ABSTRACT. Es wird immer wieder kritisiert, dass es zu wenig Strafverfahren im Bereich des Menschenhandels gibt. Die Reform der Straftatbestände zu Menschenhandel im Jahr 2016 hatte u.a. zum Ziel, die Strafverfolgung zu verbessern. Nach wie vor ist jedoch kein signifikanter Anstieg der Verfahrensfallzahlen auf diesem Gebiet zu verzeichnen. Dabei ist die Strafverfolgung meist nur erfolgreich, wenn im Zuge des Verfahrens Opferzeug*innen aussagen, welche häufig traumatisiert und belastet sind. Dazu kommt es jedoch selten: Den Erhebungen des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachsen zufolge wird bereits der überwiegende Teil (78,3%) der Ermittlungsverfahren durch die Staatsanwaltschaften eingestellt (Bartsch et al, 2021: 77). Dies ist höchst problematisch, da in Deutschland die Rechte der Betroffenen von Menschenhandel eng an ihre Mitwirkung im und an die Durchführung von Strafverfahren gebunden ist.
Im Auftrag des Bundesweiten Koordinierungskreis gegen Menschenhandel - KOK e.V.* läuft derzeit eine Untersuchung zum Thema „Rechte von Betroffenen von Menschenhandel im Ermittlungsverfahren“.
Ziel ist es, durch die Identifizierung von Zugangshürden für Betroffene zu ihren Rechten im Ermittlungsverfahren, Erkenntnisse zur Verbesserung des Opferschutzes zu gewinnen. Dabei wird untersucht, inwieweit die Arbeitshypothese bestätigt werden kann, dass ein Zusammenhang zwischen der Einhaltung und Stärkung von Betroffenenrechten und einer gelungenen Strafverfolgung besteht. In der Studie werden hierfür zunächst die vielschichtigen Hürden für Betroffenen vor und im Ermittlungsverfahren benannt. Darauf aufbauend werden Empfehlungen abgegeben, wie jene Hürden gesenkt, dadurch die Rechte von Betroffenen gestärkt und letztendlich die Ermittlungsverfahren erfolgreicher werden können.
Es stehen folgende Punkte zur Diskussion: Welche Bedingungen und Voraussetzungen begünstigen das Einleiten von Ermittlungs- und Strafverfahren? Welche Unterstützung der Betroffenen ist notwendig oder hilfreich, um die Initiierung von Strafverfahren zu befördern? Welche Rechte der Betroffenen müssten hierbei besonders beachtet werden? Was bedeutet eine Einstellung der Ermittlungsverfahren für den Schutz der Betroffenen?
Die Erkenntnisse werden anhand von Hintergrundrecherchen und bundesweit geführten, qualitativen Interviews gewonnen. Interviewt werden alle relevanten Akteure: Mitarbeitende von Fachberatungsstellen und der Finanzkontrolle Schwarzarbeit, Polizist*innen, Staatsanwält*innen sowie Rechtsanwält*innen. Fertigstellungszeitpunkt der Studie ist Juli 2023.
Die vorläufigen Erkenntnisse lassen schon jetzt vermuten, dass die nicht- oder mangelhafte Beachtung einiger Betroffenenrechte sowohl für die Betroffenen selbst als auch für den Erfolg der Ermittlungen insgesamt abträglich ist. Folglich stellt wohl die Beachtung und Stärkung von Betroffenenrechten ein wesentliches Element beim Abbau von Zugangshürden für Betroffene dar.
Die Studie wird von Anne- Kathrin Krug konzipiert und verfasst. Die Ergebnisse der Untersuchung werden zusammen mit ausgewählten Reformvorschlägen zum Opferschutz durch die zuständige Rechtsreferentin des KOK e.V., Sophia Härtel, vorgestellt und diskutiert.
*Der Bundesweite Koordinierungskreis gegen Menschenhandel – KOK e.V. vernetzt 43 Fachberatungsstellen und bildet die Schnittstelle zwischen Praxis, Öffentlichkeit und Politik. Der KOK e.V. engagiert sich auf regionaler, nationaler und internationaler Ebene für die Durchsetzung des Schutzes Betroffener von Menschenhandel und Ausbeutung.
In Deutschland regelt das SGB VIII das Recht der Kinder- und Jugendhilfe. Nach § 1 und § 9 soll der hilfeleistende und kontrollierende Staat (sog. Doppelmandat) gerechte Lebensbedingungen für alle junge Menschen sicherstellen und Benachteiligung abbauen. Dabei spielt das Jugendamt eine zentrale Rolle. Hier in der Verwaltung treffen Sozialarbeiter:innen als „street level bureaucrats“ (Lipsky 2010) rechtswirksame Entscheidungen in Bezug auf die soziale Teilhabe von Kinder- und Jugendlichen, wie auch deren Eltern. Skandale um Rassismus und Diskriminierung durch Jugendämter haben aufgezeigt, dass dabei verfassungsrechtliche Abwehr- und Schutzfunktion des Gleichbehandlungsgebots bzw. des Diskriminierungsverbots nicht zwangsläufig in Alltagsroutinen greifen. Im Anschluss an die wachsende rechtswissenschaftliche Forschung zum Themenfeld Rassismus (vgl. Barskanmaz 2019; Froese und Thym 2022; Gruenberger u. a. 2021; Hauck 2022; Liebscher 2021) ergründet das Panel welche Aufschlüsse empirische Rechtsforschung über Rassismus in der Realisierung sozialer Rechte in der Kinder- und Jugendhilfe geben kann.
Institutioneller Entscheidungsstrukturen im Jugendamt rechtssoziologisch betrachtet
ABSTRACT. Dem rechts- und organisationssoziologischen Forschungsprojekt „Inklusive Verwaltung am Beispiel des Jugendamtes“ liegen folgende Forschungsfragen zugrunde: Welche diskriminierenden Wissensbestände, rassistischen Normvorstellungen und Leitbilder sind in Jugendämtern im Allgemeinen und in Entscheidungsfindungsprozessen im Besonderen vorzufinden? In welchen Praktiken schlagen sich diese Wissensbestände nieder und wie reproduzieren und festigen sich diese? Welche Strukturen bietet das Jugendamt seinen Mitarbeitenden als Rahmenbedingungen, die Rassialisierung begünstigen, sodass daraus Diskriminierung resultieren kann? Welche Legitimations- und Rechtfertigungsstrategien werden genutzt, um solche Diskriminierungen zu verteidigen? Diskutiert wird auf der Grundlage empirischer Analysen, welche Rolle behördeninternen Steuerungs- und Kontrollstrukturen als Reaktions- und Sanktionsmechanismen in Fällen von rassialisierten Verhaltens- und Entscheidungsmustern bilden können und wie sie auf eine Garantie sozialer Rechte hinwirken.
Der Görgülü-Beschluss Revisited: Eine rassismuskritische Neubetrachtung
ABSTRACT. Cengiz Barskanmaz wird den rechtshistorischen Görgülü-Beschluss des Bundesverfassungsgerichts als Ausgangspunkt nehmen, um die nicht erzählte Aspekte dieses Falles nach ca. 20 Jahren rechtsethnographisch neu zu erzählen. In seinem Forschungsprojekt geht es zum einen um die rassial diskriminierenden Praktiken der Jugendämter und zum anderen um die perpetuierten biases in der fachgerichtlichen Rechtsprechung. Aufbauend auf diese Kritik wird er der Frage nachgehen, inwiefern heutiger Praktiken der Jugendämter, insbesondere in der Rolle des staatlichen Wächteramts, eine Kontinuität von Exklusionen aufzeigen. Dementsprechend wird hier die Frage aufgeworfen, ob etwa bei der Handhabung des unbestimmten Rechtsbegriffs der Kindeswohlgefährdung extralegale Faktoren in den Entscheidungsprozess einschleichen. Es geht insbesondere darum, ein tieferes Verständnis von vorurteilsbehafteten Wissensbeständen in den Verwaltungspraxen der Jugendämter zu eruieren, die ihre Wirkung bereits im Vorfeld der Rechtsanwendung entfalten und deshalb durch einen handlungsorientierten Diskriminierungsbegriff rechtlich nicht immer erfasst werden.
Institutioneller Kindesentzug und Zugänge zu Rechten
ABSTRACT. Die Trennung von Kindern und Eltern durch staatliches Eingreifen ist verfassungsrechtlich nur bei einer Gefährdung des Kindeswohls zu rechtfertigen und nur unter den in Art. 6 Abs. 3 Grundgesetz genannten Zwecken zulässig. Danach darf ein Kind gegen den Willen von Sorgeberechtigten nur von der Familie getrennt werden, wenn diese versagen. Dabei berechtigt nicht jedes Versagen oder jede Nachlässigkeit der Eltern den Staat, auf der Grundlage seines ihm nach Art. 6 Abs. 2 Satz 2 Grundgesetz zukommenden Wächteramtes die Eltern von der Pflege und Erziehung ihres Kindes auszuschalten. Mein Vortrag diskutiert, inwieweit in der Praxis die Abwägung von elterlichem Fehlverhalten und von Kindeswohlgefährdung von (historischen) Rassismen informiert ist (vgl. - 1 BVR 1178/14). Dabei problematisiere ich einerseits den rechtlichen und sozialarbeiterischen Fokus auf die elterliche Erziehungsfähigkeit, sowie die Rolle gesellschaftlicher Normen guter Erziehung. Andererseits stelle ich die Frage nach staatlich verursachten Gefährdungsfaktoren für Kinder. In meinem Vortrag beziehe ich mich auf empirische Daten aus meiner Masterarbeit (Ulmer 2022) und aus der laufenden Forschung zu meiner Promotion.
Ulmer, Lea (2022): „without the blame they cannot deal with them“ - Die Wegnehmbarkeit von Kindern im Begegnungsverhältnis alleinerziehender geflüchteter Frauen und den Jugendämtern. https://zenodo.org/record/6528722
Die Globalrechtshistoriographie und das 19. Jahrhundert
ABSTRACT. Jede globale bzw. transnationale Rechtshistoriographie steht vor zwei zentralen Herausforderungen. Eine rechtshistorische Darstellung, die auf den nationalen Bezugsrahmen verzichtet, ist im Gegensatz zum traditionellen Ansatz der vergleichenden Rechtshistoriographie erstens mit der horizontalen Problematik konfrontiert, die multinationale Vielfalt juristischer Kulturen einer gegebenen Epoche in einem einheitlichen Begriffsrahmen zu behandeln. Die verwendeten Kategorien müssen breit genug sein, um das ideologische Spektrum verschiedener Rechtsfamilien oder -kulturen abzudecken. Zweitens erfolgt jeder historische Rückblick aus einer bestimmten gesellschaftlichen Gegenwart heraus und ist durch diese bedingt, so dass sich jede Historiographie, ob national, transnational oder global orientiert, eine Überprüfung der vertikalen Dimension ihrer konzeptionellen Entscheidungen gefallen lassen muss.
Der Beitrag diskutiert die zeitgenössische Historiographie des globalen Rechtsdenkens des 19. Jahrhunderts im Lichte dieser zwei Herausforderungen. Wie in Auseinandersetzung mit der gegenwärtigen rechtshistorischen Forschung (z.B. Duncan Kennedy, Thomas Duve) gezeigt werden soll, hat sich die Globalrechtshistoriographie vor allem der ersten Herausforderung gestellt, während der zweiten generell weniger Aufmerksamkeit geschenkt wird. Die Historiographie neigt zu einer voreingenommenen Perspektive auf die Rechtsepoche des 19. Jahrhunderts, die gerne als „formalistisch“ und „positivistisch“ dargestellt wird. Der Beitrag verfolgt diese einseitige Perspektivierung auf geschichtspolitische Professionsstreite des frühen 20. Jahrhunderts zurück.
ABSTRACT. Das Völkerstrafrecht sieht die individuelle Verantwortlichkeit gegenüber der Welt vor. Es bildet die Grundlage für die globale Inklusion von Individuen, damit ist die potentielle Berücksichtung dieser als Täter:in, Opfer oder anderweitig beteiligter Personen gemeint. Diesen universellen Anspruch setzen deutsche Gerichte durch, indem sie Strafverfahren gegen Personen wegen ihrer Taten im syrischen Bürgerkrieg führen. Der Internationale Strafgerichtshof (IStGH) in Den Haag bemüht sich auch darum, indem er US-Soldaten für ihr Verhalten in Afghanistan verfolgt, obwohl die USA die Zusammenarbeit mit dem Gerichtshof verweigern. Doch gegenüber diesem universellen Anspruch globaler Inklusion gibt es Widerstand. Die USA haben unter der Trump-Administration den IStGH sanktioniert. Für den russischen Angriffskrieg auf die Ukraine ist die Aggression nicht anklagbar. Deshalb wird derzeit die Alternative eines Sondertribunals diskutiert, um den russischen Präsidenten und Weitere anklagen zu können.
Der Vortrag geht der Frage nach, wie sich globale Inklusion durch das Völkerstrafrecht gestaltet. Im Vordergrund stehen die Widerstände und Herausforderungen in der Umsetzung eines universellen Geltungsanspruchs. Es wird die These vertreten, dass sich jenseits eines Widerspruchs zwischen Normativität und Faktizität eine kommunikative Selbstbindung der Beteiligten entfaltet und so eine eigene Form globaler Inklusion ausbildet.
Die Rede von Jurist*:Innen über Klassenjustiz – ein Etikettenschwindel?!
ABSTRACT. Jurist*:Innen thematisieren den Begriff Klassenjustiz in der Regel ohne jegliche Grundlegung durch die sozialwissenschaftlichen Disziplinen. Dies gilt für Sozialrechtler*:Innen genauso wie für die Bereiche Kriminologie, asymmetrische Rechtsverhältnisse, Steuerrecht etc. Die juristischen Protagonisten sind in der Regel Lehrstuhlinhaber an juristischen Fakultäten im deutschen Sprachraum.
Der Beitrag zeigt die soziologischen, philosophischen und historischen Aspekte der Klassenjustiztheorie, insbesondere wie die Verstrickung der juristischen Profession in den staatlichen Macht- und Erwerbsapparat den Protagonisten den Blick verstellt, v.a. im Bereich des sich progressiv verstehenden Sozialrechts und der Rechtlichen Betreuung.
Estermann J: Strafgefangene. Selektive Sanktionierung, Definition abweichenden Verhaltens und Klassenjustiz, FfM, 1984
ders.: Sozioökonomische Bedingungen und Arbeitsgerichtsbarkeit, in Rottleuthner H (Hg): Rechtssoziologische Studien zur Arbeitsgerichtsbarkeit, Schriften der Vereinigung für Rechtssoziologie, 1984, Nomos, Baden-B
ders.: Anarchie, Herrschaft, Staat, in Mathis K, Langensand L (Hg): Anarchie als herrschaftslose Ordnung? Duncker & Humblot, Berlin 2019
ders.: Brauchen wir Kriminologie? in Cremer-Schäfer H, Pilgram A (Hg): Kritik. Ironie. Gesellschaft, Festschr für R Kreissl, Wien, 2023 im Druck
Spree R, Estermann J, Triebel A: Ökonomischer Zwang oder schichttypischer Lebensstil? in Elstermann (Hg): Bildung und Beruf, Springer, Berlin 1986
Die Last Minute Gesetzgebung des österreichischen Bundesgesetzgebers jeweils zu Jahresende
ABSTRACT. Die Gesetzgebungsaktivität des österreichischen Bundesgesetzgebers ist nicht gleichmäßig über das Jahr verteilt. Dies gilt für das Jahr 2022, aber auch für alle Jahre seit 1945. Nun ließe sich sagen, dass sich aufgrund der tagungsfreien Zeit des Nationalrates (jedenfalls 16.7. bis inklusive 14.9.) eine kontinuierliche, gleichmäßige Gesetzgebungsaktivität über sämtliche zwölf Monate und 52 Wochen sowieso nicht darstellen lässt. Doch selbst wenn man die tagungsfreie Zeit des Nationalrates herausnimmt, so ist auch hinsichtlich der übrigen Zeit keine gleichmäßige, kontinuierliche Gesetzgebungsaktivität des Bundesgesetzgebers erkennbar. Eine Ursache dafür liegt zum einen darin, dass der Gesetzgeber auf aktuelle Ereignisse und damit verbundene Regelungsbedarfe regiert und aktuelle Ereignisse (z.B. Corona-Pandemie, Ukraine-Krieg) eben nicht gleichmäßig über die Zeit verteilt auftreten. Erkennbar ist zudem, dass zu ganz bestimmten Zeiten häufig – wenn auch nicht stets – eine erhöhte Gesetzgebungsaktivität stattfindet. Gleichsam auf den letzten Drücker, last minute, werden viele Gesetze noch vor der Sommerpause und zu Jahresende beschlossen. Der Einreicher hat alle 78 Jahre von 1945 bis 2022 im Hinblick auf eine Last-Minute-Gesetzgebung zu Jahresende hin untersucht. Er präsentiert seine Ergebnisse und stellt die zur Anwendung gelangten Kriterien (Anzahl der Bundesgesetzblätter im Dezember im Verhältnis zur Anzahl der Bundesgesetzblätter im ganzen Jahr u.a.) zur Diskussion. Auch soll erörtert werden, inwiefern eine solche Last Minute Gesetzgebung zu Jahresende problematisch ist oder zumindest problematisch sein kann.
