INNSBRUCK-2023: 5. KONGRESS DER DEUTSCHSPRACHIGEN RECHTSSOZIOLOGIE-VEREINIGUNGEN
PROGRAM FOR THURSDAY, SEPTEMBER 21ST
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09:30-10:00 Session 1: Begrüßung und Eröffnung
  • Begrüßung durch Hemma Mayrhofer (Institut für angewandte Rechts- und Kriminalsoziologie), Caroline Voithofer (Institut für Theorie und Zukunft des Rechts) und Michael Ganner (Institut für Zivilrecht), Universität Innsbruck
  • Grußworte durch Franz Eder, Dekan der Fakultät für Soziale und Politische Wissenschaften, Universität Innsbruck
Location: Aula
10:00-11:15 Session 2: Eröffnungs-Keynote Hemma Mayrhofer (Universität Innsbruck): Zugängliche Rechtsforschung? Reflexionen zur Positionierung rechtssoziologischer Forschung zwischen Anwendungsorientierung und wissenschaftlicher Exzellenz

mit anschließendem Kommentar von Michael Wrase (Universität Hildesheim und Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung).

ABSTRACT Eröffnungs-Keynote:

Im Zentrum der Eröffnungs-Keynote von Hemma Mayrhofer steht die Frage nach dem Verhältnis der Rechtssoziologie bzw. interdisziplinären Rechtsforschung zur sogenannten Praxis, also zu relevanten Umwelten außerhalb des Wissenschaftssystems. Ausgehend von der Beobachtung, dass auch Wissenschaft in Zeiten großer gesellschaftlicher Umbrüche ihre Positionierung in der Gesellschaft neu ausloten muss, wird zunächst nach dem Zusammenhang zwischen wissenschaftlicher Funktion und Leistung gefragt. Faktisch tritt dieser Zusammenhang oft als Spannungsverhältnis zwischen Autonomiediskursen und Nützlichkeitsdiskursen in Erscheinung. Darauf aufbauend wird im Vortrag die Grenze zur „Praxis“ ausgelotet und werden Überlegungen zu wissenschaftlicher Autonomie bzw. Grenzziehung bei gleichzeitig großer Umweltoffenheit präsentiert. Dafür soll das Konzept der Grenzstellenarbeit fruchtbar gemacht werden. In einem dritten Schritt wird danach gefragt, welche Formen es konkret annehmen kann, wenn Wissenschaft und Praxis miteinander in Austausch treten oder gar kooperieren, und welche intermediären Begegnungs- und Kommunikationsformate hierfür gewinnbringend erscheinen.

Location: Aula
11:45-13:15 Session 3A: Track 1: Panel: Wissen in aktuellen abstammungsrechtlichen Diskursen

In vielen europäischen Ländern werden Reformen des Abstammungsrechts diskutiert. Das Abstammungsrecht regelt, welche Erwachsenen einem Kind als rechtliche Eltern zugeordnet werden. Das dient der Absicherung des Kindes – und was noch?

Quasi am "Vorabend" einer Reform ist - interdisziplinär und international vergleichend - zu fragen, was Ziele und Zwecke des Abstammungsrechts sind. Insbesondere der unbestimmte Rechtsbegriff des Kindeswohls dient als Einfallstor normativer Vorstellungen über Kinder, Familie und Geschlecht. Welches Wissen wird hier rezipiert und wie wird es ins Verhältnis zum Recht gesetzt?

Sarah Mühlbacher, Universität Frankfurt, analysiert, welche Bilder von und Zuschreibungen an Kinder sowie ideale Sozialisationsbedingungen sich in den aktuellen Reformdebatten wiederfinden.

Fiona Behle, Universität Zürich, blickt hinter den "Vorhang des rechtsdogmatischen Prinzips auf die Entstehung einer rechtswissenschaftlichen Tatsache" und untersucht das Dogma von Zweielternschaft.

Theresa Richarz, Universität Hildesheim, dekonstruiert schließlich, wie in der Rechtsprechung zur Elternschaft queerer Personen die genetisch verwandte Familie zugleich als heteronormative dargestellt wird – im Interesse des Kindes.

11:45
Rechtliche Produktionsweisen von Wissen über Kindheit

ABSTRACT. Im Recht wird Wissen über Kindheit verhandelt, Kindheiten werden konstruiert, hegemoniale Vorstellungen von Kindheit, deren Wirken weit über das Recht hinausreichen, finden Niederschlag in rechtlichen Regelungen. Die Produktion von Wissen über Kindheit findet dabei weitgehend in Abwesenheit von Kindern statt. Basierend auf einer empirischen Analyse aktuell geführter Debatten um die Reformierung des Abstammungsrechts in Recht, Politik und Wissenschaft, wird im Beitrag die Frage aufgeworfen, welche Bilder von und Zuschreibungen an Kinder sowie ideale Sozialisationsbedingungen sich in den Diskursen rechtsstaatlich und nationalstaatlich organisierter Gesellschaften finden. Die Befunde werden vor dem Hintergrund der gesellschaftstheoretischen Frage nach der Wechselwirkung der gesellschaftlich herrschenden Zuschreibungen an Kindheit und den strukturellen Bedingungen des Rechts diskutiert. Zur Klärung dieser Frage bringt der Beitrag kindheitssoziologische Theorien, kritische Theorien der Frankfurter Schule sowie feministische, intersektionale und postkoloniale Rechtskritiken miteinander ins Gespräch.

12:00
Das abstammungsrechtliche Zwei-Eltern-Prinzip als Dogma

ABSTRACT. Das Abstammungsrecht reguliert die rechtliche Zuordnung von Kindern zu ‘ihren’ Eltern, es erschafft die statusrechtliche Elternschaft. Das Schweizer Abstammungsrecht wurde zuletzt 1978 umfassend reformiert und wird nicht allen heutigen Lebensrealitäten und Eltern-Kind-Beziehungen gerecht. Das Familienbild des Schweizer Zivilgesetzbuches favorisiert nach wie vor heterosexuelle, verheiratete Paare mit Kindern und geht von Zweielternschaft aus. Der Schweizer Bundesrat und die von ihm eingesetzte Expert:innengruppe halten in ihren Berichten und Empfehlungen weiterhin am statusrechtlichen Zwei-Eltern-Prinzip fest. Mehrelternschaft soll höchsten anhand der Ausweitung der elterlichen Sorge auf Stiefeltern und allenfalls andere Personen, mit denen das Kind in einem Näheverhältnis steht, abgebildet werden. Das Festhalten am Zwei-Eltern-Prinzip wird nicht begründet. In der Literatur findet sich der Verweis auf die angebliche Natürlichkeit des Prinzips mit der zusätzlichen Plausibilisierung, dass Mehrelternschaft aufgrund eines grösseres Konfliktpotenzial dem Kindeswohl schade. Diese mangelnde Begründung und apologetischen Verweise untersuche ich entlang Anne Röthels Analyse des Zwei-Eltern-Prinzips als Dogma und versuche damit hinter den Vorhang des rechtsdogmatischen Prinzips auf die Entstehung einer rechtswissenschaftlichen Tatsache zu blicken.

12:15
Genetische Abstammung als Kindeswohl vs. queere Familien

ABSTRACT. Die Debatte um eine Reform des Abstammungsrechts kreist in Deutschland um das Verhältnis von sozialer und genetischer Elternschaft. Dabei ist eine «Aufteilung» dieser Elternschaftssegmente zum einen nicht neu, sondern wird bereits vom geltenden Abstammungsrecht berücksichtigt. Zudem ist die «genetische Abstammungswahrheit» eine außerrechtliche Tatsache: aus ihrem Vorliegen oder Fehlen ergib sich noch keine Rechtsfolge. Zum anderen wurde und wird eine Pluralisierung von Elternschaft auch gerade vom Recht erschwert oder gar verhindert, das gilt etwa für queere Familien.

Anhand der Analyse von Beschlüssen des Bundesgerichtshofs zur Elternschaft eines trans Mannes sowie zur Elternschaft einer lesbischen Co-Mutter, zeige ich auf, wie im aktuellen rechtlichen Diskurs genetische Abstammungs»wahrheit» (und damit ist in der Regel nur die Vaterschaft gemeint) und die Interessen des Kindes gleichgesetzt werden. So wird das Recht des Kindes auf Kenntnis der eigenen Abstammung als Recht auf genetisch verwandte rechtliche Eltern erweitert. Diese genetisch-biologische Begründung der rechtlichen Familie konstruiert diese zugleich als heteronormativ: cisgeschlechtlich, heterosexuell, auf zwei Personen begrenzt. Die historische rechtliche Diskriminierung queerer Familien erscheint so als logische Nebenfolge des Primats des «Natürlichen».

11:45-13:15 Session 3B: Track 2: Rechtssubjekte & Rechtssubjektivität I
11:45
Person und Rechtsperson: Grundlagenbegriffe und die Einordnung künstlicher Intelligenzen

ABSTRACT. Es gibt Menschen, Personen und Rechtspersonen: 3 Begriffe, die sich möglicherweise auf dieselbe, möglicherweise auf unterschiedliche Entitäten beziehen. Während der Begriff der Person lange Zeit ein Schattendasein führte und geradezu synonym mit dem Begriff des Menschen verwendet wurde, erlebte er in den letzten 20 Jahren eine Renaissance. Wesentlich ist die Erkenntnis, dass einerseits der Begriff der Person nicht gleichzusetzen ist mit dem Begriff des Menschen; andererseits ist die durch den Personenbegriff abgebildete Entität kaum zu greifen. Ausgehend von dem Personenbegriff bei Kant und dessen Unterscheidung zwischen Personen und Sachen sowie unter Bezugnahme der sogenannten 'person-making characteristics' soll der philosophische Personenbegriff näher gefasst werden. Dessen Freilegung lässt sodann einen Vergleich mit dem Begriff der Rechtsperson aus der Jurisprudenz zu. Dort wird klassischerweise zwischen natürlichen und juristischen Personen unterschieden; beiden gemein scheint das Merkmal der Ansprechbarkeit, wesentliches Abgrenzungskriterium zu den sonstigen Personen ist die damit in engem Zusammenhang stehende Rechtsfähigkeit. Teilweise wird mit dem Begriff der Rechtsperson auch ein moralischer Status in Verbindung gebracht und gleichzeitig gefragt, weshalb und unter welchen Umständen denn das Personsein die Zuschreibung, eine „Rechtsperson“ zu sein, rechtfertigt. Der damit vorgenommene Brückenschlag von den Begriffen der Person und der Rechtsperson zeigt Grenzen, Gemeinsamkeiten und das jeweilige Verhältnis der Begriffe auf. Auf Grundlage des daraus entstehenden Begriffsmosaiks entwickelt der Vortrag Merkmale für den Rechtsstatus künstlicher Intelligenzen und zeigt in der Folge Widersprüche und Konsequenzen der jeweiligen Einordnung auf.

12:00
Das Rechtssubjekt des personalisierten Rechts

ABSTRACT. Die Auswirkungen der Digitalisierung auf das Recht werden häufig als disruptiv beschrieben. Während sich die Abkürzung Legal Tech in erster Linie auf automatisierte juristische Dienstleistungen und die Möglichkeit, Anwälte durch künstliche Intelligenzen zu ersetzen, bezieht, macht sich in jüngster Zeit in der Literatur eine neue, auf dem Behaviorismus basierende Rechtsidee erkennbar, die einen anderen Aspekt der Digitalisierung im Recht untersucht. Nach dieser Auffassung wird die Digitalisierung im Recht erst dann eine wirklich disruptive Kraft entfalten, wenn sie auf die Rechtsnorm und ihren allgemein-abstrakten Charakter und damit auf die Wesensart des modernen Rechts zielt. Durch den Einsatz von Big Data und künstlicher Intelligenz wird es möglich sein, die allgemein-abstrakten Normen des modernen Rechts durch personalisierte, d.h. individuell-konkrete Normierungen zu ersetzen. Das ist zumindest das Versprechen, das damit verbunden ist. Diese Entwicklung wird sich aber nicht nur darauf beschränken, sondern auch zu einer Neudefinition der Rechtssubjektivität führen, zumal Rechtsnorm und Rechtssubjektivität eng miteinander verknüpft sind.

Ziel unseres Beitrags ist es, das Verhältnis zwischen den verschiedenen Rechtstypen (liberales, materielles, reflexives Recht) und den diesen Typen entsprechenden Konzeptionen von Rechtssubjektivität für die einzelnen Stufen der Rechtsentwicklung zu beleuchten, um das dem personalisierten Recht zugrunde liegende Verständnis von Rechtssubjektivität näher zu beleuchten. Schliesslich werden die Auswirkungen dieser neuen Subjektkonzeption auf unser Verständnis von Recht und Gesellschaft erörtert.

12:15
Intersectionality and Intersectional Discrimination: Theoretical Amalgams and Socio-Legal Perspectives

ABSTRACT. The work approaches the theoretical foundations of a concept that enjoys continuous importance, by examining the matter with the objective of classifying, categorising, theorising intersectionality. Far from pretending to achieve any quantitative, large-scale results, emblematic cases are examined in a contextual way against the theoretical background of the project, based on, inter-alia, a particularly pronounced legal recognition of intersectionality, the importance attributed to grassroots voices and rights holders in a given case, interactions with other legal frameworks and systems of governance, noteworthy societal reactions in terms of particularly benevolent/supporting or dissenting attitudes. Notably, it is explored how intersectional discrimination emerges in the law and receives responses (e.g. through internalisation, localisation, vernacularisation, protest/dissent, accommodation, integration) from society and vice versa. Particular emphasis is hence placed on the different forms and formats of interaction, negotiation, consensus-building, and dialogue between the decision-making institutions of the State and societal groups, organisations or representatives of civil society. This shall shed light on the very drafting process absorbing societal voices (or not), hence its potential in accommodating a wide range of perspectives, it shall further allow us to uncover implementation gaps and also enable us to raise wider questions on democratisation and legitimacy.

11:45-13:15 Session 3C: Track 3: Individuelle Rechtsmobilisierung und Responsivität des Rechts

Die Mobilisierung individueller (subjektiver) Rechte ist ein vielschichtiger Prozess, für den eine Reihe von relevanten Faktoren identifiziert werden kann. In der Literatur finden sich verschiedene Begriffe und Systematisierungsansätze, welche versuchen, die maßgeblichen Faktoren zusammenfassen, wie etwa – auf individueller Ebene – das Rechtsbewusstsein (bestehend aus Rechtskenntnis, Anspruchs- und Durchsetzungsbewusstsein), verschiedene Kapitalformen (ökonomisches, soziales, kulturelles Kapital, zeitliche Ressourcen) oder – auf der institutionellen Ebene – das Angebot professioneller Rechtsberatung und -vertretung, die Zugänglichkeit und Effektivität justizieller und nicht-justizieller Rechtsdurchsetzungsverfahren sowie verbandliche und staatliche Unterstützungssysteme.

In dem Panel gehen wir davon aus, dass der Prozess der Rechtsmobilisierung durch das Zusammenwirken individueller, sozialer und institutioneller Faktoren bestimmt wird. Das ist für bestimmte Faktoren offensichtlich (z.B. individuell verfügbares ökonomisches Kapital – Anwalts- und Gerichtskosten), mitunter sind die Zusammenhänge aber komplexer. So ist bspw. zu vermuten, dass Erfahrungen aus oder Erwartungen gegenüber institutionellen Rechtsdurchsetzungsprozessen auf das individuelle Rechts- und Anspruchsbewusstsein zurückwirken. Maßgeblich für die Entscheidung, Recht zu mobilisieren, ist somit zwar das subjektive Erleben des Rechts durch Individuen (in negativer wie positiver Hinsicht), aber eben auch der soziale Kontext institutioneller Rechtsdurchsetzungsmöglichkeiten (die „Responsivität“ des Rechtssystems).

In dem Panel sollen Beiträge aus unterschiedlichen Projekten der Rechtszugangsforschung mit Blick auf die Frage des Zusammenspiels individueller Prozesse der Rechtsmobilisierung und institutioneller Faktoren vorgestellt und diskutiert werden. Es soll ausgelotet werden, ob bzw. an welchen Punkten sich ein gemeinsamer begrifflicher und theoretischer Rahmen für eine empirisch orientierte Rechtsmobilisierungs- und Rechtszugangsforschung identifizieren lässt.

11:45
Prozesse der Rechtsmobilisierung und Responsivität des Recht

ABSTRACT. Der Prozess der Rechtsmobilisierung wird durch das Zusammenwirken individueller, sozialer und institutioneller Faktoren bestimmt. Ob subjektive Rechte tatsächlich durchgesetzt werden (können), so argumentiere ich, hängt maßgeblich davon ab, inwiefern das Recht in seiner institutionellen Ausgestaltung die Lebensrealität der Rechteinhaber*innen wahrnimmt, d.h. in der sozialen Wirklichkeit responsiv ist. Die Responsivität des Rechts hat sowohl eine normative als auch eine empirische Seite.

In meinem Beitrag will ich versuchen, einige Bausteine für eine Theorie der Responsivität des Rechts als eine Perspektive der rechtssoziologischen Forschung zusammenzutragen.

12:00
Individuelle Rechtsmobilisierung als dynamischer Prozess. Ausgewählte Ergebnisse einer qualitativ-empirischen Studie zu Einflussfaktoren und Prozessdynamiken

ABSTRACT. Individuelle Rechtsmobilisierung ist als ein Prozess zu verstehen, der sich in einem komplexen Wechselspiel aus institutionellen, sozialen und subjektiven Faktoren vollzieht. In Anschluss an die sozialkonstruktivistisch orientierte Rechtssoziologie aus dem angloamerikanischen Raum zeigen wir auf Basis einer qualitativen-empirischen Studie zu „Rechtsmobilisierung durch Individuen“, wie sich individuelle Rechtsmobilisierung innerhalb des genannten Wechselspiels als dynamischer Prozess entfaltet und unter Einwirken verschiedener Faktoren kontextspezifischen Aushandlungsprozessen und Wandlungen unterworfen ist. Anhand empirischer Fallgeschichten zu unterschiedlichen Rechtsfällen verdeutlichen wir, wie sich Individuen unter dem Einfluss empowernder oder aber auch entmächtigender Faktoren (z.B. Erfahrungen mit der Justiz, Anwält:innen, Rechtsvertretungen oder individueller Wissensaneignung) beispielsweise von einer passiv-ohnmächtigen in eine aktiv-anspruchsberechtigte Positionierung transformieren können und umgekehrt. Diese geänderten Positionierungen können nachfolgend ihrerseits begünstigend oder hemmend auf das weitere Mobilisierungsverhalten einwirken.

12:15
Das Zusammenspiel rechtlicher und sozialer Faktoren beim Rechtszugang marginalisierter Gruppen. Thesen aus Studien zum Schweizer Sozialhilferecht

ABSTRACT. Das Recht, die eigenen Rechte geltend zu machen und wenn nötig auch in einem gerichtlichen Verfahren durchsetzen zu können, also der Zugang zum Recht, ist auch in stabilen Demokratien nicht immer gewährleistet. Das gilt besonders für marginalisierte Bevölkerungsgruppen wie etwa Armutsbetroffene, deren häufigere Rechtsprobleme auch öfter ungelöst bleiben. Verschiedene strukturelle, prozedurale und situative Faktoren können den Zugang zum Recht einschränken. Dabei kann es sich um administrative, soziale oder ökonomische Hürden handeln, das Wissen, das Rechtsbewusstsein oder die Verfügbarkeit unabhängiger Beratung und Rechtsvertretung betreffen. Die tatsächliche Ausgestaltung des Zugangs zum Recht ergibt sich also aus der Interdependenz verschiedener Einflussfaktoren. Deren Zusammenspiel ist nur ungenügend theoretisch durchdrungen. Eine nachhaltige Verbesserung des Zugangs zum Recht und somit auch Empowerment marginalisierter sozialer Gruppen kann nur gelingen, wenn mehr über die Zusammenhänge der Bestimmungsfaktoren bekannt ist. Das vorgeschlagene Paper formuliert hierzu Thesen anhand aktueller interdisziplinärer Studien zum schweizerischen Sozialhilferecht (Fuchs et al. 2020, Studer/Fuchs 2023): So ist der föderalistische Staatsaufbau für die fast ausschließlich kantonale Organisation des Sozialhilferechts verantwortlich. Somit fehlt sehr häufig die Möglichkeit, Urteile von höchster Instanz überprüfen zu lassen. Die Bedeutung prozessrechtlicher Normen prägt ebenfalls stark die Themen, die im Verwaltungshandeln und vor Gericht überprüft werden (können). Die Verweigerung von Rechtshilfe und Prozesskostenrisiko schrecken effektiv von Rechtsmobilisierung ab. Dies wiegt umso schwerer, also Sozialhilferecht kompliziert und undurchsichtig ist, und Rechtsinformation eine ambivalente Rolle spielt: sie kann ermächtigen, aber genauso verunsichern und entmutigen. Künftige Rechtzugangsforschung muss darum, so eine vorläufige Konklusion, ein besonderes Augenmerk auf die Interaktion juristischer und sozialer Faktoren richten und konsequent international komparativ arbeiten, um generalisierbare Erkenntnisse zu gewinnen.

12:30
Asyl als Anspruch – (Analytische) Potenziale eines Verständnisses von Asyl als Akt der Mobilisierung von Rechten

ABSTRACT. In der sozialwissenschaftlichen Forschung werden Geflüchtete häufig als Zwangsmigrant:innen (forced migrants) gefasst und Asyl zu einer migrationspolitischen Logik in Verbindung gesetzt. Ein Perspektivenwechsel, der Asylsuchende per se als Inhaber:innen und Kläger:innen von Rechten versteht und Asyl nicht migrations- sondern rechtssoziologisch rahmt, verändert die Fokussierungen: Das Asylverfahren wird per se zum Prozess der Mobilisierung von Rechten, betont werden die Agency und der Subjektstatus von Asylsuchenden und nicht deren passive Opferschaft.

Im vorgeschlagenen Beitrag wird in einem ersten Schritt dieses für eine Analyse ertragreiche Verständnis von Asylsuchenden als Anspruchsberechtigte hergeleitet. Die menschenrechtlichen Bedeutungen von Asyl werden in den Vordergrund gerückt, in Anlehnung an Arendt wird Asyl als Forderung nach einem Recht, Recht zu haben, verstanden. Ein sozialkonstruktivistisches Verständnis von (Menschen-)Rechten erlaubt es zusätzlich, auch diskursive Mobilisierungsprozesse in den Blick zu nehmen. Gezeigt wird, wie dieser analytische Zugang v.a. die Frage nach den Bedeutungen von Asyl, die das Recht und die Asylwirklichkeit transportieren, relevant macht, um sich der Frage nach den Bedingungen und Folgen individueller Rechtsmobilisierung von Asylsuchenden anzunähern.

Auf Basis dieses analytischen Rahmens werden in einem zweiten Schritt ausgewählte empirische Ergebnisse skizziert: Sichtbar wird, dass vorhandene Bilder des Rechts und bestimmte Ausformungen der Rechtspraxis, Möglichkeiten, ein Selbstverständnis der Asylsuchenden als Kläger:innen von Rechten aufrechtzuerhalten, weitreichend mitbestimmen: Solange noch keine umfassende Konfrontation mit der Asylrechtspraxis stattgefunden hat, zeigt sich ein fragiles aber potenziell ermächtigendes Potenzial der Rechtsmobilisierung im Asylkontext. Erfahrungen mit der den gesamten Alltag von Asylsuchenden umfassenden Rechtspraxis untergraben in weiterer Folge jedoch dieses Potenzial der Mobilisierung von Rechten. Gleichzeitig jedoch können gerade Verweigerungen von Rechten und Erfahrungen der Rechtslosigkeit unter bestimmten Voraussetzungen und v.a. wenn diese eine gewisse Intensität erreichen, die diskursive Mobilisierung von (Menschen-)Rechten begünstigen – v.a. dann, wenn im Mobilisierungsprozess Normalitätsräume außerhalb des Rechts zugänglich bleiben, Kollektivierung möglich ist und ein Verständnis als Träger:in von Rechten im Umfeld unterstützt wird.

11:45-13:15 Session 3D: Track 5: Zugang zum Recht für geflüchtete Menschen mit Behinderungen

In der bundesdeutschen Forschungslandschaft ist der Zugang zum Recht vielfach diskutiert, aber wenig erforscht. Insbesondere im Sozialrecht, wo es um existenziell bedeutsames Recht geht, ist die Zugänglichkeit zu sozialen Rechten ungleich verteilt. Für geflüchtete Menschen und/oder Menschen mit Behinderungen spitzen sich die Zugangsprobleme nochmals in spezifischen Barrieren zu. Das Panel wendet sich aus diesem Grund sowohl auf rechtlicher als auch auf gesellschaftlicher Ebene: - Zugängen zu existenzsichernden Leistungen für geflüchtete Menschen und - Zugängen zur Gesundheitsversorgung für geflüchtete und/oder Menschen mit Behinderungen zu. Am Beispiel von drei Forschungsprojekten wird den drängenden Fragen nachgegangen, wie das Recht auf eine zugängliche Gesundheitsversorgung und Existenzsicherung ausgestaltet ist oder sein muss, welche Bedeutung deutschen Sozialbehörden in der Leistungsgewährung von Teilhabeleistungen für geflüchtete Menschen zukommt und welche Rolle zivilgesellschaftliche Akteur*innen in der Überwindung von Zugangsbarrieren spielen. In einer abschließenden Diskussion soll sich übergeordneten Fragen der (Aus-)Gestaltung von Rechtszugängen für geflüchtete Menschen und/oder Menschen mit Behinderungen sowie der Rolle von Verwaltung und Zivilgesellschaft im Zugang zu sozialen Rechten zugewendet werden.