Politische Deutungsmuster und die Ambivalenz von Whistleblowing im Parlament
ABSTRACT. Whistleblower, die Missstände in Organisationen melden, müssen infolge der Offenlegung sensibler Informationen mit Repressalien im beruflichen sowie privaten Kontext rechnen. Dennoch offenbaren sich diese Personen und eröffnen dem fraglichen Sachverhalt damit einen spezifischen Zugang zum Recht. Dabei bilden sie eine Projektionsfläche für Transparenzerwartungen, die von der Öffentlichkeit und den Medien an sie herangetragen werden. Gleichzeitig unterliegen sie Solidaritäts- und Loyalitätspflichten in ihrer Organisation. Dementsprechend wird die Sozialfigur des Whistleblowers in widersprüchlicher Weise bewertet. Dieser Bewertungskonflikt – also die Kontroverse, ob und wann Whistleblowing als spezieller Modus des Rechtszugangs als legitim gelten kann – äußert sich nicht nur in der medialen Wahrnehmung auf etwa Plattformen sozialer Netzwerke oder Tageszeitungen, sondern spiegelt sich im parlamentarisch rechtspolitischen Diskurs. Insbesondere der Whistleblowerschutz war lange Zeit ein Gegenstand der wiederholten rechtspolitischen Auseinandersetzung im Parlament – nicht zuletzt aufgrund von medienwirksam aufbereiteten, internationalen Whistleblowingfällen (Causa Snowden). Der Beitrag analysiert anhand von Bundestags-Drucksachen, inwiefern (und mit welchen Folgen) sich diese ambivalenten Bewertungen explizit und implizit in den Realitäts- und Funktionsvorstellungen der in den legislatorischen Prozess eingebundenen Akteure (u.a. Fraktionsmitglieder, Sachverständige) ausdrücken.
Regulierung von Airbnb in Berlin - Auswirkungen des Zweckentfremdungsverbots
ABSTRACT. Das Geschäftsmodell des Unternehmens Airbnb ist mittlerweile weltweit bekannt, die Vermittlung von Unterkünften vor allem in Städten ist bereits vielfach Thema wissenschaftlicher Untersuchungen geworden. Während bisherige Fragestellungen insbesondere in der Stadtsoziologie sowie der Digitalisierungssoziologie und -ökonomie diskutiert wurden, soll dieser Beitrag aus interdisziplinärer Perspektive Rechtstatsachenforschung betreiben.
International haben viele Städte und Gemeinden Regulierungen und Satzungen zur Beschränkung der Kurzzeitvermietung von Wohnraum erlassen, auch in Deutschland gilt dies z.B. für die Länder Berlin und Hamburg. Mit dem Zweckentfremdungsverbotsgesetz (ZwVbG) und insbesondere der Novellierung im Jahr 2018 ist in Berlin eine Regulierung in Kraft getreten, die auf die Beschränkung und Unterbindung v.a. kommerzieller Wohnungsangebote abzielt. Welche Effekte sich durch die Novelle des ZwVbG beobachten lassen, ist Gegenstand dieses Vortrags. Dazu wurden die Daten der Berliner Airbnb-Angebote mittels quantitativer Zeitreihenanalysen (OLS-Regression) auf Anzahl- und Umsatzveränderungen untersucht.
So kann gezeigt werden, welche Differenzen zwischen den im Gesetzeswortlaut als Zweckbestimmung formulierten Zielen und den real erreichten Effekten bestehen. Insbesondere hinsichtlich der Unterscheidung zwischen privaten und kommerziellen Anbietern sowie der räumlichen Verteilung und der Umsatzzusammensetzung wird deutlich, welche Angebote durch das Berliner Zweckentfremdungsverbot tatsächlich betroffen sind.
Dieses Panel ist eine Podiumsdiskussion zum international intensiv und kontrovers verhandelten Feld der Klimaklagen, moderiert und mit kritischen Fragen geleitet von Dr. Kirsten Wiese, in gewisser Weise in der Perspektive von "Author meets Critics". Thema sind Genese, Inhalt und Folgen der BVerfG-Klima-Entscheidung von 2021, zum einen aus der Sicht desjenigen, der die Entscheidung seit 2000 wissenschaftlich vorbereitet und 2018 anwaltlich die Verfassungsbeschwerde für SFV, BUND und einige Einzelkläger erhoben hat (2020 schlossen sich weitere Verbände und Einzelpersonen etwa von FFF an) - Prof. Dr. Dr. Felix Ekardt. Besonderes Gewicht erhalten dabei die rechtssoziologischen Aspekte: die bislang öffentlich oft übersehenen genauen Entstehensbedingungen des Rechtsstreits; die Wirkungen im politischen Berlin, Brüssel usw.; und die Bedingungen eines wirksamen Umweltrechts. Zum anderen soll die Entscheidung, die politisch und juristisch weltweit wahrgenommen wurde und die das erste Mal markiert, wo das BVerfG einer Klage auf mehr Umweltschutz gegen die Gesetzgebung stattgegeben hat, aus der Sicht des Auslands unter Einbeziehung der dortigen durchaus skeptischen Debatte betrachtet werden - von PD Dr. Teresa Weber (Wirtschaftsuniversität Wien).
„Nicht ohne meinen Anwalt“? Die Rolle von außerrechtlichem Wissen im Zuge von Digitalisierungsprozessen im Arbeits- und Sozialrecht
ABSTRACT. Seit einigen Jahren wird eine zunehmende Digitalisierung von Rechtsdienstleistungen diskutiert. Diese betreffen auch juristische Kernbereiche wie die Rechtsberatung und die Mediation. Insbesondere im Zuge der Corona-Pandemie wurde die Digitalisierung von Arbeitsprozessen durch digitale Medien, die eine synchrone und lokal dezentrale Kommunikation (z.B. Telefon- und Onlinekonferenzen, Chatlösungen) oder auch asynchrone Abstimmungsprozesse ermöglichen (E-Mail), weiter forciert. Welche Konsequenzen dies für die professionelle Rechtsberatung, welche üblicherweise auf der Trias von „Lebenspraxis, Text und Theorie“ (Maiwald 2008, 2016) beruht, und für das Zusammenspiel von juristischem und außerrechtlichem Wissen hat, ist bisher völlig unklar.
Auf der Grundlage aktueller qualitativer Erhebungen argumentieren wir, dass eine Digitalisierung der Fallberatung und Mediation im Bereich des Sozial- und Arbeitsrechtes weitreichende Folgen für den Zugang zu dem erforderlichen Fallwissen hat. So gehen je nach der Art der digitalen Kommunikation das im Rahmen der juristischen „Interaktionsarbeit“ notwendige außerrechtliche und häufig implizite Fallwissen zum Teil verloren. Damit führt der Beitrag die arbeitssoziologische Debatte zur Digitalisierung und Interaktionsarbeit mit der rechtssoziologischen Forschung zur Rechtsmobilisierung zusammen.
Soziale Deutungsmuster von Altersdiskriminierung und der Einfluss verschiedener Gleichbehandlungsregime in Irland und Österreich.
ABSTRACT. Mit dem Wandel der Altersstrukturen europäischer Gesellschaften rückt das hohe Alter als Lebensphase zunehmend in den Blick einer Vielzahl an wissenschaftlichen Disziplinen. Im Zuge dieser Fokussierung werden die unterschiedlichen Problemlagen mit denen ältere Menschen konfrontiert sind sichtbar. Eine dieser Problemlagen ist die Diskriminierung aufgrund des hohen Alters. Gegenwärtig existiert ein umfangreicher Bestand an (alters-)soziologischer Forschung zur Diskriminierung älterer Menschen am Arbeitsmarkt, in der Gesundheitsversorgung, sowie zu stereotypen und vorurteilsbehaften gesellschaftlichen Altersbildern. Beiträge die Altersdiskriminierung aus rechtssoziologischer Sicht betrachten sind rar. Der vorliegende Beitrag zielt darauf diese Lücken ein Stück weit zu schließen, indem er die Deutungsmuster älterer Menschen, die von Altersdiskriminierung beim Zugang zu Dienstleitungen und Gütern betroffen sind, rekonstruiert. Auf Grundlage von Interviews mit 29 älteren Menschen in Irland und Österreich wird dafür analysiert, inwiefern rechtlich konnotierte, normative Orientierungen, etwa Vorstellungen über formale oder substantive Gleichheit, den Deutungen von Diskriminierungserfahrungen zu Grunde liegen und welchen Einfluss dabei unterschiedliche Gleichbehandlungsregime haben. Unter Rückgriff auf die Tradition der legal consciousness studies und unter Bezug zu gegenwärtigen Anerkennungstheorien wird abschließend die in diesen Deutungsmuster zutage kommende Rolle des Rechts für und wider der Identifikation und Benennung von Diskriminierungserfahrungen diskutiert.
Rechtliche Zugänge zur ökologischen Krise“:Die ökologische Krise stellt das Recht vor fundamentale Herausforderungen. So wird etwa unter dem Stichwort „Anthropozän“ das Recht mit dem human factor konfrontiert, mit dem Menschen und seinem Verhalten als treibende Kraft der Krise. Dabei kann man zunächst allgemein fragen: Welche Aspekte der ökologischen Krise finden Eingänge in das Recht, welche nicht? Lassen sich hier Umbrüche im Recht erkennen? Aber auch spezifischer: Kann angesichts dessen das menschengemachte Recht Zugänge bieten, um auf die zugrunde liegenden Probleme zu antworten? Wer oder was, d.h. welche Akteur:innen, bekommen dabei Zugang zum Recht – bzw. werden davon ausgeschlossen? Zwischen Dringlichkeit der Situation und Trägheit der Prozesse der rechtlichen Bearbeitung, welche Temporalitäten treffen hier aufeinander?
Diskutieren werden
Malte Gruber (Justus-Liebig-Universität Gießen)
Johan Horst (MPI für Rechtsgeschichte und Rechtstheorie Frankfurt am Main)
Doris Schweitzer (Goethe-Universität Frankfurt am Main)
COVID-19 und Klimaaktivisten - Versammlungsfreiheit vor Gericht
ABSTRACT. Demonstrationen in der COVID-19-Pandemie etablierten über Monate das Primat der Exekutive im Versammlungsgeschehen. Als weiterer Akteur traten in Deutschland die Verwaltungsgerichte eher verhalten auf den Plan.
Eine Datenbankrecherche verzeichnet mehrere hundert verwaltungsgerichtliche Entscheidungen zu Versammlungsfreiheit im Kontext der Pandemie. Die tatsächliche Zahl der von Beschränkungen oder Verboten betroffenen Versammlungen liegt deutlich höher. Hinzu kommen repressiv-polizeiliche Maßnahmen nach dem Straf- und Ordnungswidrigkeitenrecht. Das Bundesverfassungsgericht hielt sich bis Ende 2022 mit Blick auf Versammlungen auffallend bedeckt und hat nur Eckpunkte im einstweiligen Rechtsschutz herausgearbeitet.
Die Antworten der Verwaltungs- und Verfassungsgerichtsbarkeit auf Verbote oder Beschränkungen von Versammlungen aus Gründen des Infektionsschutzes lassen sich grob in drei Phasen unterteilen, die in unterschiedlicher Ausprägung Beschränkungen der Versammlungsfreiheit akzeptierten oder beanstandeten. Seit Herbst 2022 wird nunmehr auf Klimaproteste durch Straßenblockaden zunehmend repressiv reagiert, wobei eine deutliche Verschiebung in das Strafrecht und präventiv-polizeiliche Maßnahmen stattfindet. Hinterfragt wird im Beitrag, ob der Umgang mit Versammlungen während der Pandemie als „Vorlage“ für eine neue restriktivere Auslegung der Versammlungsfreiheit dient.
Gerichte zwischen Regierung und Gläubigen: Religionsfreiheit in der Corona-Rechtsprechung
ABSTRACT. Das vollständige Verbot religiöser Zusammenkünfte in Kirchen, Moscheen und Synagogen im Frühjahr 2020 war der größte Eingriff in die Religionsfreiheit in Deutschland (und wohl auch anderen Staaten) seit dem Zweiten Weltkrieg. Gerichte sind seit Beginn der Pandemie damit befasst, die einschlägigen Corona-Schutzregelungen auf ihre Rechtmäßigkeit zu überprüfen. Die bisherigen Fälle mit Bezug zur Religionsfreiheit lassen sich folgendermaßen grob gruppieren: (1) Beschwerden gegen das Totalverbot von Gottesdiensten in der Anfangsphase; (2) Beschwerden gegen spätere Auflagen wie z. B. Maskenpflicht, Gesangsverbot oder reduzierte Teilnehmerzahl; und (3) Beschwerden nicht-religiöser Personen wegen einer Verletzung des Gleichheitsgrundsatzes.
Die angerufenen Gerichte haben die mit spezifischen Grundrechtsgewichtungen verbunden Maßnahmen der Politik bislang überwiegend aufrechterhalten und bis auf wenige Ausnahmen kaum eigene Akzente gesetzt oder die exekutiven Entscheidungen kritisiert. Es ist aber möglich, unterschiedliche Rechtsprechungsansätze zu identifizieren, die man u. a. als bessere oder schlechtere Zugänge zu bestimmten (Grund-)Rechten interpretieren kann. Der vorwiegend explorativ angelegte Beitrag basiert auf einer qualitativen Analyse von derzeit ca. 50 Gerichtsentscheidungen in Deutschland zu Corona-Maßnahmen mit Bezug zur Religionsfreiheit.
Kontrollierbarkeit und Korrekturfähigkeit von Rechtsprechung – Theoriebildung anhand einer Fallstudie
ABSTRACT. Der reale Zugang zum Recht – als einem Ideal, an dem sich die Rechtspraxis orientiert – hängt nicht nur von den sozial, wirtschaftlich und rechtlich bedingten Möglichkeiten der Rechtsuchenden, sondern auch von der ‚Zuverlässigkeit‘ der Rechtsprechung ab. Denn ein sozial und institutionell gewährter Zugang zum Recht im Sinne des Justizgewährungsanspruchs liefe ins Leere, wenn Parteien bei Gericht, dem zynischen Sprichwort gemäß, nur Entscheidungen und nicht auch Recht (im idealisierten Sinn) erhielten. Andreas Voßkuhle stellte diesbezüglich in „Rechtschutz gegen den Richter“ zunächst fest, dass innergerichtlich erhebliche Kontrolldefizite beständen und der „überwiegende Teil der richterlichen Machtausübung […] unkontrolliert“ sei; er schloss seine Forschungsarbeit dann jedoch mit dem Fazit – oder vielmehr: Postulat –, dass die der Gewaltenteilung äquivalente Aufgabenverteilung zwischen den Tat- und Revisionsinstanzen ein wirksames Mittel der innergerichtlichen Gewaltenkontrolle sei.
Der Vortrag überprüft das Postulat anhand eines konkreten Falls: einer Divergenz, die seit annähernd 30 Jahren sowohl innerhalb der Sozialgerichtsbarkeit als auch in ihrem Verhältnis zur Judikatur anderer Fachgerichte besteht. Der Vortrag beschreibt 1. die Ursachen für diese Divergenz, 2. erörtert, was unter Korrekturfähigkeit in Bezug auf Judikatur generell gemeint sein kann, und stellt 3. die Mittel vor, die sich im konkreten Falls für eine solche Korrektur bisher als geeignet erwiesen haben.