11:45
Zugang zu existenzsichernden Leistungen für Geflüchtete

ABSTRACT. Geflüchtete haben nach internationalem, europäischem und nationalem Recht Ansprüche auf existenzsichernde Leistungen. Damit sie diese Ansprüche auch mobilisieren können, müssen sie gewisse subjektive Voraussetzungen erfüllen. Hierbei werden unterstützende Akteur*innen, wie die Anwaltschaft, Mitarbeitende in Law Clinics oder Verbänden, tätig, die beispielsweise das Wissen um einen Anspruch vermitteln können. Welche Rolle diese unterstützenden Akteur*innen einnehmen, ist bei der Frage nach dem Zugang zum (Sozial-)Recht für geflüchtete Menschen von herausragender Bedeutung. Gerade Geflüchtete sind einerseits auf die Gewährleistung sozialer Rechte angewiesen, um ihre Existenz zu sichern und am Leben in der Gesellschaft teilzunehmen. Andererseits stehen sie bei der Überwindung der Mobilisierungshürden vor besonderen Herausforderungen. Unterstützende Akteur*innen könnten somit eine zentrale Schlüsselfigur für den Zugang zum (Sozial-)Recht für Geflüchtete sein. Der Vortrag untersucht die Rolle dieser Akteur*innen und stellt Ergebnisse einer empirischen Forschung vor. Im Mittelpunkt stehen Fragen nach der Arbeit und Stellung nicht-staatlicher unterstützender Akteur*innen bei der Überwindung von Mobilisierungsbarrieren und somit auch die Frage nach der Rolle der Zivilgesellschaft.

12:00
Teilhabeleistungen für geflüchtete Menschen mit Behinderung – Rechtsumsetzung von Ermessensnormen in deutschen Sozialbehörden

ABSTRACT. Geflüchtete Menschen mit Behinderungen sind als Gruppe heterogen: zum einen durch die allgemeine Unterschiedlichkeit von Personen mit Beeinträchtigungen in Art, Umfang und Folgen der Behinderung als auch zum anderen durch die vielfältigen biografischen und kulturellen Hintergründe geflüchteter Menschen in Verbindung mit den hiesigen gesellschaftlichen und rechtlichen Rahmenbedingungen. Die Sicherstellung der daraus resultierenden, äußerst diversen sozialrechtlichen Bedarfe wird als komplex, zeitaufwendig und juristisch schwer durchsetzbar beschrieben. Insbesondere der Auslegung von Ermessensentscheidungen liegt im Einzelfall eine beachtliche Komplexität zugrunde, die wesentliche Interpretations- und Entscheidungsmöglichkeiten beinhaltet. Teilhabeleistungen für geflüchtete Menschen sind allesamt als Ermessensleistungen ausgestaltet – § 6 AsylbLG und § 100 SGB IX –, sodass die Anwendung dieser Normen in den Bundesländern und den Kommunen unterschiedlich organisiert und umgesetzt wird. Diese Ungleichheit in der Rechtsumsetzung und damit dem Zugang zum Recht kann daher als systemimmanent bezeichnet werden. Vorgestellt werden in dem Vortrag Ergebnisse einer qualitativen Rechtsumsetzungsforschung, die in deutschen Sozialbehörden nach den Voraussetzungen für die Leistungsgewährung von Teilhabeleistungen für geflüchtete Menschen fragt.

12:15
Die Barrieren der Gesundheitsleistungen im AsylbLG als Negativbeispiel für den Zugang zu Recht

ABSTRACT. Die Gesundheitsversorgung in Deutschland richtet sich für die hiesige Bevölkerung nach dem SGB V. Sowohl Arbeitnehmer*innen, deren Familien, als auch Sozialleistungsberechtigte erhalten Gesundheitsleistungen nach dem SGB V, das für ebenjene ein solides Versorgungsniveau statuiert. Ein paralleles Versorgungssystem sieht hingegen das AsylbLG vor, deren Leistungsberechtigte grds. Ausländer*innen sind, die – ausländerrechtlich koordiniert – einen unsicheren Aufenthaltsstatus innehaben. Die Gesundheitsleistungen im AsylbLG sind auf ein Mindestmaß reduziert; § 4 AsylbLG sieht eine Notversorgung vor, § 6 AsylbLG erweitert den Anspruch im Einzelfall, soweit „unerlässlich“.

Bevor eine Versorgung nach Maßgabe der §§ 4, 6 AsylbLG begonnen werden kann, müssen die Leistungsberechtigten jedoch Hürden nehmen. Der Gang geht üblicherweise (wenn nicht, je nach Bundesland und Kommune, eine eGK ausgegeben wurde) über das zuständige Sozialamt, das je nach Indikation entscheidet, ob ein sog. Behandlungsschein ausgestellt wird. Nach Vorlage des Behandlungsscheines beim Arzt, darf dieser nach den §§ 4, 6 AsylbLG behandeln. Problematisch ist einerseits die fachfremde Entscheidung über den Zugang zur Gesundheitsleistungen durch das Sozialamt, andererseits besteht auf Seiten der Ärzteschaft eine große Rechtsunsicherheit durch die unbestimmten Rechtsgrundlagen, die das Risiko einer restriktiven Behandlung bergen (denn sonst leistete das Sozialamt nicht). Menschen ohne Papiere scheiden schon bei der ersten Hürde, dem Gang zur Sozialbehörde aus, da diese einer Übermittlungspflicht der Ausländerbehörde gegenüber unterliegt: In der Praxis bedeutete der Gang zum Sozialamt also eine Abschiebung. Diese Praxis birgt juristisch betrachtet verfassungs- sowie europa- und menschenrechtliche Bedenken. Soziologisch betrachtet verstärkt der Rechtsrahmen einen voreingenommenen Umgang mit den Patient*innen, den es zu diskutieren gilt.

11:45-13:15 Session 3E: Track 7: Attacks on Courts and Judicial Independence: Patterns, Strategies, and Tools for Resistance

In recent years, there has been a worrying trend of authoritarian attacks on courts and judicial independence in many countries around the world. Essential to the protection of fundamental rights guarantee for limited and non-arbitrary government, courts and their independence from political interference is fundamental for a democratic regime and the rule of law. These attacks often involve efforts by political actors and parties to undermine the role, capacity, and independence of courts in order to eliminate checks and balances on their power and even further to instrumentalize courts as means of punishment for political and social opposition to their rule. This can take many forms, such as politicizing the appointment and removal of judges, undermining the autonomy and funding of courts, passing laws that limit the ability of courts to hold the government accountable, or appointing judges loyal to a certain government agenda to turn courts into a political instrument. This panel brings together four papers that examine the issue of attacks on courts and judicial independence from different perspectives and at different levels: focusing on general patterns as well as strategies in particular cases, both international and national courts. Together, the papers in this panel provide a comprehensive and nuanced understanding of the challenges facing courts and judicial independence.

11:45
Judicial Autonomy under Authoritarian Attack

ABSTRACT. The paper aims to identify possible patterns behind authoritarian threats to judicial autonomy. To this purpose, we collected a comprehensive data-set of all legal provisions concerning individual judges’ rights, obligations and working conditions as well as the administrative and financial autonomy of courts in 40 Council of Europe member states. By documenting any legal changes in this regard over the last 22 years, we focus on judicial reforms as central elements in the study of the erosion of the rule of law in general and attacks against judiciaries in particular. While the reforms are usually introduced by governments with the justification of strengthening the judiciary and protecting its autonomy, in conjunction with other amendments they may instead result in weakening or even undermining de facto judicial autonomy. Only by a systematic comparison of the normative settings and amendments in a medium-N design, possible patterns of such “toxic” institutional designs may be detected – and, on the other hand, strategies strengthening the courts’ capacity to implement formal and informal resilience tools may be identified. In a nutshell, the paper aims at answering two main questions: 1) Which legal, institutional, and political constellations can we identify that either protect or endanger the autonomy of the judiciary? 2) Are there particular normative patterns that help to make judiciaries (more) resilient against authoritarian attacks and the resulting democratic decay?

12:00
An Assessment of Scholarship on Contestation and Resistance against the European Court of Human Rights

ABSTRACT. The European Court of Human Rights has come under growing governmental criticism over the past decade. It has been contested for expanding the states’ obligations arising from the European Convention on Human Rights beyond their consent and beyond the intentions of the drafters of the Convention. Around the same time, the political landscape surrounding the Court saw the gradual entrenchment of authoritarian and/or populist modes of governance in several state parties to the Convention, further increasing sovereigntist claims against the operations of the Court. Scholarship has extensively addressed contestation and resistance against the European Court of Human Rights and their possible consequences for both its case law and its functions. A growing interest has also emerged concerning the Court’s resilience strategies, its structural and operational limits, and its responsibilities as a European human rights court in the face of authoritarian entrenchment and populism.

This paper aims to address scholarship addressing the limits, capacities, responsibilities, and resilience strategies of the European Court of Human Rights in the face of contestation and resistance. It will analyze first how scholarship frames the problems facing the Court and what kind of normative choices and assumptions are made in these framings as to the role, capacity, and limits of the European Court of Human Rights vis-a-vis contestation and resistance. It will then discuss the implications of these framings for the boundary between law and politics.

11:45-13:15 Session 3F: Track 9: Künstliche Intelligenz und staatliche Institutionen der (Un)Sicherheit

Gesellschaftliche Sicherheit wird oftmals verengt als Angst vor und (Lösung durch) Bekämpfung von Kriminalität dargestellt. Dabei wird angenommen, dass Sicherheit durch Institutionen wie Polizei, Staat und Gerichte zu gewährleisten sei. Was, wenn die Unsicherheit jedoch durch dieselben Institutionen hervorgerufen wird, die mit der Herstellung von Sicherheit beauftragt sind? Neben bereits bekannten Problemen wie Polizeigewalt social oder racial profiling gehen mit der Einführung und Nutzung von auf künstlicher Intelligenz (KI) basierenden Systemen seitens Strafverfolgungsbehörden neue, bisher weniger erforschte Risiken einher. Dazu zählen beispielsweise der Mangel an wirksamen Accountability-Mechanismen bezüglich der Anwendung von KI-Systemen durch Strafverfolgungsbehörden sowie Fragen bezüglich der Gerichtsverwertbarkeit von mithilfe KI-basierter Systeme produzierter Beweise. Zudem bestehen Herausforderungen hinsichtlich systematischer Diskriminierung sowie die Schwierigkeit, ausreichende Transparenz und Erklärbarkeit von KI-Anwendungen im Kontext der polizeilichen Arbeit, die notwendigerweise auf Intransparenz basiert, zu reflektieren. Weiterhin gibt es auch Herausforderungen in Bezug auf die Forschung über die Polizei, selbst in Staaten, die eher als demokratische und liberale Länder zu bezeichnen sind: Zugang zu transparenten Informationen und empirischem Material über die interne Arbeit dieser Institutionen ist in der Praxis oft schwierig zu erlangen. Die Risiken polizeilich genutzter KI-Anwendungen gehen demnach weit über klassische Datenschutzfragen hinaus, insbesondere dann, wenn Entscheidungen, die in Grundrechte von Menschen eingreifen, durch KI-basierte Anwendungen unterstützt werden. In diesen Fällen stellt sich die Frage, wie KI-gestützte Arbeitsprozesse der Strafverfolgungsbehörden einer effektiven demokratischen und rechtsstaatlichen Kontrolle unterzogen werden können.

11:45
Datafizierte Polizeiarbeit – Künstliche Intelligenz und andere technische Lösungen für verantwortungsvolle Strafverfolgungsprozesse

ABSTRACT. Dieser Vortrag befasst sich mit der zunehmenden Datafizierung und Algorithmisierung von Strafverfolgungsprozessen im Rahmen zweier Projekte: PEGASUS, das sich mit auf künstlicher Intelligenz (KI) basierender Software für die Bekämpfung organisierter Kriminalität beschäftigt, und FAKE-ID, in dem eine KI-basierte Lösung für die Detektion von Deepfakes – mittels KI generierter/manipulierter Bilder und Videos – erforscht wird, die potenziell von Strafverfolgungsbehörden eingesetzt werden kann. Für die ethische Begleitforschung von PEGASUS werden unter den Vorzeichen des zunehmenden polizeilichen Einsatzes von KI-Software Interviews mit Polizeimitarbeiter*innen geführt, um zu charakterisieren, wie die Behörden bereits heute mit Datenfilterungs- und Datenauswertungssystemen arbeiten. Im Rahmen von FAKE-ID werden u.a. Interviews mit Sachverständigen der Polizei analysiert, deren Aufgabenbereich die detailreiche Auswertung und Dokumentation von Bild- und Videomaterial umfasst. Aus der gemeinsamen Betrachtung der jeweiligen empirischen Ergebnisse lässt sich ein vollständigeres Bild digitalisierter Strafverfolgungsprozesse nachzeichnen. Der Fokus liegt hierbei auf der Kommunikation zwischen Ermittelnden und Sachverständigen, sowie auf Themen der Mensch-Computer-Interaktion. Insbesondere auf Fragen von Verantwortung, potenziellen Konflikten – beispielsweise bzgl. der Gerichtsverwertbarkeit von Datenmaterial – und der Vertrauenswürdigkeit von Systemen wird eingegangen.

12:00
Fairness, Erklärbarkeit und Transparenz bei KI-Anwendungen im Sicherheitsbereich – ein unmögliches Unterfangen?

ABSTRACT. In der ethischen, rechtswissenschaftlichen und politischen Diskussion über Anforderungen an KI-Anwendungen spielen Fairness, Erklärbarkeit und Transparenz als Konzepte und Postulate eine zentrale Rolle. Die Erfüllung dieser Postulate wird zumeist als Voraussetzung für Vertrauen in KI-Anwendungen angesehen. Der vorgeschlagene Beitrag diskutiert die Zusammenhänge, Abhängigkeiten und Unterschiede zwischen diesen Konzepten aus einer interdisziplinären rechts- und politikwissenschaftlichen sowie ethischen Perspektive. So ist beispielsweise KI-Fairness nicht ausschließlich als statistische Kategorie zu sehen, anhand derer Verzerrungen (gender bias, racial bias) in Modellen evaluiert und verringert werden können. Vielmehr steht und fällt die wahrgenommene Fairness von KI mit der Güte der Transparenz- und Kommunikationsstrategien, welche die gewählten Fairness-Verfahren verständlich und rechenschaftsfähig machen.

Anknüpfungspunkte bilden die derzeitigen Bestrebungen zur Schaffung eines Rechtsrahmens für die KI-Entwicklung und Nutzung, insbesondere durch den seit 2021 im Gesetzgebungsverfahren befindlichen Vorschlag für eine KI-Verordnung der EU. Hier entstehen auch neue Zugänge zum Recht. Empirisch basiert der Beitrag auf Forschungen zu KI-Anwendungen für die Nutzung durch Sicherheitsbehörden, insbesondere durch die Polizei.

12:15
Gerichtsverwertbarkeit von Beweismitteln, die mittels Deepfake-Detektoren produziert oder evaluiert worden sind

ABSTRACT. Deepfakes sind zunehmend technisch einfach zu erstellen und qualitativ hochwertig – mithin von vielen Menschen in Umlauf zu bringen und wiederum von den meisten mit dem bloßen Auge nicht zu erkennen. Mit der Weiterentwicklung von realistischen Deepfakes ist eine zuverlässige Verifizierung von Video- und Bildmaterial speziell im Bereich der Strafverfolgung für diese entscheidend. Gerade im Zusammenhang mit Ermittlungsverfahren und vor Gericht wird die Relevanz von Deepfakes vermehrt diskutiert. Aktuelle Deepfake-Detektoren werden durch maschinelles Lernen trainiert. Die KI-generierten Detektionsergebnisse sollen als Entscheidungshilfe für die Strafverfolgung fungieren und auch vor Gericht als Beweismittel eingesetzt werden. Die Beweisführung mithilfe von KI-Systemen wirft sowohl neue rechtliche als auch gesellschaftliche und ethische Fragen auf. Insbesondere die spezifischen Anforderungen, die an derartige Systeme zu stellen sind, bedürfen einer Klärung. Die juristischen Herausforderungen dieser Thematik werden in diesem Beitrag vorgestellt. Spezifiziert werden die Anforderungen für Deepfake-Detektoren als Produktionsart von Beweismitteln, die vor Gericht Verwendung finden sollen – insbesondere unter folgenden Gesichtspunkten: - Die nationalen und europäischen Vorgaben, die zu beachten sind, etwa das Unmittelbarkeitsprinzip im Gerichtsverfahren - Die Rolle der Sachverständigen als Intermediär zwischen KI-System und Richter:in - Die Art eines Beweises der KI-gestützt produziert und/oder eingestuft wird (so ist eine ähnliche Fragestellung bereits bei digitalen Beweismitteln relevant, z.B. Augenscheinsobjekt, Sachverständigenbeweis, etc.)

11:45-13:15 Session 3G: General Papers: Roundtable: Soziologie der Dogmatik - ein neues-altes Forschungsfeld der Rechtssoziologie

Die "selbstreflektive" Rechtswissenschaft hat die Rechtsdogmatik als Forschungsfeld (wieder-)entdeckt. In letzter Zeit häufen sich Publikationen zur Rechtsdogmatik, oftmals mit der Frage nach deren "Wissenschaftlichkeit". Die sich von der Rechtsdogmatik abgrenzende Rechtssoziologie hat den Gegenstand lange vernachlässigt. Dabei bietet die Rechtsdogmatik als eine sich im wissenschaftlichen Feld abspielende soziale Praxis zahlreiche hochaktuelle rechtssoziologische Forschungsfragen. Früher ging es vor allem um Steuerungsfragen, um die Funktion und Leistung dieser Praxis sowie um die soziale Macht, die mit Worten ausgeübt werden konnte. Auch wenn diese Fragen aktuell bleiben, kommen heute um neue Aspekte hinzu: der Habitus der Dogmatikproduzent:innen, in dogmatische Narrative eingeschriebene Bilder von Geschlecht, sozialer Klasse und/oder ethnischer Identität, oder auch linguistische oder bibliometrische Eigenschaften dogmatischer Textkorpora, die Rückschlüsse auf die Reproduktionsmodi und -bedingungen dogmatischer Textproduktion ziehen lassen. Das Roundtable-Gespräch soll es Forschende auf diesem Gebiet ermöglichen, nach kurzen Impulsreferaten den Forschungsstand zu diskutieren und eigene Projekte und Forschungen vorzustellen.

11:45
Die Soziologie der Rechtsdogmatik: Stand und Perspektiven

ABSTRACT. Impulsreferat

11:55
Deutungsoffene Normen, deutungsoffene Tatsachen: Rechtsdogmatik als empirischer Gegenstand sozialwissenschaftlicher Asylverfahrensforschung

ABSTRACT. Impulsreferat

12:05
Dogmatische Rechtskonstruktionen des arbeitsrechtlichen Tatbestands der sexuellen Belästigung

ABSTRACT. Impulsreferat

14:15-15:45 Session 4A: Track 1: Rechtswissenschaftskulturen
14:15
Zugänge der Soziologie zur Rechtsdogmatik

ABSTRACT. Kurz nachdem vor 200 Jahren die Rechtswissenschaft sich als positivistisch-dogmatisch denkende Disziplin ausdifferenziert hatte, begann mit R. v. Jhering ein Diskurs, der die Übersteigerungen dieser Entwicklung attackierte. Wie brauchbar sind die hermeneutisch-logisch gewonnenen Entscheidungen in der sozialen Wirklichkeit? Diese Debatte ist nie mehr zur Ruhe gekommen. Sie erlebte zwei Konjunkturen mit den Höhepunkten um 1910 bzw. 1970 und den entsprechenden Nachwirkungen. Obwohl die Reformforderungen von der h.M. zurückgewiesen wurden, haben sie die juristischen Denkstile beide Male spürbar verändert.

Heute stehen wir wieder vor der Frage: Wie übertragen sich die Erkenntnisse der empirischen Disziplinen (Geschichte, Ökonomie, Soziologie usw.) in die Rechtsdogmatik? Der große Erfolg der Systemtheorie zeitigte höchst ambivalente Folgen für den Wissenstransfer. Wie es der CfP sagt: „Das Recht formt die Realität nach seinen normativen Bedürfnissen und vollzieht damit eine systemeigene Wirklichkeitskonstruktion.“ Der starre Dualismus von Sein und Sollen, d.h. eine (dem Ursprung bei I. Kant nicht angemessene) Entgegensetzung von normativem und empirischem Wissen trägt dazu bei.

Unterschiedlich beantwortet wird die Frage: Welches in der juristischen Arbeit verwendbare Wissen können die Sozialwissenschaften anbieten? Und wenn solches Wissen bereitsteht, wird es in juristischen Praxen zur Kenntnis genommen und verwertet? Ein gewinnbringender Austausch zwischen Jurisprudenz und Sozialwissenschaft kann nur als Zwei-Wege-Kommunikation zustandekommen.

14:30
Socio-legal trajectories in Germany and the UK: first results from a binational research project

ABSTRACT. The talk presents first results from a binational research project that examines the contours and cultures in the field of law and society in Germany and the UK. The project pursues an ambitious mixed-methods approach that combines qualitative interview data, quantitative survey data and bibliometric data on knowledge production. Using selected examples from our dataset, we demonstrate how very different the situation is for socio-legal scholars in Germany and the UK. Based on this diagnosis, we present some preliminary hypotheses that explain how these different trajectories have developed.

14:45
Vor dem Gesetz. Beharrliche Türhüter in Rechtswissenschaft und Rechtspraxis?

ABSTRACT. Seit Jahren arbeiten Jurist:innen daran, die Zugänge zu Rechtswissenschaft, -praxis und Studium zu öffnen: Neue Veröffentlichungsformen wie Podcasts oder OA-Publikationen treiben den Wandel voran; die (Schweizer) Rechtsetzung versucht, den Gerichtskostenvorschuss für den Rechtszugang finanziell Benachteiligter zu mindern; und das juristische Studium adressiert zunehmend Menschen mit diversen Hintergründen. Trotzdem hat vieles weiterhin Bestand: Professor:innen werden v.a. jene mit traditioneller Publikationsbiografie, Gerichtsverfahren führen diejenigen mit Geld und Kanzleien werden meist von Männern geführt. Belohnt das bestehende System Konformität, während es Experimente bestraft? Auf Basis einer eigenen qualitativen Interviewstudie und theoretischer Ansätze untersuchen wir zugrundeliegende Strukturen, um zu ermitteln, ob Parallelen zwischen den verschiedenen Rechtsbereichen erkennbar sind und wie sich das so erlangte Wissen nutzen lässt, um zur Veränderung des Rechts beizutragen.

14:15-15:45 Session 4B: Track 3: Kollektive Mobilisierung von Recht(en) I – Emanzipation, Partizipation, Gerechtigkeit

Forschung zur kollektiven Mobilisierung von Recht bzw. Rechten untersucht, wie und warum Zusammenschlüsse von Akteur:innen Recht(e) (nicht) in Anspruch nehmen. Kollektives Handeln im Kontext des Rechts, d.h. auch „vor, im/mit/neben und nach“ dem Recht, geschieht häufig durch Interessengruppen oder soziale Bewegungen, welche nicht selten auch politische bzw. strategische Ziele verfolgen. Rechtsmobilisierung kann zunächst primär auf der diskursiven Ebene stattfinden, kann sich aber auch auf formelle rechtliche Verfahren ebenso wie auf alternative Formen der Streitbeilegung beziehen. Die rechtssoziologische Forschung dazu ist, wenn auch fragmentiert, so jedenfalls sehr vielfältig. Es interessieren beispielsweise nicht nur Transformationsprozesse von Konflikten und die Rolle des Rechtsbewusstseins der Akteur:innen, sondern auch strukturelle Ungleichheiten und Grenzen der Mobilisierung, oder Fragen zu den Alternativen wie auch Konsequenzen der Rechtsmobilisierung. Ziel dieses Panels ist es, aktuelle theoretische und empirische Forschungsergebnisse zur kollektiven Mobilisierung von Recht(en) in unterschiedlichen Kontexten miteinander in Diskussion zu bringen und so der Entwicklung dieses Forschungsfeldes Raum zu geben.