ABSTRACT. Das Wissen über Recht speist sich aus unterschiedlichsten Quellen, darunter aus fiktionalen Film- und Fernsehsendungen. Lange wurde darüber diskutiert, wie diese Einflüsse aussehen. Bewirken sie am Ende eine Art Rufschädigung für Juristen, Gerichte oder etwa die Polizei? Aus dramaturgischen Gründen kontrastieren Rechtsdarstellungen in der populären Kultur „justice figures“ mit „injustice figures“ (Nicole Rafter). Nur ist es meist so, dass die ersteren die Oberhand behalten. Jedoch wird dem Publikum kein blindes Vertrauen nahegelegt, eher unterstützen fiktionale Formate eine klassisch liberale Sicht auf das Recht: es kann schief gehen und daher braucht es rechtsstaatlicher Garantien. Dies ist die allgemeinste Botschaft, die Film und Fernsehen über Recht senden. Daneben wird dem Publikum durch die Menge an US-Produkten das dortige Rechtssystem dargestellt. Es kann daher zu Mißverständnissen kommen. Entscheidend auch das Interesse, das Zuschauer Rechtsdarstellungen entgegenbringen: Wer negative direkte Erfahrungen hat, mag dann auch etwa justizkritische Filme und Sendungen auswählen und solche mit positiver Botschaft ablehnen. Darstellungen nach historischen Ereignissen tendieren dazu, eine beunruhigende Sicht zu vermitteln. Schließlich sind die Fälle im Bewußtsein geblieben, weil sie als nicht überzeugend gelöst erscheinen. Ein anderes ausgesprochen kritisches Subgenre sind Militärgerichtsdramen, die meist zeigen, wie die Rechte Einzelner für politische Ziele geopfert werden.
Zur Bedeutung unterschiedlicher Social-Media-Kanäle für die Vermittlung von Wissen über Recht
ABSTRACT. Auf der Grundlage einer empirischen Untersuchung, die falsche Informationen über Recht in den sozialen Medien offenbarte, soll der Vortrag der Frage nachgehen, wie soziale Medien das Rechtsbewusstsein beeinflussen und welche sozialen Fähigkeiten und rechtlichen Rahmenbedingungen es Bedarf, um die sozialen Medien als Quelle des Wissens über Recht handhabbar zu machen.
Knowledge and Opinion about Law – the Importance of Law-Related Education
ABSTRACT. The first international comparative socio-legal projects in the 1960s and 1970s had the aim to measure knowledge and opinion about law in the population. While legal consciousness as part of legal culture had always stayed on the agenda of sociology of law, research on KoL gained a new momentum in the past ten years. In our increasingly diverse societies various legal cultures clash, a growing distrust in democracy, the state and institutions is observed. It is therefore important to tie up with the former research and learn about problems and deficits in KoL to react with measures of legal education particularly for pupils at school.
ABSTRACT. Die Kundmachung von Rechtsvorschriften hat eine besondere Bedeutung in unserer Rechtsordnung. Sie schafft die Möglichkeit, vom Recht Kenntnis zu erlangen, was nicht nur für dessen Effektivität, sondern auch aus rechtsstaatlichen Gesichtspunkten wichtig ist, weil sie das Staatshandeln vorhersehbar macht.
Auch wenn Verlautbarungen im RIS scheinbar leicht aufgerufen werden können, sind sie dennoch für Expert:innen wie Lai:innen oft weitgehend unverständlich. Oft werden nur einzelne Worte eingefügt oder gestrichen. Umfangreiche Änderungen werden in Sammelnovellen versteckt. Um die Anordnung tatsächlich zu verstehen, muss man sie zusammen mit der bisher geltenden Fassung lesen, die sich allerdings ihrerseits aus einer Vielzahl an Novellen zusammensetzt. Lesbar und verständlich wird eine Rechtsvorschrift also erst in ihrer konsolidierten Fassung, die allerdings rechtlich nicht verbindlich ist.
Der vorliegende Beitrag will untersuchen, unter welchen rechtlichen und technischen Bedingungen eine authentische Kundmachung von konsolidierten Rechtsvorschriften möglich ist. Nur so kann ein rechtssicherer Zugang zur Grundlage jedes rechtlichen Wissens – dem Normtext – verwirklicht werden. Ein Vorbild dafür soll das niederösterreichische Landesgesetzblatt sein, das bis 2014 als Loseblattsammlung erschien. Dieses Konzept soll mit dem Ziel ins Digitale übertragen werden, die Zugänglichkeit zu authentischem rechtlichen Wissen zu verbessern.
(Nicht-)Mobilsierung von Rechten und soziale Ungleichheit: Soziale Faktoren der Rechtsmobilisierung
ABSTRACT. Der Beitrag fußt auf einem explorativen, qualitativen Forschungsprojekt, das 2022 am Institut für angewandte Rechts- und Kriminalsoziologie der Universität Innsbruck realisiert wurde. Im Fokus der Forschung stand die Frage, unter welchen sozialen Bedingungen Individuen Recht als spezifischen Modus der Konflikt- beziehungsweise Problembearbeitung sowohl diskursiv als auch juristisch mobilisieren. Welche Rolle spielen soziale Faktoren für die Rechtsmobilisierung, im Speziellen die Beziehung, in der die Konfliktparteien zueinander stehen, soziale Merkmale der Konfliktparteien wie race-, class-, und gender-Zugehörigkeiten (vgl. Sandefur 2008, Morrill et al 2015, Fuchs 2021) sowie soziale Netzwerke, in die die Konfliktparteien eingebunden sind? Wie es um soziale Faktoren der Rechtsmobilisierung bestellt ist wurde im deutschen Sprachraum nach den ersten Pionierarbeiten (z.B. Blankenburg 1980, 1995, 2000; Hanak et al. 1989) nicht in systematischer Form erhoben. (vgl. Graser 2020) Innerhalb der österreichischen Forschungslandschaft fehlten einschlägige soziologisch-empirische Studien bisher nahezu vollständig. Im Fokus des Vortrages steht der Stand der Forschung zur Frage, inwieweit der Umgang mit Konfliktsituationen davon beeinflusst wird, welchen sozialen Gruppen wir angehören. (vgl. Stangl 1990) Wem steht Recht als Werkzeug zur Verfügung - und wem nicht? (vgl. Binder 2018, S. 57)
Titel: "Dann lebe ich lieber unter der Armutsgrenze" - Erklärungsansätze für die Nicht-Mobilisierung von Rechten
ABSTRACT. Unsere Präsentation leistet einen Beitrag zur Frage, wie sich Prozesse im Vorfeld der Befassung mit dem Recht auf die (Nicht-)Mobilisierung von Rechten auswirken. Unter Berücksichtigung von Literatur zum Rechtsbewusstsein legen wir einen spezifischen Fokus auf die Frage, warum Recht zuweilen nicht mobilisiert wird, auch wenn (oder gerade weil) Menschen sich der Gesetze bewusst sind. Hierzu ziehen wir erste Erkenntnisse aus einem Forschungsprojekt zum Rechtsbewusstsein von prekär wohnenden Menschen heran, welches wir in der Schweiz und in Deutschland durchführen. Wir argumentieren einerseits, dass ein Misstrauen in das Recht (z.B. aufgrund von negativen Erfahrungen mit dem Recht in der Vergangenheit) zu einer Nicht-Mobilisierung von Recht führen kann. So berichten uns armutsbetroffene Frauen in Berlin, dass sie bewusst keine Sozialleistungen beantragen, obwohl sie ein Recht darauf hätten, weil sie schlechte Erfahrungen mit dem Behördenlabyrinth gemacht haben. Andererseits kann die Nichtmobilisierung von Recht auch damit erklärt werden, dass es zuweilen zu einem Konflikt zwischen verschiedenen Rechtsbereichen kommt wie das Beispiel von Sozialhilfeempfänger:innen ohne Schweizer Staatsbürgerschaft in der Schweiz zeigt: Auch wenn Armutsbetroffene Anrecht auf Hilfsgelder hätten, nehmen sie diese teilweise nicht in Anspruch, weil Sozialhilfebezug negative ausländerrechtliche Auswirkungen haben können (bis hin zum Verlust der Aufenthaltsbewilligung).
Beratungshilfe – effektiv oder zahnlos? Rechtsempirische Beobachtungen zu der sinkenden Relevanz des deutschen Beratungshilfesystems
ABSTRACT. Das System der außergerichtlichen Beratungshilfe wurde 1981 in Deutschland eingeführt und ermöglicht Personen mit niedrigem Einkommen außergerichtliche Rechtsberatung zu erhalten. Obwohl im Vorfeld der Einführung der Beratungshilfe intensiv über Alternativvorschläge diskutiert wurde, hat sich bundesweit (mit Ausnahme Bremens und Hamburgs) das anwaltliche Modell durchgesetzt. Dabei können die Ratsuchenden entweder unmittelbar bei den Anwält*innen oder über die Rechtsantragsstellen der Gerichte einen Antrag auf die Erteilung eines Beratungshilfescheins stellen, der typischerweise die Kosten für die erste anwaltliche Beratung deckt.
Während die Nachfrage nach Beratungshilfescheinen in den 1980er relativ niedrig war stieg diese in den 1990er und insbesondere in den frühen 2000er-Jahren rasant an. Seit Ende der 2000er-Jahre ist ein neuer und zugleich beunruhigender Trend erkennbar: So ist die Zahl der Anträge auf Beratungshilfe zwischen 2010 und 2020 bundesweit um ca. 42 Prozent zurückgegangen. Darüber hinaus ist festzustellen, dass zwar 70 Prozent der Anträge bewilligt werden, aber nur rund ein Drittel davon tatsächlich in einer rechtlichen Beratung mündet. Unser Beitrag soll der Frage nachgehen, wie es zu dem erheblichen Rückgang der Inanspruchnahme der Beratungshilfe gekommen ist.
Die rechtsempirische Analyse basiert auf qualitativen und quantitativen Daten, die im Rahmen des Forschungsprojekts „Zugang zum Recht in Berlin“ am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB) erhoben wurden.
Recht nur auf dem Papier? Der Familiennachzug in der deutschen Verwaltungspraxis
ABSTRACT. Meine Forschung untersucht den Kontrast zwischen der Theorie und der Praxis auf dem Gebiet des Familiennachzugs zu Geflüchteten. Das Aufenthaltsgesetz sieht ein Recht auf Familiennachzug für die engsten Familienangehörigen von Geflüchteten vor. Während das in der Theorie klar geregelt ist, könnte die Praxis davon kaum weiter entfernt sein. Versuchen Betroffene nämlich dieses Recht umzusetzen, stoßen sie auf zahlreiche praktische und bürokratische Hürden. Das beginnt schon bei der Frage der zuständigen Behörde. Afghanische Frauen sind zum Beispiel gezwungen, durch von den Taliban kontrolliertes Gebiet zu reisen, um überhaupt in einem der Nachbarländer den erforderlichen Antrag stellen zu können. An vielen deutschen Auslandsvertretungen herrschen zudem immense Warte- und Bearbeitungszeiten, sodass Geflüchtete mit einem Jahre dauernden Verfahren konfrontiert sein können. Ein weiteres typisches Problem in der Praxis betrifft den Nachweis der Voraussetzungen des Familiennachzugs. Geflüchtete verfügen in aller Regel nicht über die geforderten staatlichen Dokumente. Das führt in jedem Fall dazu, dass Betroffenen weitere immense Kosten entstehen und sich das Verfahren erheblich verzögert. Keinem ist bisher das volle Ausmaß der Katastrophe bewusst, namentlich wie viele Antragsstellende am Ende an den Hürden scheitern, aufgeben oder es gar nicht erst versuchen, wie viele sterben oder verschwinden, wie viele Familienbanden sich auflösen. Meine Forschung versucht dies zu ändern.
THE (DE-) CONSTRUCTION OF CREDIBILITY IN SEXUAL VIOLENCE CASES - An Ethnography of Epistemic (In-) Justice
ABSTRACT. Based on institutional ethnography in the Berlin Criminal Justice System (CJS), this contribution explores the question of how credibility is (de-) constructed in sexual violence cases. This empirical question helps to understand how state practices as epistemological practices stand in relation to diverse epistemic positions, lived experiences and understandings of justice. Drawing on court observations, qualitative interviews and case file material, the analysis shows how institutional practices operate through frameworks and modes of technical languages aiming at institutional intelligibility and efficacy. Rape narratives are attempted to be made legible through the a framework of a Federal Court decision on credibility assessments, which discursively structures dialogue and textualisation of these in the multiple local settings of the German CJS. I will show how practices mobilising this framework make it especially difficult for victim-survivors to have their case proven “objectively” when their lived experience is particularly complex from the institutional point of view. Furthermore, certain subjects who do not fulfil the image of a “rational” person are rendered as too “difficult” from an institutional perspective, which is especially exclusive for persons with cognitive disabilities, persons with little formalised education and persons with mental illnesses such as a borderline diagnosis. I argue that the current institutional practices and underlying logic are at odds with the lived realities of victim-survivors and can be understood as a form of epistemic injustice. This empirical case opens up further conceptual questions on epistemic justice as a dimension of access to justice inside and outside of the CJS.
Zugänge zu konsensualen Verfahrenseinstellungen und ihre Wechselwirkung mit Bedingungen von Akzeptanz
ABSTRACT. Konsensuale Verfahrenserledigungen in einem frühen Stadium des Strafverfahrens haben – tatsächlich sowie durch normative Erweiterungen – an Bedeutung gewonnen. Insbesondere bei der Einstellung des Strafverfahrens gegen Auflagen gemäß § 153 a StPO stellt sich aber die Frage, warum und ab welcher Höhe eine Geldauflage – die zuweilen die Maximalhöhe einer Geldstrafe um ein Vielfaches übersteigt – geeignet sein kann, das gesetzgeberisch nicht näher definierte „öffentliche Interesse an der Strafverfolgung“ zu beseitigen. Dies gilt umso mehr als diese Erledigung des Strafverfahrens ohne Beweisaufnahme in einem von Informalität geprägten Kommunikationsraum verhandelt wird, in dem die Strafverfolgungsbehörden, die in diesem Verfahrensstadium typischerweise noch sehr von ihrer Verdachtshypothese überzeugt sind, einer tatverdächtigen Person gegenüberstehen, deren Verteidigung und Kompetenz das Verhandlungsergebnis entscheidend mitzubestimmen scheinen.
Im Mittelpunkt unserer Überlegungen stehen die Fragen, ob es privilegierte Zugänge zu diesen Einstellungsformaten gibt und wer auf welche Weise das Narrativ bestimmt, das Grundlage einer Einstellung nach § 153 a StPO ist. Insbesondere die Aspekte „Macht“, „Zugang und Qualität der Verteidigung“ und „Transparenz der Entscheidungsfindung“ werden fokussiert.
Die Ergebnisse werden in den größeren Kontext der Akzeptanz strafrechtlicher Entscheidungen und deren Interdependenz zu den Zugängen zum Strafrecht gestellt. Verbunden damit wird die Frage, inwiefern die Kommunikation bzw. kommunikative Defizite sich auf die Verfahrensakzeptanz – der Beteiligten und der Gesellschaft – auswirken könnten.
Zufallsjustiz und Zugänge zum Recht; Gelegentliche Anwendung von Zollvorschriften an den Grenzen zur Bekämpfung der Geldwäsche
ABSTRACT. Wenn es um Verbrechen und strafrechtliche Verantwortlichkeit geht, ist der Zugang zum Recht auf seine Weise manifestiert, aber wo einige der Verbote außerhalb des Geltungsbereichs des Strafrechts liegen, wie es scheint, ist das Rechtssystem in Jetzt ist es einfach und Entkriminalisierung; Ebenso verwickelt es die Menschen in einen Prozess, der sie des Zugangs zum Recht beraubt. Einige der Maßnahmen zur Bekämpfung der Geldwäsche in Form von Verwaltungsübertretungen wurden aus dem Anwendungsbereich des Strafrechts herausgenommen, was sich bei der Kontrolle der von Fluggästen mitgeführten Geldbeträge an den Grenzen und bei Geldstrafen für Fluggäste, die zehntausend Euro oder mehr mit sich führen, zeigt.
Die Anwendung von Grenzkontrollen ist nicht nur zufällig, sondern die Behörden führen das Zufallsprinzip als Mittel zur Bekämpfung der Geldwäsche ein. Bei der zufälligen Kontrolle ist das Rechtssystem kein objektiver Maßstab, der die Passagiere kontrolliert, sondern der Zollbeamte urteilt in einem Moment nach den ihm übertragenen Befugnissen und wendet Vorschriften nach seinem Geschmack an. Die Frage, die sich hier stellt, lautet: Wenn es sich um eine Straftat und nicht um eine Ordnungswidrigkeit handeln würde, wäre es dann nicht einfacher, zu seinem Recht zu kommen, weil es keine Diskriminierung und keine einheitlichen Verfahren gibt? Wichtiger noch: Wie richtig ist dieser Ansatz, dass ein Teil der Maßnahmen zur Bekämpfung einer Straftat außergerichtlichen Verfahren anvertraut wird?