14:15
Recht gegen das Recht? Die (ausser-)rechtliche Organisation politischer Partizipation durch die Versammlungsfreiheit

ABSTRACT. Als konstitutives Element der Demokratie wird die eminente Bedeutung der Versammlungsfreiheit von Gerichten regelmäßig betont, gleichzeitig werden politische Versammlungen durch Polizeigesetze immer stärker eingehegt. Die staatliche Position gegenüber Kundgebungen und Demonstrationen ist entsprechend ambivalent: Der Staat ist auf den politischen Protest als Teil demokratischer Prozesse angewiesen, um eine längerfristige Legitimation zu gewährleisten; gleichzeitig hat, argumentiert Judith Butler in den Notes Towards a Performative Theory of Assembly (2018), dieser Protest das Potenzial, auf transformatorische Perspektiven zu verweisen, die die herrschenden Verhältnisse und damit auch die Existenzberechtigung der Staatsgewalt infrage stellen. Als Recht gegen das Recht ist die Versammlungsfreiheit besonders interessant, wenn institutionalisierte Formen der Beteiligung nicht zur Verfügung stehen. Die Möglichkeiten, die Versammlungsfreiheit zu mobilisieren, organisieren sich entlang von Diskriminierungskategorien. Staatsangehörigkeit, Aufenthaltsstatus und Rassifzierung spielen eine bedeutende Rolle, wenn es darum geht, Rechte auf politische Mitsprache in Anspruch nehmen. Offensichtlich wurde das anlässlich zweier Kundgebungen in Bern, anhand derer aufgezeigt werden kann, inwiefern die Zuerkennung von Möglichkeiten der Beteiligung im Recht über die «herrschenden Verhältnisse» als Maßstab bundesgerichtlicher Rechtsgleichheit organisiert werden. Der Beitrag widmet sich der Frage, inwiefern die kollektive Mobilisierung der Versammlungsfreiheit als widerständiges Moment gegen die Nicht-Zuerkennung von Rechten von diskriminierten Gruppen interpretiert werden kann.

14:30
From Litigants to Social Movement

ABSTRACT. In this contribution, I will analyse the consequences of the conjunction of legal possibilities, differentiated levels of legal knowledge and a political agenda, in the context of the so-called Emancipatory Constitutionalism in Bolivia. Thus, I will present a different aspect of the complex relationship of law/the Constitution and social change generally, and the dynamics of change in post-2009 Bolivia more specifically. I subscribe to a research agenda, which emphasizes the need to look at movements “from below” in order to grasp the ongoing potentiality and radicality of the process of transformation based on Bolivia’s 2009 Constitution. However, I further complicate the picture by presenting a case where a movement is not only using and appropriating the law and the constitution but its very existence is crucially facilitated by both the potentialities and the real-life deficiencies of the radical new constitution. The presented case also adds to the debate regarding law, social mobilization, and popular movements as it not only considers how and why movements incorporate litigation in their repertoire of contention to reach their objectives but also emphasizes how the movement and its objectives are articulated through complex dynamics and by differently positioned actors in the context of far-reaching legal opportunities.

14:45
Wann sind feministische Rechtskämpfe erfolgreich?

ABSTRACT. Weltweit kämpfen Feministinnen mit dem Mittel des Rechts und um das Recht. Sie wenden sich gegen Gesetze und Rechtspraktiken, die diskriminieren, bevormunden und Frauen in bestimmte Rollen drängen und sie streiten für ihr verfassungsmäßig garantiertes Recht auf Gleichberechtigung und Selbstbestimmung. Sie rufen dazu alle drei Gewalten an, fordern von Politik und Parlamenten Gesetzesreformen und ziehen vor Verfassungsgerichte, um diskriminierende Vorschriften für nichtig erklären zu lassen. In einigen Fällen sind Feministinnen mit diesen Kämpfen erfolgreich, in anderen scheitern sie. Warum dies so ist, ist Thema dieses Vortrags. Dessen zentrale Frage lautet: In welchen Bereichen, mit welchen Mitteln und unter welchen Umständen sind feministische Rechtskämpfe erfolgsversprechend? Mit einem Blick auf rechtssoziologische und politikwissenschaftliche Literatur zur Mobilisierung des Rechts arbeitet der Vortrag zunächst potenzielle Erfolgsfaktoren heraus und prüft diese sodann in einer empirischen Auseinandersetzung mit der Frauenrechtsbewegung in Indien. Das indische Beispiel zeigt, welche Rolle die Ausgestaltung des Gleichheitsartikels in der Verfassung, eine aktivistische Richterschaft, die Strategien der feministischen Bewegung, aber auch die Rolle von Religionsgemeinschaften und in der Rechtskultur verankerte Vorstellungen über die Rolle der Frau beim Kampf ums Recht spielen.

15:00
Rechtsmobilisierung am Beispiel der Beschäftigung in Kulturfestivals in der Filmindustrie

ABSTRACT. Während die soziale, kulturpolitische und ökonomische Bedeutung von kuratierten Kulturevents vor der Jahrhundertwende stark zugenommen hat und in Zeiten der Digitalisierung als Trend anhält, bleiben die Kreativen, die diese Events organisieren und mitgestalten, entweder schlecht oder gar nicht bezahlt – und größtenteils als Arbeitskraft unorganisiert. Im Zusammenhang mit der COVID-19 Pandemie als auch als Ergebnis jahrelanger Bemühungen haben sich vereinzelte Initiativen um gerechte Entlohnung mobilisiert. Diese Rechtsmobilisierung wird anhand qualitativer Daten aus dem Sektor Filmfestivals (Deutschland, Österreich und Schottland) wie z.B. Fair-Pay-Richtlinien (wie z.B. die des Forums Österreichischer Filmfestivals), durch die Befragungen von Beschäftigten, und die Gründe der kooperierenden Vereine und Verbände untersucht. Sind die Bezüge zum Recht diskursiv (Gerechtigkeitsappelle) und/oder rufen Sie das Recht an? Wie stark sind die Argumente (Rechtfertigungen und Gerechtigkeitsvorstellungen) und Instrumente für die Fair-Pay Lohn Policy, die tradierte Beschäftigungsmuster in profitorientierten und gemeinnützig orientierten Organisationen infrage stellen? Welche rechtlichen Schritte sind die Initiativen bereit zu gehen? Welche Konflikte und Verhandlungen sind sie bereit mit ihren Managern und Festivalvorständen zu führen? Kann sich eine wirksame europäische Fair-Pay-Bewegung über die Ungleichheit des Filmfestivalsektors und Institutionenunterschiede hinweg bilden?

14:15-15:45 Session 4C: Track 4: Ungleiche Zugänge für Gefangene, ungleiche Haftrisiken
14:15
Die kleinste Einrichtung für den Vollzug der Sicherungsverwahrung in Deutschland

ABSTRACT. Die Sicherungsverwahrung ist nicht Strafe, sondern eine sog. ‚Maßregel‘. Als solche muss sie sich gemäß Beschluss des (deutschen) Bundesverfassungsgerichts vom 4. Mai 2011 (BVerfGE 128, 326-409) eine grundsätzliche Neuausrichtung der Sicherungsverwahrung gefordert: deutlich vom Strafvollzug unterscheiden. Sicherungsverwahrung sei künftig „nur dann zu rechtfertigen, wenn der Gesetzgeber bei ihrer Ausgestaltung dem besonderen Charakter des in ihr liegenden Eingriffs hinreichend Rechnung und dafür Sorge trägt, dass über den unabdingbaren Entzug der ‚äußeren‘ Freiheit hinaus weitere Belastungen vermieden werden.“ Im Vortrag wird über die Einrichtung für den Vollzug der Unterbringung in der Sicherungsverwahrung (im Folgenden SVE) bei der JVA Brandenburg an der Havel und die seit 2015 im Rahmen der Qualitätssicherung stattfindende Begleitforschung durch den Kriminologischen Dienst des Landes Brandenburg berichtet (vgl. § 93 BbgSVVollzG vom 13. Mai 2013). Insbesondere die erstmals 2022 qualitativ im Rahmen von narrativen Interviews mit den Untergebrachten erhobenen Daten bieten zahlreiche Anknüpfungspunkte zu den aufgeworfenen Fragen des Tracks aus Sicht der Betroffenen: Die untergebrachten Männer müssen ihre Perspektive im Spannungsfeld von Hoffnung und Resignation je neu regulieren, denn die Entscheidung über ihr weiteres Leben hängt von einer Vielzahl von Faktoren ab, die weitgehend außerhalb ihres Kontroll- und Einflussbereichs liegen; bspw. die auf sozialen Bewertungsprozessen beruhende Zuschreibung einer sog. ‚Gefährlichkeit‘.

14:30
Zugang zum Recht für Gefangene: Drei Dimensionen

ABSTRACT. Anhand der Situation von Gefangenen wird in dieser Präsentation ein ganzheitliches Verständnis vom Zugang zum Recht mit drei Dimensionen vorgestellt: Die verfahrensrechtliche Dimension ist explizit im Gesetz selbst verankert. Die sozialpsychologische Dimension umfasst die persönlichen und sozialen Vorbedingungen, damit Menschen ihren Rechten einen praktischen Nutzen geben können. Schliesslich beinhaltet der Begriff eine institutionelle Dimension, welche die Gewährleistung und Kontrolle von Menschenrechten durch institutionelle Strukturen umfasst. Abschliessend werden kritische Perspektiven zu den Möglichkeiten und Grenzen des Zugangs zum Recht diskutiert.

14:45
Die Praxis der Untersuchungshaft als Ausdruck von Rechtskultur

ABSTRACT. Untersuchungshaft sollte eine Ultima Ratio sein, die nur dann angewandt wird, wenn triftige Gründe dafür vorliegen, wenn die Haft verhältnismäßig ist und wenn es keine anderen, weniger einschneidenden Maßnahmen gibt, mit denen die Haft vermieden werden könnte. Abgesehen von einer generell zurückhaltenden U-Haftpraxis können Alternativen zur Haft wesentlich zur Haftvermeidung beitragen. In den meisten europäischen Ländern spielen Alternativen zur Untersuchungshaft in der Praxis allerdings eine geringe Rolle, während das irische oder das englische und walisische Kautionsmodell zu eher niedrigen Haftquoten beizutragen scheinen. Ausgehend von den empirischen Ergebnissen zweier europäischer Studien werden in diesem Beitrag Gründe für die stark divergierende U-Haft-Praxis diskutiert. Dabei wird besonders Hinweisen auf unterschiedliche Rechtskulturen nachgegangen. Mit dem irischen Kautionsmodell ist zum Beispiel eine Anwendungs- und Argumentationslogik verbunden, die sich markant von den meisten anderen EU-Mitgliedstaaten unterscheidet und die offenbar auch das Ultima-Ratio-Bewusstsein der Praktiker:innen prägt. Der Beitrag zielt darauf ab, Faktoren zu identifizieren mit denen das Ultima Ratio Prinzip gestärkt und die Anwendung von Haftalternativen unterstützt werden könnte. Dass Haftalternativen auch Risiken bergen, darf dabei nicht ignoriert werden.

15:00
EU-Rahmenbeschlüsse als Versuch, den Zugang zum Recht von EU-Bürger:innen zu stärken

ABSTRACT. Globalisierung, drastische Wohlstandsgefälle, hohe Mobilität und durchlässigere Grenzen schlagen sich auch in den Zahlen Beschuldigter und Verurteilter ohne Staatsbürgerschaft der jeweils strafverfolgenden Länder nieder. In vielen EU-Ländern ist der Anteil Fremder an den Tatverdächtigen und auch den letztlich Verurteilten beträchtlich. Extrem stellt sich der Fremdenanteil in manchen Ländern bei der Untersuchungshaft dar, wo mehr als die Hälfte der Untersuchungsgefangenen keine Staatsbürgerschaft des Aufenthaltslandes haben. Fehlender regulärer Wohnsitz und regelmäßig vorliegende, prekäre soziale Umstände können mitunter eine Strafverfolgungspraxis legitimieren, in der Fremde gegenüber Staatsbürger:innen benachteiligt sind. Die Grenze zur Diskriminierung bleibt dabei oft verschwommen. Die Europäische Union bemüht sich seit langem darum, nicht nur die grenzüberschreitende Strafverfolgung innerhalb der Union zu unterstützen, sondern auch den Zugang der davon betroffenen EU-Bürger:innen zu ihren Rechten. Ein Beispiel in diesem Sinne ist der Rahmenbeschluss über die Europäische Überwachungsanordnung in Ermittlungsverfahren, mit dem EU-Bürger:innen öfter der Zugang zu U-Haftalternativen ermöglicht werden soll, die dann im Heimatland überwacht werden. Ein weiteres Beispiel ist der Rahmenbeschluss zur gegenseitigen Anerkennung von Bewährungsmaßnahmen und alternativen Sanktionen innerhalb der Europäischen Union, die dann im Heimatland überwacht werden sollen. In der Praxis bleiben diese Bemühungen bislang leider nahezu bedeutungslos. Auf Basis der Ergebnisse dreier EU-Projekte zu diesen Themen diskutiert der Beitrag die potentiellen Nachteile und Benachteiligungen, denen Fremde im Zugang zu ihren Rechten in diesen Rechtsbereichen immer wieder ausgesetzt sind, warum die Rahmenbeschlüsse bislang kaum praktische Relevanz haben und was, wie verbessert werden könnte.