In diesem Artikel wird zunächst versucht, das Verhältnis zwischen verwaltungsrechtlicher und strafrechtlicher Verantwortung beim Zugang zu Rechten darzustellen. Dann werden in diesem Zusammenhang außergerichtliche Verfahren mit gerichtlichen Verfahren verglichen. Im Hauptteil wird die zufällige und willkürliche Anwendung von Vorschriften über die Kontrolle von Geld oder Habseligkeiten von Reisenden diskutiert.
„Nach den einleitenden Formalitäten“ - Sprachenrechte und Sprachwirklichkeit im Südtiroler Strafverfahren
ABSTRACT. Das Rechtsleben in Südtirol ist von Zweisprachigkeit geprägt, nicht minder der Strafprozess. Der Gerichtsalltag beginnt mit "buongiorno" und endet mit „auf Wiedersehen“, dabei werden Urteile häufig auf Deutsch „im Namen des italienischen Volkes“ verkündet. Im Detail geregelt wird der Gebrauch beider Sprachen durch das Dekret des Präsidenten der Republik Nr. 574 von 1988, doch gibt es Grauzonen, in der Richterin:innen plötzlich zu einsprachigen "giudici" werden und die Anwält:innen dazu einladen, ebenso zu reinen "avvocati" zu mutieren. Der Vortag setzt es sich zum Ziel, anhand mehrerer Beispiele diese Grauzonen aufzuzeigen und kritisch zu würdigen. Gestützt auf eine mehrmonatige Teilnehmer:innenbeobachtung und qualitative Interviews mit Anwält:innen und Richter:innen, wird der Frage nachgegangen, weshalb im mündlichen Verkehr eines Verfahrens, in welchem die deutsche Sprache gewählt wurde, der Gebrauch des Italienischen bzw. der gemischte Gebrauch beider Sprache in bestimmten Praxiskonstellationen so alltäglich geworden ist, dass sich niemand erträumen würde, einen einklagbaren Verfahrensmangel darin zu sehen. Die Antwort findet sich in einem stillschweigenden, sehr facettenreichen Kompromiss zwischen Anwält:innen- und Richter:innenschaft, infolgedessen sich Anwält:innen der mutmaßlichen Vorliebe der Richter:innen lieber fügen, als sich stur zu stellen. Die resultierende Nichtmobilisierung der Sprachenrechte - im Sinne des mangelnden Pochens auf die gewählte Verfahrenssprache - führt zu informalen Praktiken, die dazu beitragen, den Status des Italienischen zu stärken und jenen des Deutschen zu schwächen.
Inklusion? - Der Rechtszugang für Menschen mit Behinderungen
ABSTRACT. Deutschland hat sich mit der Ratifizierung der UN-BRK dazu verpflichtet die umfassende Zielsetzung der Inklusion zu verfolgen und zuvor durch das SGB IX, BGG sowie Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG gesetzliche Regelungen zur Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen (MmB) erlassen. Im Track 5 soll daher thematisiert werden, welche Zugänge zum Recht für MmB bestehen, wie diese rechtstatsächlich wirken, wo Zugangsbarrieren liegen und welche Änderungen erforderlich sind, um Teilhabe zu erreichen (vgl. Art. 12, 13 UN-BRK). Im Fokus steht dabei der mehrstufige Zugang zum Recht.
Grundlage ist ein interdisziplinär durchgeführtes Forschungsprojekt zum BGG. Durch das BGG werden Akteur:innen auf Bundesebene u.a. zur Barrierefreiheit verpflichtet und verschiedene Instrumente der Rechtsdurchsetzung normiert. Mit der umfassenden quantitativen und qualitativen Erhebung konnten Strukturen und Akteur:innen sichtbar gemacht werden, die zentral für Zugang und Mobilisierung der Rechte von MmB sind. Themenschwerpunkte werden sein:
• Die Rolle der Schwerbehindertenvertretungen,
• Das Schlichtungsverfahren als niedrigschwellige, außergerichtliche Konfliktlösung und
• Die Verbandsklage als kollektives Rechtsdurchsetzungsinstrument.
Dabei soll der Beitrag Ausführungen zur Mobilisierung des Rechts integrieren. Konkret werden Herausforderungen und Ressourcen sowie die Gestaltungsspielräume von Institutionen und auf Grundlage dessen Vorschläge zur Effektivierung des Gleichstellungsrechts aufgezeigt und diskutiert.
Kinder und Jugendliche als pflegende Angehörige – Zugang zu Unterstützungsleistungen?
ABSTRACT. In Deutschland leben derzeit circa 4,1 Millionen pflegebedürftige Menschen, welche überwiegend durch Angehörige in ihrem häuslichen Umfeld gepflegt werden. Ein solcher Pflege- oder erhöhter Unterstützungsbedarf eines nahen Familienangehörigen hat dabei Auswirkungen auf das gesamte familiale (Sorge-)Gefüge. Folglich übernehmen häufig auch Kinder und Jugendliche informelle Pflegeverantwortung (vgl. Berger et al., Young Carers in Europa, SozialAktuell 2019, 33-35). Trotzdem ist die Personengruppe der Kinder und Jugendlichen als pflegende Angehörige in öffentlichkeitswirksamen gesellschaftlichen Debatten wenig sichtbar und wird auch von professionellen Beteiligten selten bewusst wahrgenommen. Insbesondere in der Rechtswissenschaft stellen pflegende Kinder und Jugendliche eine bisher kaum beachtete Gruppe dar. Dieser Beitrag soll deshalb die rechtlichen Schutzlücken und -bedarfe der Kinder und Jugendlichen als pflegende Angehörige im Recht der sozialen Pflegeversicherung (SGB XI) untersuchen. Es soll zunächst analysiert werden, ob die gesetzgeberische Konzeption pflegender Angehöriger auch Kinder und Jugendliche als solche wahrnimmt. Daran anschließend soll beleuchtet werden, welche normierten Unterstützungsleistungen für pflegende Angehörige existieren und inwieweit diese auch für pflegende Kinder und Jugendliche zugänglich sind.
Die Analyse des neuen Krankengeldes für Begleitpersonen von behinderten Menschen bei einer stationären Behandlung im deutschen Sozialversicherungsrecht (§ 44b SGB V)
ABSTRACT. Das deutsche Sozialkrankenversicherungsrecht enthält seit dem 01.11.2022 einen Anspruch auf eine neue Art von Krankengeld. Es ist das Krankengeld für eine bei stationärer Behandlung mitaufgenommene sozialversicherte Begleitperson eines behinderten Menschen (§ 2 SGB IX) aus seinem engsten persönlichen Umfeld (§ 44b SGB V). Damit ist ein Zugang zu einem neuen sozialen Recht eröffnet, das in seiner Entstehungsgeschichte und Umsetzung an verschiedene Fragen des Tracks anknüpft und analysiert werden soll. Hervorzuheben ist zunächst, dass das Recht auf verschiedene Initiativen von Betroffenen und ihrer Verbände zurückzuführen ist. Es ist mithin aus der Zivilgesellschaft heraus initiiert und wirkt dorthin in besonderer Weise zurück. Maßgebend ist ergänzend die Verknüpfung mit dem Arbeitsrecht, damit erwerbstätige Personen von der Arbeit freigestellt sind und das Krankengeld in Anspruch nehmen (können). Der Blick ist zudem auf ein besonderes Element des partizipativen Prozesses der Bestimmung des berechtigten Personenkreises zu richten, das u.a. durch die verbindliche Beteiligung von Interessenvertretungen der behinderten Menschen gekennzeichnet ist. Schließlich geht es für die praktische Rechtswirksamkeit um die Verbindung mit dem Eingliederungshilferecht, das korrelierend durch § 113 Abs. 6 SGB IX erweitert wurde.
Inklusive Justiz? Eine Untersuchung der Zugänglichkeit zur Berliner Justiz für Menschen mit Behinderung
ABSTRACT. Der Vortrag gibt einen Einblick in erste Erkenntnisse der Masterarbeit „Der Zugang zum Recht für Menschen mit Behinderung in Berlin". Wie zugänglich und inklusiv ist die Berliner Justiz? Ausgehend von dem Artikel 13 der UN-Behindertenrechtskonvention, der die Vertragsstaaten dazu verpflichtet, Menschen mit Behinderung gleichberechtigt einen wirksamen Zugang zur Justiz zu gewährleisten, untersucht die Forschungsarbeit anhand ausgewählter Beispiele die Zugänglichkeit zur Berliner Justiz für Menschen mit Behinderung. Was hat sich seit der Unterzeichnung der UN-Behindertenrechtskonvention getan, wo wird Menschen mit Behinderung ein wirksamer Zugang zur Justiz gewährt und wo bestehen weiterhin Barrieren? Die Forschungsarbeit orientiert sich dabei an den 2020 veröffentlichen 10 internationalen Grundsätzen und Leitlinien der UN und untersucht deren praktische Umsetzung innerhalb der Rechtsprechung in Berlin. Mit Hilfe einer qualitativen Untersuchung sollen somit kommunikative, technische und strukturelle Hürden des Zuganges zur Justiz herausgearbeitet werden.
Mobilisierung des (Menschen-)Rechts im Kampf gegen den Kolonialismus
ABSTRACT. Die Inkongruenz universeller Menschenrechte und europäischer Kolonialgeschichte wurde historisch vielfach von Kolonisierten thematisiert und die Menschenrechte gegen den Kolonialstaat mobilisiert. Meine Arbeit liefert einen Beitrag zur Erforschung solcher (Re-)semantisierungsprozesse, indem Methoden der postcolonial-Studies und der Linguistik auf den antikolonialen Rechtsdiskurs angewandt werden.
Meine Forschung setzt den Fokus auf antikoloniale „schwarze“ Bewegungen im Paris der Zwischenkriegszeit. Nach dem ersten Weltkrieg verblieben viele ehemalige Soldaten aus den Kolonien in Paris. Dies führte zu intensiven diskursiven Debatten innerhalb der frankophonen antiimperialen Kräfte. Die Einforderung von Menschenrechten war hierbei eine Taktik, die nicht nur die Forderung nach einem materiell besseren Leben bedeutete, sondern auf elementarerer Ebene die Forderung der Anerkennung als Rechtssubjekt – als Mensch. Die Forderung Exkludierter auf aktive Teilhabe am Menschenrechtsdiskurs zeigt, dass Menschenrechten ein wesentlicher Anteil an der Erschaffung von Rechtssubjektivität zukommt. Mein Vortrag zeigt anhand einiger beispielhafter Gruppierungen, wie hierdurch diskursiver Dissens erzeugt wurde und sich dabei der Diskurs und die Bedeutung des Begriffs der Menschenrechte selbst veränderte. Wenn der Mensch sich in der Anrufung als Mensch erkennt, wie Butler ausgeführt hat, dann kommt der Anrufung als Mensch im Rahmen des Menschenrechtsdiskurses besondere Bedeutung zu.
International Development and Law: understanding Otherness as path to a pluralistic approach to law.
ABSTRACT. The present study is the result of a socio-legal (BANAKAR & TRAVERS, 2005), theoretical and empirical analysis (participant-observer; BERNARD, 2006) of international development projects’ context, namely those relating to the promotion of rule of law, access to justice and development of formal justice systems (ARNSCHEIDT, ROOIJ, & OTTO, 2008). These projects tend to export, via “legal transplants” (WATSON, 1993), a modern model of law and justice, based on a set of principles and values of Western origin (TAMANHA, SAGE & WOOLCOCK, 2012; CAROTHERS, 2006).
It is in their encounter, with other cultures and their own legal and ontological frameworks that we will focus the problematic of our study. To this end, we will convene the theoretical construction of the “other” and “alterity” by Levinas (LEVINAS, 1980) to support that international development projects in the justice and legal sectors should promote an intercultural dialogue respecting informal justice systems (GEERTZ, 1983), thus being able to overcome the epistemological and onto-gnoseological problematic of an hierarchical view of the (Western) “I” vis-à-vis the “Other”, being this mainly rooted in the Global South (MANDERSON, 2009).
In this sense, we will propose the need to overcome an antagonistic view that international development projects, in the area of justice, have in relation to traditional law and, as a result, legal pluralism (GLENN; 2012). It thus becomes necessary to promote an approach that goes beyond the framework described, decolonizing law and promoting solutions that, through legal pluralism, allow the epistemologies of the south (SOUSA SANTOS, 2018), to be used to develop, in a logic of complementarity and via “new legal epistemologies”, the universal objectives that fit the promotion of the rule of law and human rights.
Access to Justice under Legal Pluralism and Limited Statehood
ABSTRACT. In my dissertation project, I examine the function of the rule of law in state building of today’s post-Soviet de facto states. As contested regions they lack international recognition, which largely isolates them from international politics, trade and mobility and, I argue, as a consequence limits their capacities to develop well-functioning, effective, and consolidated statehood. At the same time, they are challenged by multiple recognized states (e.g. the parent and patron state) and international bodies disputing over the exercise of sovereignty over these regions and the applicability of national and international law.
This conflict situation – characterized by the co-existence of multiple legal systems in a state-like entity with unrecognized and limited statehood – creates a unique objective of research for investigating the question how parallel legal systems seek to ensure access to justice to the local populations and which effect the competition over sovereignty and the applicability of national and international law has on this crucial element of the rule of the law.
In the paper, I will first set out my conceptual framework for studying legal pluralism in the context of unrecognized and limited statehood. Second, I will describe my research strategy to investigate the interaction of several legal systems operating in the complex research field that de facto states pose. Third, I will present and compare preliminary results from my case studies.
Rechtsstaatlichkeit, Rechtspluralismus und Regulierung der Arbeitswelten im Globalen Süden: zwischen (post-)kolonialer und demokratisch-sozialer Rechtsstaatlichkeit
ABSTRACT. Die Weltbank u.a. haben den Aufbau von Rechtsstaatlichkeit zu einem zentralen Fördergegenstand entwickelt. Der neoinstitutionalistische Fokus auf zentralstaatliche Institutionen ist dabei um Mechanismen ergänzt worden, die den Zugang zum Recht verbessern sollen. Vernachlässigt wird: selbst eine eng verstandene „Rule of Law“ erfordert neben der Gesetzmäßigkeit staatlichen Handelns auch die des Alltagshandelns der Bevölkerungsmehrheit. Im Globalen Süden sind die Lebens- und Arbeitswelten allerdings überwiegend in informellen Räumen organisiert.
Hier setzende folgende Thesen an: (1) Die Nichtregulierung informeller Räume wurde bereits als koloniale Rule of Law systematisch entwickelt. (2) Staatlich nichtregulierte Räume sind typischerweise rechtspluralistisch selbstreguliert. Menschenrechtlich problematisch sind Rechtspluralismus und Informalität nur, soweit sie Asymmetrien, Exklusion und Segmentierung der Arbeit hervorrufen oder fördern. (3) Dekoloniale Rechtsstaatlichkeit zielt auf demokratische und soziale Inklusion dieser Räume, indem sie auf vorhandene rechtspluralistische Figurationen aufbaut, dabei aber ihre Demokratisierung durch die Beteiligten fördert und Asymmetrien abbaut bzw. ausgleicht. Eine inklusionsorientierte, rechtspluralistische Arbeitsrechtsentwicklung ist dabei notwendig, aber nicht hinreichend.
The Future Has Already Begun: Temporal Structures in Climate Litigation
ABSTRACT. The first symptoms of global warming enabled climate science to gain much wider legitimacy in society. This new 'recognition' has led to numerous debates in society. One of the most significant is that concerning the sui generis qualitative connection between the choices of the present and the moulding of the future. This interconnection between present and future has placed the temporal structures used in today's society at the centre of the debate. Emblematic in this sense are some of the most important climate cases of recent years. In these strategic litigation, the judicial ground has been used 'to make climate change tangible and immediate', disrupting the traditional relationship and separation between present and future that a linear structuring of time would presuppose. This cultural dynamism of temporal structures can be deciphered by recalling the conceptual framework of N. Luhmann and E. Esposito. A different point of view, on a still ongoing process, which could enhance its (also potential) dynamism. In particular, this may suggest possible developments with respect to the legal management of the ecological transition.
Zugang zum Gericht – Die Verbandsklage im Umweltschutz vor deutschen Gerichten
ABSTRACT. Kaum ein Rechtsinstitut war in Deutschland umstrittener als die Einführung der Verbandsklage. Inzwischen ist sie u.a. im Umweltrecht, im Wettbewerbs- und Sozialrecht, im Tierschutz- und Verbraucherschutzrecht verankert. In kaum einem Rechtsgebiet hat die Verbandsklage allerdings in den letzten Jahren so starke Veränderungen hervorgerufen wie im Umwelt- und Klimaschutz in Deutschland. Das Unabhängige Institut für Umweltfragen e.V. hat - beginnend mit den 1990er Jahren - eine Datenbank mit allen recherchierbaren Verbandsklagen im Umweltrecht aufgebaut. Neben der Anzahl der Verbandsklagen oder der Erfolgsquote können so Auskünfte über die Klagegegenstände, die Dauer der gerichtlichen Verfahren, teilweise auch über klagende Verbände, Streitwerte und weitere Parameter gegeben werden. Deutlich wird, dass der umfassende Zugang zu Gerichten für anerkannte Umweltverbände im Umweltrecht in Deutschland seit 2013 bzw. 2017 das Klagegeschehen deutlich beeinflusst hat. Immer stärker werden umweltrechtliche Verbandsklagen auch als strategische Instrumente begriffen und entsprechend von den klagenden Umweltverbänden eingesetzt.
In einem Beitrag auf dem fünften Kongress der deutschsprachigen Rechtssoziologie-Vereinigungen sollen daher folgende Fragen der umweltrechtlichen Verbandsklagen erörtert werden:
• Der verbesserte Zugang zu Gerichten im Umwelt- und Klimaschutz für anerkannte Umweltschutzvereinigungen seit 2006 – was bedeutet das für das Vollzugsdefizit im Umwelt- und Klimaschutz?
• Empirische Befunde und umweltrelevante Tendenzen zum Klagegeschehen der umweltrechtlichen Verbandsklagen in Deutschland anhand der Parameter: Klagegenstände, Erfolgsquote und Klagehäufigkeit im Zeitraum zwischen 2007 und 2021.
• Verfassungsbeschwerden und umweltrechtliche Verbandsklagen seit 2001 – Mobilisierungsakteure, Klagegegenstände, Erfolgsquoten, umweltpolitische Implikationen.
Infolge fortbestehender (post-)kolonialer Machtasymmetrien, hohen Preisdrucks, flexibler Vertragsverhältnisse, fehlender Transparenz sowie internationaler Gesetzeslücken hat sich ein stark verflochtenes System internationaler Liefer- und Wertschöpfungsketten entwickelt, in welchem Menschenrechtsverletzungen, Arbeitsunfälle und Umweltverschmutzung weit verbreitet sind. Das soll durch das am 1. Januar 2023 in Kraft getretene Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz (LkSG) geändert werden. Indem in Deutschland ansässige Unternehmen dazu verpflichtet werden, ihre globalen Wertschöpfungsketten auf menschenrechtliche und ökologische Risiken zu prüfen, identifizierten Probleme zu begegnen und über den Umsetzungsstand jährlich zu berichten, soll, so das deklarierte Ziel des Gesetzes, die internationale Menschenrechtslage verbessert werden.
Während mit dem Gesetz also auf bestehende Machtverhältnisse und deren unerwünschte sozioökonomischen und ökologischen Ergebnisse reagieren werden und eine positive Lenkungswirkung entfaltet werden soll, ist der Gesetzestext gleichzeitig durch ebendiese gesellschaftlichen Verhältnisse geprägt. Im Rahmen dieses Panels soll ein Abgleich zwischen der Zielsetzung des Gesetzes und gesellschaftlicher Realität vorgenommen werden. Konkret soll diskutiert werden, welche Vorstellungen von Gesellschaft und Wirtschaft im LkSG enthalten sind und inwieweit dadurch eine Reproduktion oder Festigung bestehender patriarchaler, postkolonialer und wirtschaftsliberaler Logiken droht.
Risky Business: Some TWAIL Reflections on the Sources of Information for Risk Analysis Under the Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz (LkSG)
ABSTRACT. Utilizing a Third World Approaches to International Law (TWAIL) lens, this contribution critically interrogates how the deliberate failure to require companies to pay attention to global south voices within the context of their risk analysis as part of due diligence processes under the Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz (LkSG), is the latest fashion through which due diligence laws made in the First World, continue to silence and invisibilize third world voices in matters that affect their quotidian realities, thus further disenfranchising already marginalized rights holders in the Global South. The core of this TWAIL critique is that it is absolutely necessary for human rights risk analyses to be structured in a way that fully provides for the participation and engagement of historically subordinated individuals, peoples and rightsholders of the Global South as much as is practicably possible. After all, these human rights risks do not arise in a vacuum. They are very much intertwined with both historical and current events that arguably have their roots in colonialism, neo-colonialism and neo-liberalism all of which continue to perpetuate an unjust and asymmetrical global order.
Feministische Perspektiven auf das Beschwerdeverfahren im Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz (LkSG)
ABSTRACT. In diesem Beitrag wird sich mit der Frage beschäftigt, inwieweit das im Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz (LkSG) vorgeschlagene Beschwerdeverfahren ein angemessenes Instrument ist, um Frauen* in globalen Wertschöpfungsketten dazu zu befähigen, ihre Rechte gegenüber Arbeitgebenden einzufordern und Gerechtigkeit zu erlangen. Denn für viele von Mehrfachdiskriminierung betroffene Frauen* ist der Zugang zu Recht mit besonders schwer überwindbaren Hürden verbunden. Das zentrale Argument dieses Beitrags ist, dass das Instrument des Beschwerdeverfahrens das Risiko birgt, durch die Fokussierung auf den Einzelfall und das unzureichende Ausgleichen bestehender Machtasymmetrien strukturelle Veränderungen und Kollektivierungsprozesse zu hemmen. Weiter wird argumentiert, dass bestehende Ansätze und Methoden, um dem entgegenzuwirken, wie beispielsweise die umfangreiche Beteiligung betroffener Akteure, unzureichend im LkSG aufgenommen wurden.
Business and Human Rights and entangled accumulation: between the shades of making business and making violence
ABSTRACT. To contain the negative impacts of transnational corporations (TNCs), a transnational regulatory regime has been established under the keyword “Business and Human Rights” (BHR), which aims to strengthen the human rights obligations of companies . One of BHR's most recent pieces is the German Act on Corporate Due Diligence. An initiative that –in line with the current trend – adopts a combined approach of due diligence standard, risk management assessment, and cross-border operations to regulate corporate accountability.
Drawing on the revised literature on primitive accumulation, it is worth asking to what extent by conceptualizing nonacceptable corporative behaviors as those of physical violence and direct boundless oppression, the BHR regime reproduces a liberal logic that de-links certain forms of violence from the logic of capitalist accumulation. Furthermore, grounding the theoretical discussion on the German Act results particularly interesting, as much as it provides an ongoing inquiry into what is at stake in regulating the activity of transnational corporations through the BHR regulations: the constant drawing and re-drawing of the boundary between those forms of making business deemed acceptable and those deemed violent.
Das Interesse an alternativen Formen der Konfliktbearbeitung hatte bis in die 1990er Jahre Hochkonjunktur. Aus heutiger Sicht stehen die theoretisch fundierte Einordnung der Vielfalt ihrer Formen, eine in die Breite gehende empirische Untersuchung der Vermittlungswirklichkeit und die historische Aufarbeitung der ihnen zugrundeliegenden rechtspolitischen Initiativen an. Für entsprechende Diskussionen soll das Panel einen Rahmen bieten. In der deutschsprachigen Literatur finden sich gegenwärtig selten etwa in der Mediation aufgezeichnete Fälle, die anschließend mit sequenziellen Methoden der (qualitativen) empirischen Sozialforschung ausgewertet werden, was aktuelle empirische Studien erfordert. Zur Vermittlung in Verbraucherstreitigkeiten kann nun auf Erfahrungen mit den seit 2016 in bestimmter Form betriebenen Schlichtungsstellen zugegriffen und die Frage neu gestellt werden: Mehr Zugang zu weniger Recht? Um die verschiedenen Formen theoretisch einzuordnen, hat es sich bewährt, die Gemeinsamkeiten vermittelnder Verfahren in den Blick zu nehmen. Zugleich soll eine zentrale Frage in den Fokus gerückt werden: Wie erklärt sich der Widerspruch zwischen den vorhandenen Institutionalisierungsbemühungen und unterstellten Vorteilen etwa von Mediationen auf der einen Seite und einer zurückhaltenden Nachfrage auf der anderen?
Moving away from the Courts: The Case of Family Arbitration
ABSTRACT. Over the past two decades, many Western countries have implemented measures to encourage the resolution of family disputes outside of state courts. Supporters of these reforms have argued that adversarial proceedings are not suitable for family disputes. However, the efficiency of the court system and management of the courts’ caseload have played an important role in this development. These factors have also impacted the market for legal services, with services expanding beyond the traditional legal professions. In this context, one mechanism remains relatively unknown, and little studied in Europe, although it has received institutional endorsement in a number of states: family arbitration, i.e. the adjudication of a family dispute by a private third party. This mechanism is the focus of a PhD
research project funded by the Swiss National Science Foundation for the period 2021-2024. Therefore, it is proposed to present a first part of the results obtained, insofar at they provide information on a move away from courts in family matters even in situations where adjudication is required. These results are based first on an overview of recent developments in several States which, by means of statutes (USA, Canada, Australia) or judicial precedents (UK), have secured arbitration as a mean to resolve family disputes, as well as in other States where market players have started offering this type of service despite legal uncertainty (Germany, France). The method used in this regard was a textual analysis of statutes and rules, precedents, state reports, information published by private arbitral institutions, as well as a review of the (rare) existing literature on the frequency of the practice in those states. In addition, the results are based on qualitative, semi-directive interviews conducted with family arbitrators in the UK in the first months of 2023, to understand the type of situations being diverted from the courts and the dynamics influencing the recourse to family arbitration.
Formen vermittelnder Streitbeilegung: Vermittelnde Streitbeilegung durch alternative Justiz im Kaiserreich und der Weimarer Republik
ABSTRACT. Ab Ende des 19. Jahrhunderts entstanden paritätisch besetzte Einrichtungen „alternativer“ Justiz, die zur Lösung von Konfliktlagen mit sozialpolitischem Einschlag beitragen sollten, vor allem Gewerbegerichte (Formen früher Arbeitsgerichtsbarkeit), Schiedsgerichte der Arbeiterversicherung und Mieteinigungsämter. Obwohl all diesen Einrichtungen Entscheidungsbefugnisse übertragen waren, sollten sie vor allem auch vermitteln und auf eine gütliche Einigung hinwirken. Das politische Konzept einer Aussöhnung sozialer Konflikte wurde auf die justizielle Ebene übertragen. Doch durch welche Instrumente sollte dies bewerkstelligt werden und wie gelang es in der Praxis? Auf der Grundlage einer Untersuchung der Tätigkeit der genannten Einrichtungen sollen Muster institutionalisierter sozialpolitischer Vermittlung und ihrer Inkorporation in das Rechtssystem herausgearbeitet werden.
ABSTRACT. Bei Auseinandersetzungen im Familienkontext (Scheidungen, Erbschaftsangelegenheiten usw.) gilt eine außergerichtliche Konfliktregelung als wünschenswert, die von den Parteien selbst entwickelt und verantwortet wird. Die Mediation scheint eine selbstbestimmte und sachangemessene Konfliktbearbeitung durch die für das Mediationsverfahren charakteristische Rollenverteilung zu gewährleisten, der zufolge der Mediator für das Verfahren, die Konfliktparteien für die eigenverantwortliche Konfliktlösung zuständig sind. Die Analyse realer Mediationsgespräche – ein im deutschsprachigen Raum kaum genutzter Zugang zur empirischen Untersuchung der Mediation – legt eine andere Einschätzung nahe: In dem Beitrag werden vorläufige Ergebnisse der Untersuchung von Mediationsgesprächen aus der Schul- und der Familienmediation vorgelegt. Das Mediationsgespräch stellt sich als stark schematisierte Kommunikationsform dar, in die sich die Beiträge der Konfliktparteien nur bedingt einfügen und in der die sich eröffnenden Chancen einer sachangemessenen Bearbeitung von Konflikten häufig ungenutzt bleiben. Zur Erklärung dieser vorläufigen Befunde kann auf eine anhand des beruflichen Selbstverständnisses der Mediation entwickelte These zur Struktur des mediatorischen Wissens zurückgegriffen werden: Die Mediation beruht nicht auf akkumuliertem und reflektierten Fallwissen, sondern auf einem Wissen über Kommunikationsformate und -techniken, die in der Mediationspraxis fallunspezifisch appliziert werden.
„Verbraucherstreitbeilegung“ – mehr Zugang zu weniger Recht?
ABSTRACT. Auf der Tagung unserer Vereinigungen in Berlin 2015 ließ sich anhand der Regelungsvorschläge zur Umsetzung der EU-Rili 2013/11/EU v. 21. Mai 2013 diskutieren, ob bzw. wie eine Effektuierung von Verbraucherrechten niederschwelliger als im Zivilprozess zu erreichen sei. Das „Verbraucherstreitbeilegungsgesetz“ (Gesetz über die alternative Streitbeilegung in Verbrauchersachen) wird seit 2016 in Deutschland in ca. 30 Schlichtungsstellen praktiziert. Ziel war es, das „rationale Desinteresse“ an der Rechtsdurchsetzung zu überwinden, welches im Missverhältnis des Aufwands zu den erlittenen Nachteilen wurzelt. Aufgrund der Verfasstheit der Schlichtungsstellen, den gesetzlichen und ihren eigenen Verfahrensregelungen sowie den Daten zu ihrer Inanspruchnahme kann erneut gefragt werden, ob es sich um „mehr Zugang zu weniger Recht“ handelt (Engel NJW 2015, 1633). Zweifel bestehen, ob Konflikte in gewünschter Anzahl erfasst werden. Die Teilnahmebereitschaft auf Unternehmerseite ist defizitär, eine gesetzliche Pflicht hierzu die Ausnahme, während in manchen Branchen Selbstverpflichtungen eingegangen werden. Die Form der Streitbeilegung (Schlichtung) gleicht bzgl. Verfahrensstruktur und Rechtsorientierung eher einem „coupierten“ Entscheidungsverfahren als einer Vermittlung zwischen den Parteien. Die oben zitierte Frage ergibt sich schließlich zu gesetzlichen wie zu praxisgenerierten „Ausweichbewegungen“ hin zum kollektiven Rechtsschutz mit einer Mediatisierung individueller Ansprüche.
Rechtswissen und -deutungen in der Querdenkenbewegung - Eine Explorationen von Agency-Attributionen in Krisenzeiten
ABSTRACT. Als Reaktion auf die staatlichen Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie hat sich mit ‚Querdenken‘ eine Protestbewegung herausgebildet, die die Legitimität der rechtsstaatlichen Ordnung fundamental anzweifelt. Die Querdenken-Bewegung konstruiert sich in Abgrenzung zum staatlichen Krisenumgang als Verteidiger von Grundrechten gegen ein verschwörerisches Kartell aus Staat, Medien und Wissenschaft.
Mittels eines explorativen Topic-Modellings von Telegram-Kanälen, die von selbstzugeschriebenen Rechtsexpert:innen der Bewegung betrieben werden, sowie einer qualitativ-inhaltsanalytischen Untersuchung ausgewählter Beiträge, rekonstruieren wir die vorherrschenden Rechtsdeutungen. Wir möchten zur systematischen Explikation der Deutung von Recht sowie der damit verbundenen Attribution von Subjektpositionen und Abgrenzungen beitragen.
Wir können zeigen, dass sich diese „cause lawyer“ (Sarat/Scheingold) als kritische Jurist:innen begreifen, die Widerstand gegen die ‚Entrechtung des Volkes‘ leisten und so den als bedroht angesehenen Rechtsstaat verteidigen. Ihre Handlungen legitimieren sie hierbei in Rekurs auf ein Rechtsverständnis, das Recht als unveräußerlich geltend begreift. Staatlichen Akteuren wird dabei attribuiert, in der Pandemie Recht willkürlich als Herrschaftsmittel zu missbrauchen, um sukzessiv eine vermeintliche Hygienediktatur zu errichten, die in einen „neuen deutschen Faschismus“ münde. Mit Berufung auf eigene juristische Autorität wird in relativierender Analogisierung mit dem historischen Nationalsozialismus eine juristische Aufarbeitung proklamiert.