14:15-15:45 Session 4D: Track 5: Diskriminierungsfreie Zugänge zu existenzsichernden Sozialleistungen

Das Panel beleuchtet Zugangsfragen zu existenzsichernden und gesundheitsbezogenen Sozialleistungen empiriebasiert aus interdisziplinärer und diskriminierungskritischer Perspektive. Wie müssen Ansprüche, Verwaltungsprozesse und Beratungsangebote ausgestaltet sein, damit Bedarfe abgedeckt und Ansprüche durchgesetzt werden? Was bedeutet diversitätssensible Leistungsgewährung und wie muss diese in Verwaltungshandeln jenseits formaler Gleichbehandlung übersetzt werden? Welche Barrieren gilt es zu überwinden, die in den Schnittstellen von Sozialrecht und Migrationsrecht eine angemessene Versorgung gerade erschweren? Welche Anforderungen an Sozialberatung ergeben sich aus der empirischen Forschung im Bereich Sozialstaat? Das Panel verbindet so – mit der gesetzlichen Ausgestaltung von Sozialleistungen, den Gewährungsprozessen in Behörden und der unabhängigen Beratung von Leistungsberechtigten – drei zentrale Zugangsschwellen zu Sozialen Rechten.

14:15
Die Bedeutung nicht behördlicher Beratung für die Gestaltung des Zugangs zum Recht

ABSTRACT. Neben der institutionell-behördlichen Beratung ergänzen zivilgesellschaftliche Akteure die behördliche Beratung. Akteure wie Sozial- und Wohlfahrtsverbände müssen dabei die Vorgaben des 2008 reformierten Rechtsdienstleistungsgesetzes (RDG) beachten. Dieses Gesetz zielt darauf ab, Ratsuchende vor unqualifizierter Rechtsberatung zu schützen (§ 1 Abs. 1. S. 2 RDG). Nach § 7 RDG ist die Beratung durch berufliche oder andere[n] zur Wahrung gemeinschaftlicher Interessen gegründete Vereinigungen erlaubt. Dabei müssen die Beratenden entweder selbst Volljurist*innen sein oder „unter Anleitung“ einer volljuristisch qualifizierten Person handeln (§ 6 Abs. 2 RDG). Zudem muss sichergestellt sein, dass die Verbände über die zur sachgerechten Erbringung der Dienstleistung erforderlichen personellen, sachlichen und finanziellen Ausstattung verfügen (§ 7 Abs. 2 RDG). Vor diesem Hintergrund bestreiten Sozialverbände täglich eine Vielzahl an Beratungen, die im Wesentlichen dazu dienen, Menschen in Situationen mit akutem Hilfebedarf zu unterstützen, Rechtsfragen zu erörtern, Wissen über Rechtsansprüche und -Pflichten zu vermitteln und ein Setting der Anerkennung herzustellen, in dem sich Ratsuchende befähigt fühlen, Rechte nicht nur zu haben, sondern diese auch realisieren zu können. Das heißt soziale Probleme werden in der Beratungspraxis nicht bagatellisiert oder auf rechtliche Aspekte reduziert, sondern unter Berücksichtigung der aktuellen Lebenssituation, -Planung sowie -Gestaltung in bearbeitbare und für ratsuchende Personen verständliche wie nachvollziehbare Rechtsfragen übersetzt. Diese auf partizipatorischer Parität beruhende Aushandlung sozialrechtlicher Angelegenheiten ist aus sozialwissenschaftlicher Perspektive ein entscheidender Baustein in der Überwindung von Zugangsbarrieren.

14:30
Diversitätssensible Sozialleistungsgewährung aus Sicht von Verwaltungsmitarbeitenden – am Beispiel der Jobcenter

ABSTRACT. Dargestellt werden Ergebnisse des Forschungsprojekts „Diver§So“. Dieses untersuchte von 2021-2023 Fallstricke und Gelingensbedingungen einer diversitätssensiblen Leistungsgewährung in der Grundsicherung für Arbeitsuchende (SGB II). Im Zentrum des von der Hans Böckler Stiftung geförderten Projekts standen die Bedingungen diversitätssensibler Gewährung von Geldleistungen im System der Existenzsicherung in Deutschland sowie die zugehörigen Entscheidungsprozesse innerhalb der Behörde. Dies wurde gemeinsam mit Mitarbeitenden von drei kooperierenden Jobcentern in drei Bundesländern in einem auch partizipativ angelegten Forschungsprozess bearbeitet. Aus interdisziplinärer Perspektive wurden mit einem Mixed Methods Ansatz sowohl sozial- wie rechtswissenschaftliche Aspekte der Gewährungspraxis analysiert. Neben einer juristischen Expertise bildeten Gruppendiskussionen und Workshops mit den Mitarbeitenden die empirische Basis der nunmehr generierten Handlungsimpulse zu einer diskriminierungs- und barrierefreie(re)n Praxis für Jobcenter und Gesetzgebung. Es sollen Erkenntnisse zu den Zugangsbarrieren (und deren Überwindung) im Gewährungsprozess diskutiert werden, wie sie bspw. in den Bereichen der Kommunikation zwischen Mitarbeitenden und Leistungsberechtigten, der Organisation und Gestaltung der Prozesse oder in Haltungen und Kulturen innerhalb der Jobcenter zu finden waren. 

14:45
Zugang zum Sozialrecht unter Vorbehalt - Können gesetzliche Beratungspflichten Zugangsbarrieren im Sozialrecht überwinden?

ABSTRACT. Soziale Rechte zu mobilisieren setzt einen Zugang zu diesen Rechten voraus. Für Bürger ist das komplexe Sozialsystem eine Hürde. Neben starken Wissensdifferenzen zwischen den (nur in Krisenzeiten) betroffenen Laien und den Leistungserbringern, Verständnis- und Kommunikationsbarrieren, aber auch mangelndem Vertrauen, tritt Rechtsunwissenheit hinzu. Zur Geltendmachung von Rechten muss das Rechtsproblem erst einmal erkannt werden, was grundlegende Kenntnisse über sozialrechtliche Regelungen bedingt. Gegensteuern soll dabei der gesetzliche Beratungsauftrag (§§ 13-15 SGB I), der für alle Sozialleistungen gilt, und seit seiner Schaffung 1976 unverändert fortbesteht. Der Grund liegt ausweislich der Gesetzesbegründung darin, dass Beratung und Information die wichtigsten Dienstleistungen sein, die die Leistungsträger nicht Wohlfahrtsverbänden überlassen können. Dennoch ist dieser Beratungsauftrag in der Bevölkerung wenig bekannt und wenig untersucht. Letzterem soll mit einer Diskussion entgegengewirkt werden. Zudem soll über einen verbesserten faktischen Zugang zur Beratung (etwa durch Schaffung eines subjektiv-öffentlichen Anspruchs des Bürgers auf Aufklärung) nachgedacht werden.

15:00
Mobilisierungsfördernde und -hindernde Faktoren im schweizerischen Sozialhilferecht – ein interkantonaler Vergleich

ABSTRACT. Der Sozialhilfe kommt in der Schweiz die bedeutende Aufgabe zu, die Existenz derjenigen Personen zu sichern, die anderweitig nicht über genügend Mittel verfügen. Die Ausgestaltung und Umsetzung ist weitgehend Sache der 26 Kantone (= Gliedstaaten im föderalistischen Bundesstaat). Untersuchungen stellen jedoch fest, dass der Nichtbezug von Sozialhilfeleistungen ein quantitativ erhebliches Problem darstellt. Gesamtschweizerisch betrachtet macht rund ein Viertel der Personen, die unterhalb der Armutsgrenze leben, den Anspruch nicht geltend.

Es stellt sich die Frage, inwiefern die rechtlichen Rahmenbedingungen zu dieser beträchtlichen Nichtbezugsquote beitragen. Wir stellen die Resultate eines interkantonalen Vergleichs des positivrechtlich verankerten Sozialhilferechts entlang von mobilisierungsrelevanten Kriterien vor. Letztere lassen sich auf einer organisational-strukturellen Ebene (z.B. Finanzierung, Professionalisierung) und einer individuellen Ebene (z.B. klare Anspruchsvermittlung, Ausprägung von Sanktionen) verorten. Durch die Bewertung der einzelnen Faktoren entsteht pro Kanton ein Netzdiagramm und schliesslich eine Grobtypologie der Kantone in vier Feldern, die sich in ihrer Mobilisierungsfreundlichkeit bzw. -feindlichkeit graduell unterscheiden.

Damit wird ein Beitrag dazu geleistet, das Phänomen des Nichtbezugs von Sozial(hilfe)leistungen auch anhand von Rechtsmobilisierungstheorien zu erklären.

14:15-15:45 Session 4E: Track 9: Societal Security

Das durch die SSA gesponserte Panel verschafft einen Überblick über die Forschungsprojekte zu gesellschaftlicher Sicherheit am Vienna Centre for Societal Security.

14:15
Algorithmen als Feuerprobe des Rechtsstaats

ABSTRACT. Panel Societal Security

Ohne Rechtsschutz kein Rechtsstaat. Die Einhaltung der demokratisch beschlossenen Normen, kann nur garantiert werden, wenn einzelne Betroffene deren Anwendung effektiv überprüfen lassen können. Zur Überprüfung von staatlichen Entscheidungen wiederum muss transparent sein, auf Basis welcher Fakten und mit welchen Begründungen sie getroffen wurden. Der Einsatz von Algorithmen und insbesondere von Machine Learning oder gar „Künstlicher Intelligenz“ in Beweisverfahren wird immer weiter ausgebaut, sei es durch automatisierte Sprachanalyse zur Herkunftslandbestimmung im Asylverfahren, durch die automatische Gefährdungsanalyse von Fluggastdaten oder auch den Abgleich von Gesichtsbildern (facial recognition). Notorischerweise sind solche Anwendungen oft gerade nicht nachvollziehbar, sie arbeiten in einer sogenannten black box. Dadurch wird die Überprüfbarkeit staatlicher Entscheidungen auf die Probe gestellt. Dieser Beitrag untersucht die sich daraus ergebenden Probleme aus Perspektive des österreichischen Verwaltungs- und Verfassungsrechts, sowie internationaler Menschenrechtsstandards und schlägt neue Ansätze des Rechtsschutzes und der Algorithmenregulierung vor.

14:30
Mehr Sicherheit durch weniger Kontrolle: Sanctuary Cities

ABSTRACT. Panel Societal Security Seit den 1980er Jahren widersetzen sich "Sanctuary Cities" offen restriktiven nationalen Asylpolitiken, indem sie Geflüchtete aufnehmen. Ein wichtiger Bestandteil dieser Politik ist der Grundsatz "Don't ask, don't tell": Wenn die Polizei eine Notwendigkeit zum Eingreifen sieht, kümmert sie sich um das Problem, ohne weitere Fragen zu stellen, z. B. nach einer Aufenthaltsgenehmigung. Der Beitrag stellt diese Praxis der üblichen Polizeipraxis in Österreich gegenüber, wo nicht nur bei jeder Begegnung mit der Polizei Papiere vorgelegt werden müssen, sondern die Polizei auch aktiv nach Personen ohne gültige Aufenthaltsgenehmigung sucht, häufig mittels racial profiling. Es wird argumentiert, dass es die allgemeine gesellschaftliche Sicherheit erhöht, wenn die Menschen sich in der Lage fühlen, in problematischen Situationen die Polizei zu rufen. Andererseits können diese Beobachtungen zu der Frage führen, ob polizeiliche Interventionen die gesellschaftliche Sicherheit überhaupt erhöhen oder ob kollektive Aktivitäten von Communities die Polizei ersetzen sollten. Aus dieser Perspektive könnte es zu sinnvolleren und fortschrittlicheren Wegen der Konfliktbewältigung führen, wenn es zu riskant ist, die Polizei einzuschalten. Diese Frage wird auf der Grundlage der Überlegungen von Heinz Steinert zu diesen Themen erörtert.

14:45
Die Relevanz von Kategorisierung im Zugang zu emanzipatorischem Recht

ABSTRACT. Panel Societal Security Um eine Begebenheit rechtlich (durch Meldung, Anzeige, Klage...) einzuordnen, braucht es eine a priori Kategorienbildung, nicht nur des Sachverhalts sondern auch der beteiligten Personen inkl. der rechtsanrufenden Person – „Frau“, „Opfer“, „Benachteiligte“. Dies scheint oft die erste Hürde im Zugang zu Recht, da diese Positionierung nicht nur abstrahierend wirkt, sondern im weiteren Verlauf verselbständigt scheint und somit auch auf den weiteren Prozess einwirkt. Am Beispiel des Zugangs von österreichischen Polizistinnen zu innerpolizeilich wirkenden Opferschutzrechten einerseits sowie den ihnen organisatorisch zugeordneten Gleichstellungsbeauftragten andererseits will der Vortrag zeigen, wie diese Kategorisierungsprozesse in unterschiedlichem Maße bestärkend (im Fall der Opferschutzrechte) oder hemmend (im Fall der Gleichstellungsmaßnahmen) beim Zugang zu Recht wirken können.