Rechtsmobilisierung von unten? Migrantische Kämpfe um Recht aus einer ethnographischen Perspektive
ABSTRACT. Vor dem Hintergrund der Illegalisierung der Migration beleuchtet dieser Beitrag migrantische Kämpfe um Zugänge zum Recht und Praktiken der „Rechtsmobilisierung von unten“. Bislang sind solche Kämpfe in der Migrationsforschung unterrepräsentiert; es ist wenig darüber bekannt, wie Migrant*innen Recht und ihre Ausschlüsse davon wahrnehmen und wie sie ihre Rechte einfordern. Meine Forschung geht diesen Leerstellen nach und untersucht migrantische Agency aus einer rechtsanthropologischen Perspektive. Mit der kritischen Grenzregimeanalyse wird eine Methode für die interdisziplinäre Rechtsforschung fruchtbar gemacht, mit der anstelle von hegemonialen Techniken der Subjektion, Migrant*innen als Akteure und ihre Interkationen mit Recht in den Fokus genommen werden. Das Projekt fragt, wie rechtliches Wissen weitergegeben und verarbeitet wird, welche Vorstellungen und Umdeutungen von (Menschen-)Rechten Migrant*innen entwickeln und wie sich diese auf geltendes Recht beziehen. Ausgangspunkt der Untersuchung sind niederschwellige Rechtsberatungsstellen, sog. legal help desks oder drop-ins, in zwei italienischen Grenzregionen. In diesen Zwischenräumen treten Migrant*innen und die „rechtliche Sphäre“ in Austausch, es wird dort einerseits Wissen über Recht weitergegeben und vermittelt, andrerseits diskursive Forderungen in das Recht übersetzt. Es werden spezifische Formen der Rechtsmobilisierung strukturiert und in einem „System der Illegalisierung“ überhaupt erst möglich.
Der wissenssoziologische Nachhall von Rechtsmobilisierungen. Analyse am Beispiel von Bildungsklagen in Kolumbien.
ABSTRACT. Marginalisierte Bevölkerungsgruppen verfügen häufig über vielseitige Klageerfahrungen und dies selbst dann, wenn soziale Ungleichheiten den Zugang zum Recht blockieren. Damit verknüpft ist eine neue Forschung über Rechts-Wissen, an welche dieser Beitrag am Beispiel von Bildungsklagen in Kolumbien anschließt. In Kolumbien klagen häufig sozioökonomisch benachteiligte Schüler:innen, Studierende und Eltern ihr Grundrecht auf Bildung ein. Diese noch weitgehend unbeachteten Rechtsmobilisierungen implizieren auf der theoretischen Ebene die Frage nach rechtlich induzierten Wissenstransformationen seitens der Kläger:innen. Präsentiert werden in diesem Beitrag induktiv ausgewertete Studienbefunde von 2021. Erhoben wurden qualitative Interviews mit 28 Kläger:innen, die zwischen 2017 und 2020 die kolumbianische Grundrechtsbeschwerde ‚Acción de Tutela‘ zum Schutz des Rechts auf Bildung verwendet haben. Die Datenanalyse zeigt einen soziologischen Nachhall bei solchen Rechtsmobilisierungen: Bleibend ist nicht nur das Wissen über Bildungs- und Verfassungsrecht, dass durch Familienmitglieder, Beratungsstellen und bisweilen die Lehrkräfte selbst vermittelt wird. Grundlegender bilden Kläger:innen nach den Grundrechtsbeschwerden auch eine rechtliche Wahrnehmung heraus. Situativ kann sie sich aktivieren und zukünftig zur Konstruktionsbedingung von Konfliktwissen werden. Mit diesen Erkenntnissen plädiert der Beitrag für eine deutliche Erweiterung der Diskussion, die auch Wissen durch das Recht miteinbezieht.
ABSTRACT. In diesem Beitrag nähere ich mich der Thematik gesellschaftlicher Sicherheit vor dem Hintergrund des „anti-terroristischen Ausnahmezustands“ in Frankreich (2015-17) und dessen Effekte auf Protest. Der Kontext dieses Ausnahmezustands ist ein postkolonialer, geprägt von der Figur des „muslimischen Terroristen“. Neben bzw. zusammen mit einem erstarkten anti-muslimischen Rassismus in der öffentlichen Debatte, tangierte dieser Ausnahmezustand auch die „Mehrheitsbevölkerung“, da er Grund- und Freiheitsrechte einschränkte und vor allem auch zu härterem Protest Policing führte. Vor dem Hintergrund einer angehenden Forschung zur Frage der (Selbst-)Regierung von Protest im Kontext des „anti-terroristischen“ Ausnahmezustandes möchte ich auf die (gefühlte) Verstärkung von (Un)Sicherheit im Kontext von Ausnahmezuständen und postkolonialen Machtverhältnissen einhergehen. Auf der Basis einer vorläufigen Analyse von Medienmaterial und Expert*inneninterviews, fokussiere ich auf Framings von u.a. (Un-)Sicherheit, Ausnahme, Protest und (Post-)Kolonialismus. Die Frage ist, wie (progressiver) Protest vermehrt als das „Andere“ geframt wird, mit welchen Kategorien von Anderen, beispielsweise ethnisierten und/oder politischen Anderen, dies zusammenhängt und wie Protestakteur*innen mit solchen (kriminalisierenden) Zuschreibungen umgehen. Fragen gesellschaftlicher Sicherheit stelle ich vor dem Hintergrund postkolonialer Dichotomien zwischen einem nationalen Wir und ethnisierten Anderen.
Das vorgeschlagene Panel nähert sich dem Thema der Mobilisierung von Recht aus einer historischen Perspektive. Die Beiträge analysieren die Rechtswirklichkeit, Entstehung und sozialen Auswirkungen der österreichischen Zivilprozessordnung (ZPO, 1895/98). Diese Norm, die oft als Grundlage eines „sozialen Zivilprozesses“ angesehen wird und Vorbild für das Zivilverfahrensrecht vieler Länder war, sollte den Zugang zu den Gerichten zum Durchsetzen privatrechtlicher Ansprüche verbessern. Verfahren sollten möglichst schnell und billig sein, durch verstärkte richterliche Interventionsmöglichkeiten aber auch inhaltliche Richtigkeit und Schutz schwächerer Parteien gewährleisten. Die empirischen Belege für anhaltend hohe Prozessraten in einigen Kronländern nach Einführung der ZPO haben jedoch – vor dem Hintergrund sozioökonomischer Disparitäten, Krisen und Transformationen – Hypothesen eines regional spezifischen Rechtsverhaltens und möglicher nicht intendierter desintegrativer Effekte des neuen Verfahrensrechts aufkommen lassen. Die Session bietet eine erstmalige Analyse der sozialen und institutionellen Dimensionen der Verfahrensreformen im Hinblick auf die entstehenden sozialen Bürgerrechte in der Habsburgermonarchie. Das Thema ist relevant für das Verständnis der sozialen Integration, der Beziehungen zwischen kapitalistischer Wirtschaft und Ziviljustiz, aber auch für die Erforschung der sozialhistorischen Gründe von Rechtsstreitigkeiten und der verschiedenen regionalen Rechtstraditionen der späten Habsburgermonarchie.
„Prozesssüchtige“ Bukowina? Eugen Ehrlichs „lebendes Recht“ und die starke Mobilisierung der Ziviljustiz im Osten Cisleithaniens
ABSTRACT. Eugen Ehrlich gilt mit seinem Konzept des „lebenden Rechts“ als Pionier der Rechtssoziologie, des Rechtspluralismus und der ethnographischen Sozialforschung. Der kulturell enorm diverse Charakter seiner Wirkungsstätte Bukowina veranlasste ihn dazu, die – oft nicht dem Gesetz entsprechenden – tatsächlich praktizierten Rechtsgebräuche der unterschiedlichen ethnischen Gruppen empirisch zu untersuchen. Seit Teubners vielbeachtetem Aufsatz „Globale Bukowina“ ist diese historische Landschaft eine Metapher für ein Recht jenseits des Staates geworden. Das Lehrbuchnarrativ, wonach das staatliche Zivilrecht im Osten des Habsburgerreiches „tot“ gewesen sei, hält jedoch einer näheren Überprüfung nicht stand: Wie eine Analyse der für historische oder rechtssoziologische Studien bislang noch kaum genutzten Rechtspflegestatistiken der Monarchie zeigt, waren die Zivilprozessraten in der Bukowina und in Galizien außerordentlich hoch – ein Umstand, der in damaligen medialen und rechtspolitischen Diskursen zum Teil moralisierend als übersteigerte „Prozesssucht“ in den Blick genommen wurde. Abgesehen von prekären wirtschaftlichen Verhältnissen war die exzessive Inanspruchnahme der neuen Klagemöglichkeiten wahrscheinlich, so die These des Vortrags, eine unbeabsichtigte Folge der „sozialen“ Zivilprozessreformen.
Die Zivilprozessordnung vom 1895 als politisches Feld
ABSTRACT. Die Präsentation verwendet Methoden der vergleichenden Ideen-, Sozial- und Politikgeschichte. Die Verfahrensreformen werden als Politikfeld aufgefasst, in dem die Entscheidungsfindung neue Wissensressourcen jenseits von Rechtsnormen, wie etwa die Justizstatistik und Enqueten, einbezog. Der Fokus liegt auf der Vorbereitung der Zivilprozessordnung und des Exekutionsverfahrens zwischen 1890 und 1895 in einem kommunikativen Prozess zwischen Ministerialbeamten, Abgeordneten, Advokatenkammern, Richtern und der Presse. Der Beitrag analysiert die Dynamiken der Entscheidungen: Das Gesetz entsteht durch Interaktionen von Akteuren mit heterogenen Interessen und unter Verwendung verschiedener (statistischer, juristischer und soziologischer) Wissensressourcen. Ziel ist eine kontextualisierte historische Analyse des wissenschaftlichen und wohlfahrtsstaatlichen Charakters der Verfahrensreformen, denn die ZPO sollte die Zivilklage nicht nur ökonomisieren, sondern auch fairer gestalten. Der Beitrag diskutiert die Bedeutung des intendierten sozialpolitischen Aspekts der ZPO und des Exekutionsverfahrens: Wie wurde dieser durch die Gesetzgeber interpretiert, legitimiert und empirisch greifbar gemacht? Ebenso wichtig ist ihre Rezeption in der Praxis: Wurde diese Deutung der ZPO in der politischen und fachlichen Öffentlichkeit positiv aufgenommen? Wurde der Zugang zur Zivilgerichtsbarkeit zu einem sozialen Recht für die breitere Bevölkerung? Wurde der Staat als Garant dieses Rechts gesehen?
Regionale Ungleichheiten in der Nutzung von Rechtsverfahren, sozioökonomische Entwicklung und Rechtskulturen in der späten Habsburgermonarchie
ABSTRACT. Der Beitrag kombiniert soziologische und historische Analysen, indem er die quantitativen makrosozialen, ökonomischen und demographischen Faktoren untersucht, die zu regionalen Unterschieden in der Nutzung der Ziviljustiz in den letzten Jahrzehnten der österreichisch- ungarischen Monarchie führten. Welche Variablen können die unterschiedlichen und relativ stabilen Muster der Justizmobilisierung zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts erklären? Die Präsentation nutzt als empirische Quelle die erstaunlich reichhaltige, aber bisher kaum erforschte Ziviljustizstatistik der Monarchie und kombiniert sie mit anderen Statistiken über zeitgenössische soziale Strukturen. Der Beitrag konzentriert sich auf die regionalen Ungleichheiten in der Nutzung ausgewählter Rechtsverfahren (Mahnsachen, Bagatellverfahren, Mandatsverfahren, Zwangsvollstreckung) und zeigt deren Zusammenhang mit dem Niveau der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung sowie der Berufsstruktur in der Habsburgermonarchie. Die Ergebnisse belegen einerseits die Bedeutung sozioökonomischer Faktoren und andererseits den übergreifenden Einfluss lokaler Rechtsbräuche und Rechtskulturen.
Strategische Prozessführung hat zum Ziel, über einen Einzelfall vor Gericht gesellschaftliche Veränderung zu erreichen. Verfassungsgerichte sind dafür das ideale Forum, denn sie treffen Entscheidungen mit weitreichenden Wirkungen. Diese zu erstreiten, ist aber voraussetzungsvoll: Der Rechtsweg ist in der Regel zu erschöpfen, das Annahmeverfahren zu passieren und die tatsächlichen Erfolgsquoten sind gering. Die Mobilisierungsbedingungen sind damit, rechtssoziologisch gelesen, nur auf den ersten Blick günstig.
Wie verändern sich die Zugangschancen zu Recht, wenn Verfassungsgerichte mittels strategischer Prozessführung angerufen werden? Ist es gerade das kollektive Zusammenwirken aus Beschwerdeführenden und ihren Unterstützungsnetzwerken, das die erfolgreiche Mobilisierung von Verfassungsgerichten ermöglicht? Und wie unterscheiden sich die Wirkungen strategisch erstrittener von gewöhnlichen Entscheidungen? Wie beeinflussen sie den juristischen und öffentlichen Diskurs?
Zur Beantwortung dieser Fragen wirft das Panel einen Blick auf die Mobilisierungsgeschichten hinter bekannten Leitentscheidungen und fragt nach ihrem rechtlichen, sozialen und politischen Kontext, ihren Akteur*innen und ihren Wirkweisen.
Kommentar: Prof. Dr. Ralf Rogowski (University of Warwick)
Power to the people? Das „Recht auf Demokratie“ als Gelegenheitsstruktur und argumentative Ressource zur Rechtsmobilisierung gegen die Anleihekaufprogramme der EZB
ABSTRACT. Seit dem Maastricht-Urteil hat das Bundesverfassungsgericht die Verfassungsgrundsätze des Art. 20 GG und das Wahlrecht nach Art. 38 Abs. 1 GG zu einem „Recht auf Demokratie“ ausgebaut, das als Prüfmaßstab für das Handeln deutscher Staatsorgane im europäischen Integrationsprozess herangezogen und zugleich als Prüfmaßstab für das Handeln der Unionsorgane aufgeladen wird. Mit seiner Rechtsprechung hat sich das BVerfG als Kontrollinstanz der europäischen Integration im Spiel zu halten gewusst, dabei jedoch die Zulässigkeitsvoraussetzungen in diesem Bereich derart ausgeweitet, dass Beobachter:innen Analogien zur Popularklage ziehen bzw. von einem „Quasi-Popularanspruch auf Aktivierung der Integrationsverantwortung“ (Ruffert) sprechen.
Ausgehend von der Prämisse, dass die Verfassungsbeschwerde nicht zuletzt durch die Rechtsprechung des BVerfG zu einem Bestandteil der politischen Gelegenheitsstruktur der Bundesrepublik avanciert ist, fragt dieser Beitrag danach, inwiefern Kläger:innen diese Gelegenheitsstruktur für die Mobilisierung des Rechts im Bereich der EU-Integration nutzen. Wie verarbeiten die Kläger:innen das „Recht auf Demokratie“ argumentativ und diskursiv, beispielsweise in Beschwerdeschriften oder in der öffentlichen Kommunikation? Inwiefern wirkt sich die Konstruktion des Rechts auf Demokratie auf die Form und Funktion der Rechtsmobilisierung aus? Liefert es Anreize für kollektive Rechtsmobilisierung und strategische Prozessführung? Als Untersuchungsfall zur Beantwortung dieser Fragen dienen die Verfassungsklagen gegen die Anleihekaufprogramme der EZB.
Gemeinsam sind wir stark? Strategische Prozessführung im Klagekollektiv als Zugangsbrücke zu Recht
ABSTRACT. Wie verändert es die Zugangschancen zu Recht, wenn Menschen gemeinsam mit anderen klagen? Bei strategischer Prozessführung drängt sich die Frage auf, denn prägend für diese Art der Rechtsmobilisierung ist der kollektive Modus: Betroffene schließen sich mit Vereinen und Personen aus der Anwaltschaft und Wissenschaft zu einem Klagekollektiv zusammen, um Veränderungen jenseits des Einzelfalls zu erstreiten. Für die deutsche Rechtsordnung ist dies auf den ersten Blick ungewöhnlich, denn Rechtsschutz heißt vor allem Individualrechtsschutz. Gerade daraus resultieren Zugangshürden, auf die strategische Prozessführung reagiert – so die These dieses Beitrags. Um dem nachzugehen, bieten sich Themenbereiche an, in denen der Zugang zu Recht besonders schwierig ist und es in den vergangenen Jahren dennoch zu Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht kam: Überwachung und Migration, konkret einer Verfassungsbeschwerde gegen Auslandsüberwachung durch den BND und gegen die Beschränkung des Familiennachzugs im Flüchtlingsrecht. Ein empirischer Vergleich dieser auf den ersten Blick sehr unterschiedlichen Felder aus der Perspektive rechtssoziologischer Mobilisierungstheorien offenbart die Bedeutung strategischer Prozessführung: Indem Klagekollektive Mobilisierungsregeln navigieren, materielle und immaterielle Ressourcen für Verfahren organisieren sowie diese kollektiv begleiten, verändert sie die Zugangschancen zu Recht. Sie schaffen eine Zugangsbrücke „von unten“ und füllen Lücken, die ein strikt individualschützendes System hinterlässt.