15:00
Das Recht auf staatliche Interventionen bei häuslicher Gewalt

ABSTRACT. Panel Societal Security Der opferschutzorientierte Diskurs über die Sicherheit von Frauen in Zusammenhang mit häuslicher Gewalt beinhaltet Forderungen nach einem besseren Rechtszugang (für die Betroffenen). Unter der Prämisse, strafrechtliche Verurteilung schaffe Gerechtigkeit, ermutige die Frauen dazu, Straftaten anzuzeigen und verhelfe ihnen auf diesem Weg zu Schutz vor Gewalt, gerät jedoch die Bedeutung der institutionellen Einflüsse auf das Sicherheitsempfinden der Hilfesuchenden einerseits sowie die Frage nach der Funktion des Rechts andererseits außer Acht. Es soll daher erstens darauf eingegangen werden, wie institutionelle Rahmenbedingungen von Polizei, Medizin und Sozialarbeit auf das Sicherheitsempfinden und die damit verbundene Sichtbarmachung häuslicher Gewalt durch das Opfer wirken kann und zweitens, welche Funktion das Recht im Falle der verwaltungs- und strafrechtlichen Regelungen zur Erfüllung der Opferrechte einnehmen kann. Die Paralellen zum subjektiven Sicherheitsempfinden sollen Perspektiven für die Gestaltung rechtlicher Rahmenbedingung und staatlicher Interventionsmöglichkeiten eröffnen.

14:15-15:45 Session 4F: General Papers: Religiös motivierte und andere Abweichungen des persönlichen Erscheinungsbildes von der gesellschaftlichen Norm

In diesem Panel soll untersucht werden, wie Recht, insbesondere Religionsfreiheit, von Menschen mobilisiert wird, die aus religiösen oder anderen Gründen von einem normativen Erscheinungsbild abweichen. Jüngere Rechtsprechung und Gesetzgebung zum Kopftuchtragen in Deutschland, Österreich und der Schweiz sollen ebenso aufgezeigt werden wie die Auswirkungen der Situation im Iran auf die innerdeutsche Kopftuchdebatte. Des Weiteren sollen Rechtsprechung und Gesetzgebung zu Tattoos, anderem Körper-Schmuck sowie zu Nackt-Sein in der Öffentlichkeit thematisiert werden. Gefragt werden soll, warum Staat und Gesellschaft bestimmte Erwartungen an das Erscheinungsbild von Menschen haben und welche Rechte diejenigen erfolgreich mobilisieren können, die diese Erwartungen nicht erfüllen. Zudem sollen Konflikte um das Kopftuch demokratietheoretisch verglichen werden mit anderen Kulturkonflikten.

14:15
Vortrag „Weder Homogenität noch Diversität: Liberal-demokratische Verfassungen jenseits von postmodernem Individualismus und Kulturessenzialismus“

ABSTRACT. Vortrag im Panel von Sabine Berghahn und Kirsten Wiese "Religiös motivierte und andere Abweichungen des persönlichen Erscheinungsbildes von der gesellschaftlichen Norm"

Der Vortrag vergleicht den Kopftuchstreit in einerseits philosophisch-rechtlicher, andererseits soziologischer Perspektive mit anderen Kulturkonflikten, wie sie sich auch aus den Gegensätzen zwischen zunehmend postmodern eingefärbten liberalen Demokratien einerseits und autoritären Herrschaftsformen andererseits ergeben, und skizziert einen vermittelnden Weg. Dieser erscheint für das Überleben liberaler Demokratien zunehmend existenziell, spielt der genannte Gegensatz doch auch eine Rolle etwa bei der zunehmend gewaltsamen Konfrontation autoritärer Staaten mit Demokratien, etwa im Ukraine-Krieg. Die These des Vortrags, vorgetragen bereits im Titel, lautet, dass liberal-demokratische Verfassungen letztlich ein Denken in der Tradition von Carl Schmitt (oder nun Alexander Dugin) ebenso wenig vertragen wie eine postmodern-diversitätsfixierte überschießende Individualisierung. Beide drohen auf je eigene Weise die für liberal-demokratische Verfassungen konstitutive Scheidung von Gerechtigkeit und gutem Leben aufzulösen, entlang derer sich auch Bekleidungskonflikte grundsätzlich gut lösen lassen würden.

14:30
Nackt in der Öffentlichkeit – Rechtliche Betrachtungen eines gesellschaftlichen Tabus

ABSTRACT. In Panel 177 Religiös motivierte und andere Abweichungen des persönlichen Erscheinungsbildes von der gesellschaftlichen Norm

Nackt in der Öffentlichkeit – Rechtliche Betrachtungen eines gesellschaftlichen Tabus

In Berlin wurde 2021 die Nutzungsordnung für die „Plantsche“, einen Wasserspielplatz samt Wiese in Treptow-Köpenick so geändert, dass auch Frauen sich dort oben ohne aufhalten können. Dem voraus ging ein Streit um einen Platzverweis gegen eine sich oben ohne sonnende Frau (LG Berlin, Urteil vom 14. September 2022, Az.: 26 O 80/22) Andere Kommunen wie München, Kiel und Göttingen änderten ihre Badeordnungen so, dass in öffentlichen Bädern nur die primären Geschlechtsmerkmale verdeckt werden müssen. Gleichzeitig wird aber Nackt-Sein in der Öffentlichkeit überwiegend untersagt und wegen Belästigung der Allgemeinheit als Ordnungswidrigkeit verfolgt (§ 118 OWiG). Nur vereinzelt streiten Menschen dafür in der Öffentlichkeit jenseits von ausgewiesen FKK-Flächen nackt sein zu können. Rechtlich lässt sich ein Recht auf Nacktsein im Allgemeinen Persönlichkeitsrecht verorten, das jedoch mit dem ebenfalls im Allgemeinen Persönlichkeitsrecht verorteten Schamgefühl anderer sowie dem staatlichen Schutzauftrag für Kinder kollidiert. In dem Beitrag soll ausgelotet werden, warum im Fall von Nackten in der Öffentlichkeit überwiegend zugunsten des Schamgefühls der Allgemeinheit entschieden wird. Des Weiteren soll untersucht werden, inwieweit sich die rechtliche und gesellschaftliche Thematisierung des Nacktseins in der Öffentlichkeit von anderen Erscheinungsbild-Auffälligkeit wie Burka, Nikab und Kopftuch unterscheidet.

14:45
Das Islamische Kopftuch zwischen fortgesetzter Diskriminierung seiner Trägerinnen und verfassungsrechtlich zum Teil liberalisierter Rechtsprechung

ABSTRACT. Mit diesem Vortrag soll dargestellt und evaluiert werden, wie neue Gesetzgebungen und Gerichte, insbesondere Verfassungsgerichte, sich in den letzten Jahren zum Islamischen Kopftuch in den drei Ländern Deutschland, Österreich und Schweiz gestellt haben und wie sich die Praxis, insbesondere bei der Beschäftigung im Staatsdienst und in privatwirtschaftlichen Jobs, danach richtet. Bleibt es bei der faktischen und zum Teil rechtlichen Diskriminierung oder gibt es Fortschritte bei der Erkenntnis, dass pauschale Kopftuchverbote unzulässige Diskriminierung bedeuten?

14:15-15:45 Session 4G: Track 7: Round Table: Buchpräsentation: Das Türkische Verfassungsgericht
Location: Aula
14:15
Buchpräsentation (geplantes Format: Paneldiskussion mit Kritiker*innen) Silvia von Steinsdorff / Ece Göztepe / Maria Abad Andrade / Felix Petersen: The Constitutional Court of Turkey between Legal and Political Reasoning, Nomos Dezember 2022.

ABSTRACT. Die interdisziplinäre Studie porträtiert das türkische Verfassungsgericht, das sich seit 60 Jahren in einem von wiederholten Autokratisierungsschüben gekennzeichneten politischen System behauptet. Sie rekonstruiert seine unvollendete Institutionalisierung sowie wesentliche dogmatische Konfliktlinien und methodische Inkonsistenzen in den Urteilen. Die detaillierte Analyse und Dokumentation von fünfzig Schlüsselentscheidungen verdeutlicht den Einsatz des Gerichts für Rechtsstaat und Demokratie ebenso wie die eklatanten Brüche und Widersprüche in seinen Entscheidungen. Im Ergebnis liefert das Standardwerk konzeptionelle Erkenntnisse zur Rolle von Verfassungsgerichten in der Grauzone zwischen Demokratie und Autokratie weit über den türkischen Fall hinaus.

Neben den Autor*innen werden Expert*innen teilnehmen, die die Untersuchung aus unterschiedlichen Perspektiven kritisch kommentieren. Dr. Oya Yeğen, Assistant Professor an der Sabançi University, Istanbul, hat ihre Teilnahme bestätigt, weitere Wissenschaftler*innen aus den Bereichen vergleichende Demokratieforschung, interdisziplinäre Rechtsforschung und vergleichendes Verfassungsrecht sind angefragt.

14:15-15:45 Session 4H: Track 2: Rechtssubjekte & Rechtssubjektivität II
14:15
Res publica im Anthroprozän: Rechtssubjektivität von Dingen zwischen in der ökologischen und der digitalen Konstellation

ABSTRACT. Bruno Latour ist tot. Seine Idee aber, dass die geosoziale Frage neue Modi und Foren der Beantwortung, eine Neudimensionierung der Mitbestimmung, erfordert, lebt. Der Beitrag will untersuchen, ob die Rechtssubjektivität mit Blick auf die wachsenden Herausforderungen, politisch und rechtlich auf ökologische und digitale Krisen zu reagieren, neu zu denken ist. Brauchen wir mehr mitbestimmende Subjekte? Muss das Recht hier nachziehen? Seinen Blick weiten?

Der Kampf um die Demokratie war lang und blutig. Vielleicht ist das Projekt - all jene, die betroffen sind, auch mitbestimmungsfähig zu machen, noch nicht abgeschlossen. Vielleicht, und dies soll der Beitrag untersuchen, ist es an der Zeit den Blick von der Demokratie (in der das demos vertreten ist) zu einer Prágmatakratie zu weiten, in der die prágmata, die Dinge, auch eine Rolle spielen. Diese Dingen sind dann - ökologisch wie digital - zu befragen auf die Kontingenzen ihrer Subjektivität, die sich bei Gletschern und Affen natürlich anders stellt als bei algorithmischen Entscheidungssystemen und Smart Cars.

14:30
Land, Eigentum und Subjektivität in Postkolonien

ABSTRACT. In vielen postkolonialen Gesellschaften ist die Landfrage ein zentral diskutiertes Thema, das in europäischen Kontexten vornehmlich als ökonomisches Problem für wirtschaftliche Entwicklung thematisiert wird. Dieser Beitrag befragt hingegen die konstitutiven Effekte von Landeigentum für die Rechtssubjektivität, und die politische Verantwortung ehemaliger Kolonialmächte in diesem Zusammenhang. Empirisches Beispiel ist Südafrika, dessen Rechtsgebiet ehemalige deutsche, britische und niederländische Kolonialgebiete umfasst.

Das demokratische Südafrika leidet ungemindert unter der gewaltsamen Unterwerfung und Landenteignung des neunzehnten Jahrhunderts, die in der Verfassung von 1996 unangetastet blieb. Politische Machthaber:innen und internationale Konzerne verteidigen dies mit dem Verweis auf die Notwendigkeit von Rechtssicherheit.

Innerhalb Südafrikas bezieht sich der Konflikt aber keineswegs auf Land als ökonomische Ressource, sondern als konstitutives Element der Rechtssubjektivität. Die koloniale Enteignung erzwang nicht nur Zwangs- und Lohnarbeit, sondern nahm der autochthonen Bevölkerung auch kulturelle und politische Grundlagen.

Die Analyse des (Nicht-)Wandels von Eigentum an Land vom Kolonialismus über Apartheid bis zur Demokratie in Südafrika behandelt auch die physische Präsenz, personale Entfaltungsmöglichkeit sowie politische und kulturelle Vernetzungsfähigkeit von Rechtssubjekten.