Die Transformation der Gerechtigkeit - Auswirkungen höchstgerichtlicher Klimaschutz-Entscheidungen auf den Rechtsdiskurs zum Klimawandel
ABSTRACT. Weltweit steigt die Zahl der Versuche, ehrgeizigere Klimaschutzmaßnahmen durch strategische Prozessführung gerichtlich durchzusetzen. Einzelne Fälle führen zu bahnbrechenden Urteilen, die den Bereich des anwendbaren Rechts im Zusammenhang mit der Klimakrise neu definieren. Der Beitrag analysiert höchstgerichtliche Klima-Entscheidungen und ihre Auswirkungen auf den Rechtsdiskurs zum Klimawandel unter Anwendung der wissenssoziologischen Diskursanalyse. Durch strategische Prozessführung gelangen naturwissenschaftliche Wissensvorräte über den Weg der richterlichen Beurteilung in den rechtsdogmatischen Diskurs. Die wiederholte Bestreitung des Rechtsweges führt zur kontinuierlichen Aktualisierung dieser Wissensvorräte und in seltenen Fällen zur Entstehung neuer Rechtsfiguren.
Mobilisierung von Recht gegen die totale Institution
ABSTRACT. Zugang zum Recht für Gefangene gegen die Anstalt weist die Besonderheit auf, dass sämtliche Lebensbereiche der Gestaltungsmacht des Prozessgegners unterliegen. Wie wirkt sich dies auf den Zugang zum Recht und die Forschung darüber aus?
Grundlage des Vortrags bilden Ergebnisse eines internationalen Forschungsprojekts über den Zugang zum Recht für Gefangene vor einer Verurteilung (https://www.prisonlitigation.org/eupretrialrights/) und die Auswertung von Briefkommunikation des Strafvollzugsarchivs (https://strafvollzugsarchiv.de) sowie exemplarischer Prozessvertretung (am Beispiel Vollzugslockerungen im Vergleich zu Dänemark: Graebsch/Storgaard Prison Leave and Access to Justice: An Insight into Danish and German Law in Action. Erscheint in: Oñati Socio-legal Series).
Deutschland gilt international als vorbildlich in Bezug auf Gefangenenrechtsschutz. Die Vielzahl der positiven Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts scheint diesen Befund zu bestätigen. Eine rechtssoziologische Analyse des Zugangs zum Recht darf aber nicht bei einer oberflächlichen Betrachtung von außerhalb stehenbleiben. Vielmehr ist es notwendig, die Tiefenstruktur der rechtlichen Entscheidungen und ihres vollzuglichen Kontexts aus der Perspektive ihrer Adressat:innen zu analysieren. Über einen solchen Zugang ergibt sich ein Gesamtbild, das sich entgegen aktueller Forderungen nach Verfahrensgerechtigkeit als „procedural injustice“ charakterisieren lässt.
Gründe für und Folgen der Nichtmobilisierung von Rechten von Opfern von Gewalt im Strafvollzug
ABSTRACT. In unserem Vortrag widmen wir uns zunächst der Frage, warum Opfer von Gewalt in Haft häufig Schwierigkeiten haben, sich überhaupt als solche wahrzunehmen und zu positionieren. Aus einer empirischen Studie zu Gewalt in Haft (Hofinger, Fritsche 2021) wissen wir, dass sowohl die Wahrnehmung von Rechtsverletzungen und das Eingeständnis Opfer geworden zu sein, als auch die Meldung solcher Vorfälle mit großen Hürden verbunden sind: Subkulturelle Identitäten und v.a. damit verbunden verpönte Opferpositionierungen sowie wenig Aussicht auf hilfreiche Reaktionen durch die Institution prägen den Alltag. Negative Erfahrungen (“es wird einem soundso nicht geholfen”), die Befürchtung, in Folge der Meldung Repressionen ausgesetzt zu sein, wenn man seine Mithäftlinge oder das Strafvollzugspersonal anzeigt, machen Rechtsmobilisierung unwahrscheinlich. Alltagskulturelle Bedingungen der totalen Institution Gefängnis und strukturelle Hürden im Zugang zum Recht erschweren somit nicht nur die Transformation vom „Blaming“ zum „Claiming“ (Felstiner et al.), sondern auch die diskursive Rahmung von Rechtsverletzungen als solche. Neben einer Analyse der Bedingungen widmen wir uns der Frage, welche intendierten und nicht intendierten Folgen diese Nicht-Mobilisierung von Rechten hat und welche Rahmenbedingungen Gewaltopfern in Haft den Zugang zum Recht erleichtern würden.
Rechtsschutz im Strafvollzug: Rechtliche und rechtswirkliche Situation in der BRD und der Schweiz
ABSTRACT. Während es sich bei der geschlossenen Institution Strafvollzug einerseits um einen äußerst grundrechtssensiblen und stark verrechtlichen Bereich handelt, besteht im Bereich des Rechtsschutzes von Gefangenen andererseits eine erhebliche Differenz zwischen geschriebenem Recht in den Strafvollzugsgesetzen und gelebtem Recht in der Vollzugswirklichkeit. So bestehen sowohl in der BRD als auch der Schweiz unterschiedliche strukturelle Hürden bezüglich eines effektiven Rechtsschutzes und der tatsächlichen Mobilisierung von Rechten aus den Strafvollzugsgesetzen durch Gefangene.
Als an der Schnittstelle zwischen Wissenschaft und Praxis agierende NGOs möchten wir Recht und Rechtswirklichkeit des Rechtsschutzes in der BRD und der Schweiz vergleichend in den Blick nehmen. Neben der theoretischen Verortung des Themas interessieren wir uns außerdem für konkrete Fragestellungen bezüglich der Vollzugspraxis: Wieso gestaltet es sich bis dato als derart schwer, diesen gesellschaftlichen Bereich zu verändern? Welche Erfahrungen haben andere Rechtsberatungsprojekte in vergleichbaren Feldern gemacht?
Autonomieerweiterung, Responsibilisierung oder totale Kontrolle? Ambivalenzen der Ausweitung digitaler Zugänge für Gefangene
ABSTRACT. Während sich unsere Gesellschaften zunehmend zu digitalen Informationsgesellschaften entwickeln, haben Inhaftierte in der Regel keinen Zugang zu modernen Informations- und Kommunikationstechnologien. Smart Prisons, die auch digitale Geräte für Insass:innen bereitstellen, ermöglichen mehr Selbstbestimmung, bieten Zugang zu Bildung und Information, stärken den Kontakt zu Angehörigen und reduzieren Deprivationseffekte. Laut Konzept der „digital rehabilitation“ wirken digitale Geräte in unterschiedlichen Bereichen positiv auf die Resozialisierung. Neben diesen Chancen bestehen jedoch auch Risiken, die über die Gefahr des Missbrauchs der Geräte durch die Inhaftierten hinausgehen. Auf der Basis von 39 Interviews mit Inhaftierten und theoretischen Überlegungen zeigen wir die Ambivalenzen einer solcher Digitalisierung in Haft auf und skizzieren die Bedingungen einer bedarfsorientierten Implementierung.
Der Markt für digitale Rechtsdienstleistungen im Arbeits- und Sozialrecht. Merkmale von Legal-Technology-Anbietern aus sozialwissenschaftlicher Perspektive
ABSTRACT. Digitale Rechtsdienstleister, bei denen Rechtsuchende vom heimischen Sofa aus online Widerspruchsverfahren einleiten oder Abfindungen einklagen können, haben in verschiedenen Rechtsgebieten an Bedeutung gewonnen und verändern die Muster der Rechtsdurchsetzung. Da sie den Anspruch formulieren, den Zugang zum Recht zu verbessern, stellt sich die Frage, wer diese Anbieter eigentlich sind und welche Dienstleistungen sie anbieten. Der Vortrag präsentiert zentrale Merkmale und Typen kommerzieller Anbieter im Arbeits- und Sozialrecht aus sozialwissenschaftlicher Perspektive. Dabei fragt er nach Gemeinsamkeiten und Unterschieden zwischen beiden Rechtsgebieten bzw. Politikfeldern. Die Präsentation basiert auf den Ergebnissen zweier empirischer Forschungsprojekte, die vom Fördernetzwerk Sozialpolitikforschung am BMAS bzw. von der Hans-Böckler-Stiftung gefördert wurden. Die Hauptthese des Beitrags lautet, dass – analog zu anderen sozialpolitischen Feldern – im Bereich der Rechtsdienstleistungen ein Ökonomisierungs- und Liberalisierungsprozess stattfindet, der die Bedeutung von Markt- und Wettbewerbsprinzipien bei der Rechtsdurchsetzung stärkt. Zudem lassen sich tendenzielle Konzentrationsprozesse identifizieren, die auch auf anderen Online-Märkten zu beobachten sind.
Videoverhandlungen - Chancen für einen verbesserten Zugang zum Recht?
ABSTRACT. Die Gesetzgebung zur Corona-Pandemie hat mit der Möglichkeit, Gerichtsverhandlungen mit Hilfe von Videotechnik durchzuführen, einen Anstoß zur nachhaltigen Veränderung des Zugangs zum Recht geleistet. Aus diesem Grund soll im Rahmen des Track 5 die Frage thematisiert werden, ob und inwieweit der Einsatz der Technik Chancen für einen verbesserten Zugang geschaffen hat. Dabei soll zunächst auf die grundsätzlichen Erleichterungen und Erschwernisse durch den Einsatz von IT eingegangen werden, um diese in einem zweiten Schritt in Beziehung zu den Besonderheiten der Sozialgerichtsbarkeit zu setzen.
Der Vortrag stützt sich auf ein interdisziplinäres und empirisches und von Oktober 2020 bis Dezember 2021 durchgeführtes Forschungsprojekt, in welchem mehr als 60 Experteninterviews sowie mehr als 13.000 Fragebögen aus sechs Gruppen (haupt- und ehrenamtliche Richter*innen der Arbeits- und Sozialgerichte, Prozessvertreter*innen aus Anwaltschaft, DGB, SoVD, VdK und den Sozialleistungsträgern) ausgewertet wurden.
Im Rahmen des Vortrags werden u. a. folgende Fragen thematisiert:
• Welche Vor- und Nachteile sind mit der Nutzung der Technik im Gerichtsverfahren verbunden?
• Was sind die Besonderheiten der Sozialgerichtsbarkeit und wie kann diesen bei einer Nutzung der Technik Rechnung getragen werden?
• Wie bewerten die Befragtengruppen den Einsatz von IT im Hinblick auf den Zugang zum Recht?
Thematisiert werden soll auch das aktuelle Gesetzgebungsverfahren. Erkenntnisse des Forschungsprojekts und daraus zu ziehende Schlussfolgerungen schließen den Vortrag ab und sollen in eine Diskussion im Plenum münden.
Zugang zu sozialen Rechten durch strategische Prozessführung - Chancen und Risiken am Beispiel des Grundsicherungsrechts
ABSTRACT. Zuletzt haben strategische Prozesse vor dem Bundesverfassungsgericht im Bereich der Grundsicherung für Aufsehen gesorgt. In den Verfahren zu den Sanktionen im SGB II und zur Sonderbedarfsstufe im AsylbLG hatten Gerichte eine von NGOs formulierte Mustervorlage aufgegriffen, um dem Bundesverfassungsgericht Einschränkungen der Existenzsicherung zur Überprüfung vorzulegen. Dieser Vortrag möchte aufzeigen, welche Chancen ein solches arbeitsteiliges Vorgehen von Justiz und Zivilgesellschaft für den Zugang zu sozialen Rechten eröffnet und welche Risiken damit einhergehen.
International durchgesetztes Privatrecht als postkoloniales Problem
ABSTRACT. Der Beitrag thematisiert die Asymmetrie im Zugang zu internationalen rechtlichen Standards als Spätfolge des Kolonialismus, mit einem besonderen Augenmerk auf die Rolle des Privatrechts. Als empirisches Beispiel dient der Vergleich des Zugangs der Bundesrepublik Deutschland und Namibias.
Während bundesdeutsche Akteur:innen das Verhältnis zu Namibia als eines der "Wiedergutmachung" vergangenen Unrechts und als eines der zukünftigen ökonomischen Kooperation thematisieren, sind die rechtlichen Formatierungen des Kolonialismus für namibische Akteur:innen gegenwärtig maßgebend für Zukunftsentscheidungen. Nicht nur die lokale Ressourcenverteilung in Namibia, sondern auch der Zugang zu internationalem Recht, und damit die relative Machtstellung Namibias innerhalb der Weltgesellschaft, sind durch Kolonialismus geprägt.
Rechtssoziologisch sind hierbei zwei Elemente von fundamentaler Wichtigkeit.
1. Heute sind verfassungsrechtliche Diskurse ganz wesentlich durch die nationalen Geschichtsschreibungen geprägt. Somit kann dem Wandel der ursprünglich naturrechtlichen Legitimation im nachmetaphysischen Zeitalter durch die Analyse der Trajektorien der Geschichtsschreibung gefolgt werden.
2. Namibia war von 1915 bis 1990 ein Teil des südafrikanischen Herrschaftsbereichs. Daher müssen erstens das geltende holländisch-römisches Privatrecht und zweitens die historischen Trajektorien Südafrikas, insbesondere der Apartheid, in die Analyse einbezogen werden.
Standardization in the Era of Technopolitik – standard setting in Quantum Computing as example
ABSTRACT. Technopolitics is the concept that deals with the role of technology in international politics and how political power is gained through the use or development of digital technologies such as quantum computing. The emerging age of quantum computing has important implications for the distribution of political power in international politics, particularly in the area of standard setting. Standards help to ensure interoperability and compatibility of products and services, but access to technology standards can be influenced by companies and countries that exercise control over these standards, thereby affecting global access to the legal system. It is important to closely examine the impact of quantum computers on the distribution of political power in international politics and to understand how the availability of standards and use of quantum computers may affect global access to the legal system.
ABSTRACT. Der kollektive Rechtsschutz wird aufgrund der Umsetzung der EU-Verbandsklagenrichtlinie in Deutschland und Österreich (aber auch in der Schweiz) aktuell rechtspolitisch diskutiert. Verbandsklagen, Sammel- und Gruppenklagen können und sollen einen Impact (Friedman 2016) haben. Im Vortrag wird eine Bestandsaufnahme und Kategorisierung der dazu vorhandenen empirischen Untersuchungen geliefert; außerdem sollen Perspektiven für weitere Forschungsarbeiten entwickelt werden. Dazu wird bewusst der Austausch mit der Rechtssoziologie gesucht.
Die rechtspolitische Diskussion zum kollektiven Rechtsschutz bezieht sich stark auf dessen (unterstellte) empirischen Wirkungen: Die Gegner behaupten einen „Missbrauch“ insbesondere aus finanziellen Motiven, die Be-fürworter erhoffen sich eine verhaltenssteuernde Wirkung und gesellschaftli-che Teilhabe durch access to justice. Der Vortrag wird die vorhandenen empirischen Studien aus USA, Kanada und Australien darstellen und systematisieren, ebenso die Ansätze entsprechender Forschung zur Verbandsklage und zum Kapitalanleger-Musterverfahrensgesetz in Deutschland.
Perspektiven weiterer Forschung werden in drei Richtungen entwickelt: Erstens wird ein 2022 entworfenes internationales Projekt einer strukturierten Datenerfassung zu class actions und vergleichbaren Instrumenten vorgestellt. Zweitens werden Anschlussmöglichkeiten zur Mikroökonomik erkundet (evidence-based policy), und drittens auch politikwissenschaftliche Ansätze erörtert, insbesondere im Hinblick auf die symbolisch-diskursive Bedeutung von Prozessführung (Lahav 2017).
ABSTRACT. Digitale Arbeitsplattformen bergen neue Möglichkeiten und Herausforderungen der Sammlung, Auswertung und Kommerzialisierung von personenbezogenen Daten. Der Beitrag befasst sich mit der Frage, wie im Zeitkontext „flüchtiger Überwachung“ (Baumann und Lyon 2013) Datenschutzstandards für Plattformbeschäftigte wirksam durchgesetzt werden können. Verschiedene bestehende Instrumente datenschutzrechtlicher Rechtsdurchsetzung werden beleuchtet und einer kritischen Analyse unterzogen: individuelle Schutzrechte, staatliche Aufsicht, kollektive Rechtsdurchsetzung, Selbst- und Ko-Regulierung. Der Beitrag kann dabei auf Ergebnisse einer empirischen Studie über Datenschutzrisiken, Transparenz über Datenverarbeitungen und selbstregulative Datenschutzmaßnahmen auf deutschen Arbeitsplattformen (Hornuf, Mangold und Yang 2023) rekurrieren. Gestützt auf eine empirische Fundierung lassen sich rechtspolitische Handlungsempfehlungen für ein effektives datenschutzrechtliches Rechtsschutzinstrumentarium bei Plattformarbeit ableiten.
Gleichberechtigter Zugang zu staatlichen Leistungen durch Gender Budgeting?
ABSTRACT. Gender Budgeting hat das Ziel, die Mittel der öffentlichen Haushalte so zu verwenden, dass die gleichberechtigte Teilhabe von Frauen und Männer gesichert wird. Damit wird der verfassungsrechtliche Gleichheitssatz explizit auch als Aufgabe der Haushaltspolitik und Mittelverwaltung und der Haushalt als Steuerungsinstrument für gesellschaftspolitische Ziele verstanden. Es soll gezeigt werden, welche Erfahrungen in den vergangenen 20 Jahren im Land Berlin mit Gender Budgeting gesammelt wurden und warum eine Weiterentwicklung zu einer geschlechtergerechten Haushaltssteuerung für erforderlich gehalten wird. Dabei werden vor allem die Bereiche des Haushalts in den Blick genommen, die staatliche Leistungen im Wege von Zuwendungen etatisierten und einer Steuerung durch die Verwaltung in besonderer Weise zugänglich sind. Auch unter Berücksichtigung der Erfahrungen z.B. in Österreich wird zu diskutieren sein, welcher - auch rechtlichen - Vorgaben und Absicherungen es bedarf, um den Landeshaushalt stärker ziel- und wirkungsorientiert zu steuern.
Zugänglichkeit durch Haltung? Erfahrungen der LADG-Ombudsstelle in der Beratung und Intervention in Fällen rassistischer Diskriminierung in Berlin
ABSTRACT. Das Berliner Landesantidiskriminierungsgesetz verbietet seit 2020 Diskriminierung durch öffentliche Stellen des Landes Berlin, es etablierte neben Verbandsklagemöglichkeiten auch eine unabhängige staatliche Ombudsstelle zur außergerichtlichen Streitbeilegung. Bei der Ombudsstelle gehen jährlich 300-400 Beschwerden ein, 1/3 davon zu rassistischer Diskriminierung, wie Racial Profiling, ein großer Teil betrifft intersektionale Konstellation. Die Ombudsstelle unterscheidet sich von Gerichten u.a. durch niedrigschwellige, mehrsprachige Beratung und eine dezidiert diskriminierungskritische, antirassistische Haltung. Der Vortrag analysiert, informiert durch das Forschungsparadigma der rassismuskritischen Rechtswissenschaft, ausgehend von der Beschwerdestatistik der LADG-Ombudsstelle und den Erfahrungen der Berater*innen der Ombudsstelle die Bedingungen für eine Mobilisierung oder Nicht-Mobilisierung von Recht und Rechten durch rassifizierte Personen in verschiedenen Stufen: a) Beschwerde bei und Beratung durch die Ombudsstelle, b) außergerichtliche Interventionen der Ombudsstelle, c) Beschreiten des Klagewegs, d) im Gerichtssaal. Genähert werden soll sich so der Frage, wann und warum die Inanspruchnahme des Rechts auf den verschiedenen institutionellen Ebenen zu Empowerment oder Depowerment im rechtlichen Verfahren geführt hat.
Weiße Deutungshoheit statt Objektivität: Der ‚objektive Dritte‘ und die systematische Abwertung rassismuserfahrener Perspektiven
ABSTRACT. Dieser Beitrag vertritt die These, dass sich hinter einer scheinbar perspektivlosen Objektivität im Recht, wie sie in der Figur des ‚objektiven Dritten‘ zum Ausdruck kommt, eine unter dem Deckmantel der Objektivität agierende weiße Perspektive verbirgt. Zur Plausibilisierung dieser These rekapituliert der Text kurz gängige Objektivitätsverständnisse, die Objektivität vor allem in Abgrenzung zu Subjektivität definieren und mit Neutralität gleichsetzen. Unter den bestehenden Kritiken an diesem Verständnis von Objektivität werden die feministischen sozialepistemologischen Theorien von Sandra Harding, Donna Haraway und Patricia Hill Collins hervorgehoben. Dass es sich bei einer nur dem Anschein nach objektiv-neutralen, tatsächlich aber partikularen Position oft um eine spezifisch weiße handelt, wird mit Bezug auf kritische Weißseinsforschung weiter erläutert. Anschließend illustrieren Beispiele aus der Rechtsprechung, die sich der Figur des objektiven Dritten bedienen, wie Objektivität als bloße Fiktion eingesetzt und damit die dahinterstehende partikulare Perspektive verschleiert wird. Der Beitrag schließt mit einem Ausblick darauf, wie sich die als Objektivität nur getarnte weiße Deutungshoheit ersetzen lässt durch das Ideal der ‚starken Objektivität‘.
Die Weiße Verfasstheit der deutschen Rechtswissenschaft
ABSTRACT. In diesem Beitrag wird der Sammelband „(Post)Koloniale Rechtswissenschaft“ beim renommierten Mohr Siebeck Verlag als Anlass genommen, um über weiße Wissensproduktion in der deutschen Rechtswissenschaft zu diskutieren. Es wird festgestellt, dass der Beitrag von ausschließlich weißdeutschen Autor*innen zu diesem Buch die weiße Deutungshoheit über nahezu allen Themen in der Rechtswissenschaft veranschaulicht, während Schwarzen oder of Color Jurist*innen zum einen die Wissenschaftlichkeit aufgrund möglicher Betroffenheit abgesprochen und zum anderen der Zugang zur Wissensproduktion aufgrund der Aufrechterhaltung der Exklusivität weißer Expert*innenkreise verwehrt bleibt. Darüber hinaus wird das Paper der Frage nachgehen, wie Diversität in der deutschen Rechtswissenschaft überhaupt verwirklicht werden kann, mit dem Ansatz, dass eine zukunftsfähige qualitätsbasierte Rechtswissenschaft in einer globalen Welt und in der deutschen Migrationsgesellschaft nicht auf die eigenen wissenschaftshungrigen Talente verzichten kann.
Deutsche Amnesie: deutsches Völkerrecht und koloniale Ignoranz
ABSTRACT. “Nun ist aber der Eingeborene der wichtigste Gegenstand der Kolonisation . . . und die manuelle Leistung des Eingeborenen das wichtigste Aktivum.” So formulierte es der Staatssekretär des Reichskolonialamtes, Bernhard Dernburg.
Der Blick, die Einengung, die Rassifizierung des Menschen erfuhren eine Migration in die Unterscheidung von Menschen und Kulturen, die einen Antrieb für rassistische Strukturen im Recht ergaben. Deutsche Kolonialgeschichte, jedoch, wird nicht eingebunden in die deutsche Zeitgeschichte, geschweige denn in die Rechtswissenschaft. Die Singularität einer Schuld klammerte die andere aus und reduzierte sie zu einer Fußnote in deutscher Geschichte und Recht.
Diese Präsentation will daher kritisch hinterfragen, weshalb das deutsche Völkerrechtswesen, seine Lehrer:innen und sein strukturelles Wesen die Kolonialgeschichte nie einer kritischen Hinterfragung unterworfen haben. Es geht darüber hinaus auch um die Frage der hegemonialen Verfassung des deutschen Rechtswesens und der Ignoranz um die eigene Geschichte: Ist deutscher Kolonialismus ein notwendiger Zivilisierungsprozeß gewesen, um das europäische Völkerrecht zu erweitern?
In den letzten Jahrzehnten wurden in vielen Ländern unabhängige staatliche Stellen geschaffen, die Beschwerden über die Polizei bearbeiten. Manche dieser Stellen sind nur für die Polizei zuständig, andere fungieren als Ombudsinstitutionen im weiteren Sinne. Für Menschen mit geringer Beschwerdemacht versprechen solche Stellen, den Zugang zum Recht zu erleichtern. Der Umgang mit Unzufriedenheit über die Arbeit der Polizei ist in den letzten Jahren zunehmend auch auf wissenschaftliches Interesse gestoßen, wobei rechts- und politikwissenschaftliche, kriminologische, soziologische und historische Perspektiven überwiegen und teils transdisziplinär zusammengeführt werden. Die Beiträge dieses Panels basieren auf dem (in Deutschland von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderten) Projekt Police Accountability – Towards International Standards (2021-2024), in dem interdisziplinäre Forschungsteams aus fünf Ländern (Frankreich, Großbritannien, Japan, Kanada und Deutschland) die Praxis externer Bearbeitung von Beschwerden über die Polizei vergleichend untersuchen, um Best Practices zu identifizieren.
Theoretische Schlüsselkonzepte für den Vergleich unabhängiger Polizeibeschwerdestellen
ABSTRACT. Wissenschaftliche Arbeiten, die sich mit Unzufriedenheit mit der Polizeiarbeit und mit externen Polizeibeschwerdesystemen befassen, gehen von unterschiedlichen theoretischen Perspektiven aus. In einer politik- und verwaltungswissenschaftlichen Perspektive ist Accountability das Schlüsselkonzept, das untersucht, wie und gegenüber wem mächtige Akteure ihr Handeln (oder Unterlassen) rechtfertigen müssen. In dieser Perspektive sind unabhängige Beschwerdestellen ein Accountability-Forum, ebenso wie Parlamentsausschüsse, Gerichte, zivilgesellschaftliche Akteure oder die breitere (Medien-)Öffentlichkeit. Aus der Sicht der von Polizeimaßnahmen Betroffenen lässt sich die Beschwerdebearbeitung auch aus der Perspektive von Procedural Justice- und Fairness-Theorien untersuchen, ebenso als prozeduraler Beitrag zum Schutz der Menschenrechte. Andere Autor*innen stellen den Integrity-Ansatz und damit Anforderungen an die einzelnen Polizist*innen und die Polizeiorganisationen stärker in den Mittelpunkt. Der Beitrag untersucht mögliche Synergien zwischen diesen theoretischen Schlüsselkonzepten für die international vergleichende Forschung zu externen Polizeibeschwerdemechanismen.
Police Accountability zwischen liberaler Polizeikritik und gesellschaftlicher Transformation
ABSTRACT. Positionen zum Umgang mit der Polizei als machtvoller Organisation lassen sich vereinfacht in drei Perspektiven unterteilen: eine polizeireformistische, die Polizei für notwendig aber verbesserungsfähig hält, eine einschränkende Perspektive, die eine Begrenzung polizeilicher Funktionen und Aufgaben favorisiert, und eine abolitionistische Perspektive, die nach einer umfassenden gesellschaftlichen Transformation strebt, welche die Polizei letztlich überflüssig macht. Aus diesen drei Perspektiven wird eine demokratische bzw. rechtsstaatliche Einhegung der Polizei unterschiedlich konzeptualisiert. Während abolitionistische Ansätze von einer Nichtkontrollierbarkeit der Polizei ausgehen, setzen die beide anderen Perspektiven – mit unterschiedlichen Schwerpunkten – auf bessere Kontrolle und demokratische Einhegung. Vor diesem Hintergrund erörtert der Beitrag das im Angelsächsischen schon länger diskutierte Konzept der Police Accountability, stellt unterschiedliche Police Accountability-Mechanismen vor und lotet deren Potentiale und Grenzen aus. Im Fokus steht dabei zum einen die Frage des transformatorischen Potentials von verschiedenen Police Accountability-Konzepten, zum anderen wird der Frage nachgegangen, inwiefern, für wen und mit welchen Zielstellungen unterschiedliche Police Accountability-Mechanismen rechtsstaatlich gebotene Zugänge zum Recht gewährleisten, verbessern oder aber auch verstellen können.
Complaint Handling in Institutions – What Police Can Learn from Universities
ABSTRACT. Theoretische Perspektiven auf externe Beschwerdeeinrichtungen über die Polizei von Anja Johansen. Policing practices tend to draw large numbers of complaints. Internal investigations were found ineffective in bringing structural change and justice for victims. Hence, police oversight agencies were introduced as a solution to the problem of large volumes of complaints and failed internal processes. In comparison to other fields, they arrived somewhat late to the ombuds scene. In many sectors of society, complaint bodies have become an ordinary, even unremarkable feature of institutional life. This paper will discuss what police oversight can learn from complaint procedures in higher education and will specifically engage with findings presented by Sara Ahmed in four of her books on this subject: The Promise of Happiness (2010), On Being Included (2012), Willful Subjects (2014), and Complaint! (2021). Somewhat skeptical, Ahmed cautions against the urge towards „overing“ a problem without solving it and of „hopeful performative“ speech acts of symbolic politics in complaints management. Ahmed offers theoretical frameworks to explore the affective reproduction of inequalities as well as to rethink institutional dynamics and the animated effects of policy regimes and processes. These may, to some extent, be applicable to explorations of police oversight bodies. This paper will consider whether oversight bodies, with their promise of accountability actually grant victims and the marginalized access to rights. It will debate whether they rather function as concealment and, thus, extension of exclusion while reproducing power relations and privileging dominant groups.
Ungleiche Teilhabe – Zugänglichkeit zu Sozialleistungen bei Mutterschutz
ABSTRACT. Ob Mutterschutz in Deutschland paternalistisch ausgrenzt oder Teilhabe sichert, hängt vom Erfolg der Mutterschutzreform ab (Nebe, 2020, Sozialer Fortschritt, 69, 529-544). Es bedarf besonderer Vorkehrungen, damit Schutznormen nicht faktisch diskriminieren (BVerfG, 18.11.2003, BGBl I 2004, 69). Die Evaluation der Mutterschutzreform zeigt deren nur zögerliche Wirkung. Beschäftigungsverbote haben weiter hohe Akzeptanz. Zudem besteht unzureichendes Wissen zur Refinanzierung von teilhabesichernden Schutzmaßnahmen. 80% der Arbeitgeber wissen, dass bei vollständigem Ausfall (Beschäftigungsverbot) ihre Entgeltkosten ersetzt werden. Hingegen wissen nur 15%, dass auch bei einem Wechsel in eine teilhabesichernde Weiterbeschäftigung Aufwendungen ausgeglichen werden. Teilhabesichernde Anpassung wird in den Betrieben zudem aus Risikogründen gescheut. Es fehlt an gesicherten arbeitswissenschaftlichen Erkenntnissen über Risikozusammenhänge. Eine Mitverantwortung der Unfallversicherung für Erkenntnisgewinn, § 14 Abs. 4 S. 2 Nr. 1 SGB VII, wird verkannt (BT-Drs. 20/2510). In der anwaltlichen Beratung wird gut verdienenden Gruppen empfohlen, diese Effekte für sich zu nutzen und statt Elterngeld (67%) den Mutterschutzlohn (100%) in Anspruch zu nehmen (vgl. statt vieler https://www.bischoffundpartner.de/zp-07-2020-mutterschutz.pdf), allerdings bislang ohne gerichtlichen Rückhalt (vgl. LAG Baden-Württemberg, 10.8.2021, 11 SaGa 1/21).
Sozialrechtliche und sozialpolitische Barrieren hinsichtlich der Realisierung des Budget für Arbeit (BfA) beim Übergang von der WfbM auf den allgemeinen Arbeitsmarkt
ABSTRACT. Mit der Einführung des im Bundesteilhabegesetz (BTHG) verankerten Budgets für Arbeit (§ 61 SGB IX) bezweckte der Gesetzgeber im Rahmen der UN-BRK als Alternative zur Werkstatt den Übergang für Menschen mit Behinderung auf den allgemeinen Arbeitsmarkt zu fördern. Die bisherige Inanspruchnahme des BfA liegt bisher weit unter den Erwartungen des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales (BMAS). In einer qualitativen Interviewstudie (N=70) wurden hemmende und fördernde Faktoren auf Seiten verschiedener Akteure identifiziert.
Hemmende Faktoren sind insbesondere:
1) Föderalistische Struktur der Ausgestaltung (Unterschiede in Antragsverfahren, Zuständigkeiten etc.)
2) Unklare Anspruchsberechtigung
3) Intransparentes Antragsverfahren (mangelnde Umsetzung der „Hilfen wie aus einer Hand“)
4) Divergierende Interessenlagen (Tripelmandat der WfbM)
5) Rechtliche Ausgestaltung (Sozialversicherungspflicht in der gesetzlichen Rentenversicherung und Versicherungsfreiheit in der Arbeitslosenversicherung)
Im geplanten Vortrag sollen mögliche Lösungsansätze, die in den Interviews und der Zusammenarbeit mit Praxispartner*innen identifiziert wurden, vorgestellt werden. Die Ansätze sollen die Selbstbestimmung des Menschen mit Behinderung i.S.d. § 1 SGB IX stärken und Hilfen und Rahmenbedingungen für individuelle und institutionelle Rechtsmobilisierung aller Akteure, die in einem BfA-Prozess beteiligt sein können, aufzeigen.