14:45
Juristische Personen, Rechtpluralismus und poröse, relationale Identitäten

ABSTRACT. Wenn individuelle und kollektive juristische Personen in einer Pluralität rechtlicher Ordnungen navigieren, bieten sich Auswahlmöglichkeiten. Die konkrete Form einer juristischen Person kann also höchst unterschiedlich ausfallen in Abhängigkeit von der referenzierten Rechtsordnung und deren sich stetig verändernde Einbettung in plurale Rechtsverhältnisse. Die eigentlichen menschlichen Rechtssubjekte können dabei Träger einer Vielzahl von juristischen Personalitäten gleichzeitig sein. Die Teilhabe an einer Multiplizität von juristischen Personen, die sich alle in unterschiedlicher Weise in eine gegebene Konfiguration pluraler Rechtsverhältnisse einschreiben, weist auf eine Schnittstelle hin, an der zusätzliche Qualifikationen erkennbar werden. Die Debatte über Personalität in der Ethnologie referenziert einige dieser Qualifikationen. So werden verschwommene Grenzen zwischen Individuen und Kollektiven oder zwischen porösen und relationalen Manifestationen des Selbst unter die Lupe genommen. Nicht-westliche Konzepte von Person, Individuum und Selbst als untrennbare Teile erweiterter Assemblagen gewinnen zunehmend Gestaltungskraft in der Nomosphäre und wirken auf die Beschaffenheit und Handlungsmacht juristischer Personen ein. Meine Überlegungen gründen auf empirischen Daten aus Marokko, die die zunehmende Forderung der Anerkennung von Rechtsfähigkeit einer Assemblage aus Menschen, Bäumen, Pilzen und etlichen anderen konstitutiven Komponenten zum Gegenstand haben.

16:15-17:45 Session 5A: Track 1: Zugang zum Feld – Methodische Besonderheiten bei der Feldforschung in staatlichen Institutionen

Der Zugang zum Feld in empirischen rechtssoziologischen und kriminologischen Studien, die staatliche Institutionen als Forschungsgegenstand haben, gilt allgemein als erschwert. Forscher*innen müssen oftmals mehrere formale Anträge stellen, lange Wartezeiten hinnehmen und können oft nur mit ausgewählten Personen Interviews führen. Was heißt das in der Praxis? Auf dem Panel werden Johanna Behr, Dr. Nicole Bögelein, Laya Alizad und Leonie Thies aus verschiedenen Perspektiven über den Feldzugang als Praxis sprechen. Wie gestaltet sich ein Antrag auf Akteneinsicht bei der Staatsanwaltschaft als Doktorandin? Welche Rolle spielt es, als staatlich gefördertes Projekt in einer staatlichen Institution zu forschen? Wie gelingt es, als Sozialwissenschaftler*in Zugang zum juridischen Feld zu erlangen? Wie gestaltet sich der Zugang zu Prozessbeobachtungen, die eigentlich öffentlich sein sollten? Wie gestaltet sich der Zugang zu Interviewpartner*innen auch während der Interviews? Was bleibt uns verschlossen? Warum brauchen wir empirische Forschung in Justiz und Strafverfolgungsbehörden trotz oder gerade wegen der Schwierigkeiten beim Feldzugang?

 

Chair:
16:15
Als staatlich gefördertes Projekt in staatlichen Institutionen forschen – Besonderheiten und Herausforderungen

ABSTRACT. In diesem Beitrag wird die Forschung des von der Berliner Senatsverwaltung für Justiz, Vielfalt und Antidiskriminierung (SenJustVA) seit Dezember 2020 geförderten und unter der Leitung von Prof. Dr. Michael Wrase am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB) durchgeführten Forschungsprojekt „Zugang zum Recht“ vorgestellt. Forschungsergebnisse des Projekts werden dabei nur am Rande thematisiert. Vielmehr wird der Zugang zum und die Wahrnehmung im Feld sowie das Spannungsfeld zwischen der finanziellen Förderung von einem staatlichen, juristischen Akteur und der rechtssoziologischen Erforschung dieses Feldes diskutiert. Unterstützt durch die SenJustVA sowie das Berliner Kammergericht wurden uns sowohl interne Justizstatistiken und Datenbanken zur Verfügung gestellt sowie eine intensive Feldforschung in Rechtsantragsstellen Berliner Amtsgerichte ermöglicht. Über die staatliche Förderung als „Türöffner“, der Wahrnehmung als Forscher*innen „vom Staat“ im Feld und der Navigation zwischen zum Teil im erforschten Feld selbst verankerten Stakeholder*innen werde ich berichten. Dabei stehen Fragen nach den Potenzialen und Grenzen des Projekts sowie der Position der Forscher*innen im Vordergrund. Gerade in Anbetracht der immer bedeutender werdenden Drittmittelforschung und der Justiz oft als wenig zugänglich angesehene Institution sind diese Fragen für die rechtssoziologische Forschung entscheidend und ein Austausch zwischen Forscher*innen fruchtbar.

16:30
Praktische, ethische und analytische Herausforderungen von Interviews im Gefängnissen

ABSTRACT. Im Rahmen diverser kriminologischer Forschungsprojekte habe ich mittlerweile mehr als 100 Interviews mit Menschen im Strafvollzug geführt, denn gerade wenn es darum geht, Betroffene zu kontaktieren, wählt man in der Kriminologie häufig den Zugang über das Gefängnis. Das birgt diverse Probleme, angefangen bei der Antragstellung bei den kriminologischen Diensten, über die Kontaktaufnahme mit den Gefängnissen hin zur „black box“ der konkreten Auswahl der Gesprächspartner:innen: Wen präsentieren die Anstalten als „richtige“ Ansprechpartner:innen? Zudem werden durch diesen Art des Zugangs Label aufgegriffen: Die Menschen in Gefängnissen sind diejenigen, die von Strafverfolgung und Justiz mit dem Etikett „Drogenhändler:in“, „Schwarzfahrer:in“, „Radikale:r“ versehen wurden. Damit läuft Forschung Gefahr, über individuelle Differenzierungen gesellschaftliche Ungleichheitsstrukturen und Stereotype zu reproduzieren, wenn die Analyse nicht genau diese Mechanismen einbezieht und rekonstruktiv arbeitet. Schließlich besteht ein weiteres Problem: Der Zugang zu Menschen in Gefängnissen geschieht nicht unbeobachtet – dass der Staat mithört, hat die Beschlagnahme von Interviewdaten eines Interviews bei Forschenden der Universität Erlangen 2020 gezeigt. Welche praktischen Probleme, ethischen Verpflichtungen und analytischen Herausforderungen Interviews mit Gefangenen mit sich bringen, werde ich im Vortrag herausarbeiten.

16:45
Zugang zum Feld – Methodische Besonderheiten bei der Feldforschung in staatlichen Institutionen

ABSTRACT. Im Rahmen meiner juristischen Promotion plane ich eine (qualitative) Aktenanalyse abgeschlossener staatsanwaltschaftlicher Ermittlungsakten sowie die Durchführung von Expert*inneninterviews mit Berliner Staats- und Amtsanwält*innen. Das Thema des Beitrags soll die Hürden aufzeigen, mit denen sich eine empirisch forschende Einzelforscherin konfrontiert sehen kann. Gleichzeitig soll die Wichtigkeit empirischer Forschung gerade für Jurist*innen betont und über Wege diskutiert werden, die den Zugang zur empirischen Forschung erleichtern könnten. Die erste Hürde für Jurist*innen besteht in der Erkenntnis, dass Methoden der empirischen Sozialforschung, die Recht als empirisches Material erfassen und analysieren können, zunächst oft mühsam erlernt werden müssen. Eine weitere Hürde stellt der eigentliche Zugang zu den Forschungsdaten dar. Nicht nur die Anforderungen an die Stellung eines Forschungsantrags sind vielfältig. Insbesondere das Überzeugen von sog. „Gatekeepern“ innerhalb der Justiz erweist sich als besondere Schwierigkeit. Hier stellt sich die Frage, wie das „Wohlwollen“ der entscheidenden Behörden zu gewinnen und inwieweit dies mit der Forschungsfreiheit zu vereinbaren ist.

17:00
„Ich bin Öffentlichkeit“ – Zugang zu Prozessbeobachtungen, Interviews und Aktenmaterial bei Sexualstraftatsprozessen

ABSTRACT. In diesem Beitrag werde ich basierend auf meiner Feldforschung zu Glaubhaftigkeit in Sexualstraftatsprozessen in der Berliner Strafjustiz über den Feldzugang als Individualprojekt und den damit verbundenen Hürden berichten. Besonderer Fokus wird auf dem Zugang zu Prozessbeobachtungen gelegt, da diese auf den ersten Blick zwar unkompliziert erscheinen – Prozesse sind grundsätzlich öffentlich –, sich dies in der Forschungspraxis im Berliner Strafgericht jedoch als schwierig herausgestellt hat. Unverständliche Aushänge, lange Wartezeiten, verschobene Verhandlungen, forsche Wachmeister*innen, fehlende Zeug*innen und wenig Planungssicherheit stellten sich als alltägliche aber gravierende Hürden in meiner Feldphase heraus. Gleichzeitig war mein Zugang zu Interviewpartner*innen und Aktenmaterial entgegen meinen Erwartungen (und der Erwartungen meines akademischen Umfeldes) unkompliziert. Schwierigkeiten zeichneten sich jedoch in meinem Zugang zur juristischen Sprache während der Interviews und der Aktenanalyse heraus. An diesem Beispiel werde ich verdeutlichen, welche spezifischen Zugangsbarrieren als Sozialwissenschaftlerin im Feld der Strafjustiz auftreten können – und welche methodischen Chancen soziologische Zugänge zum juridischen Feld mit sich bringen.

16:15-17:45 Session 5B: Track 2: Rechtssubjekte & Rechtssubjektivität III
16:15
Vom Rechtssubjekt pro forma zum Rechtssubjekt realiter - aktuelle Fragen zum Anspruch auf kostenlose Rechtsvertretung

ABSTRACT. Wie schon im Konferenzstatement hervorgehoben ist - als klassisches Thema der Rechtssoziologie - die Zugänglichkeit des Rechts für Menschen abhängig von Herkunft, sozialer Schicht, Geschlecht, Behinderung oder weiteren Faktoren in sehr unterschiedlichem Maße gegeben. Sehr unterschiedlich gegeben ist aber auch der Zugang zu rechtlichen Mechanismen, die diese Unterschiede ausgleichen sollen, um Menschen aus einer pro forma Rechtssubjektivität zu tatsächlichen Rechtssubjekten zu machen, um Rechtsansprüche aus ihrer Formalität in Wirksamkeit zu überführen.

Dabei stellen sich einerseits grundlegende verfassungsrechtliche Fragen, wie etwa die Verankerung eines Anspruchs auf kostenlose qualifizierte Rechtsvertretung (in der Schweiz etwa bundesverfassungsrechtlich, in Österreich erst über die EMRK, die europäische Grundrechtecharta und die Rechtsprechung). Andererseits hat eine Fülle von rechtlichen und faktischen Details zu Qualifikation, Unabhängigkeit, Verfügbarkeit und Finanzierung oft entscheidende Auswirkungen auf den tatsächlichen und wirksamen Zugang zum Rechtsschutz, um - mit den Worten des EGMR - Rechte „nicht theoretisch und illusorisch, sondern praktisch und wirksam“ zu machen.

Für manche Bevölkerungsgruppen (etwa Asylsuchende in der Schweiz und in Österreich; in Psychiatrien untergebrachte Menschen in Österreich) oder Rechtsfragen (etwa Arbeitnehmer:innenrechte in Österreich) wurden schließlich eigene Beratungs- und Vertretungsmechanismen politisch erkämpft und rechtlich vorgesehen. Der Möglichkeit größerer Spezialisierung und Effizienz stehen prototypisch Fragen der Qualifikation, der Aufsicht und der Unabhängigkeit gegenüber. Und nicht zuletzt entwickeln sich in einigen Rechtsgebieten Law Clinics als Brücke zwischen Wissenschaft, Nachwuchs und Praxis; oder kritisch betrachtet als Notbehelfe, um Lücken des Zugangs zum Recht zu kitten.

Der Beitrag geht aktuellen Fragen zu diesen Kernthemen des Zugangs zum Recht und damit der allgemeinen Rechtsgleichheit mit einem juristischen Fokus nach

16:30
Rechtssubjekte unter besonderem Schutz

ABSTRACT. Rechtsinstrumente des Rechtsschutzes und der rechtlichen Vertretung bzw. Unterstützung für Personen mit psychischer Erkrankung oder Behinderung sind Resultat und Ausdruck umfassender gesellschaftlicher und rechtspolitischer Reformen in den letzten Jahrzehnten. In Österreich bilden das 2. Erwachsenenschutzgesetz, das Unterbringungsgesetz und das Heimaufenthaltsgesetz die zentralen Rechtsgrundlagen hierfür. Sie beziehen sich auf Personen, bei denen in erhöhtem Maße ungewiss erscheint, inwieweit sie ihre Rechte, aber auch Pflichten als Rechtssubjekte ohne besonderen Schutz bzw. Unterstützung eigenständig ausreichend wahrnehmen können. Durch die Gesetze werden Einschränkungen von Persönlichkeitsrechten bzw. der Rechtspersönlichkeit (Rechtssubjektivität) rechtlich geregelt, hierfür wird jeweils dem Moment der ernstlichen und erheblichen Gefährdung eine zentrale Rolle zuerkannt. Und auf ihrer Basis werden außergerichtliche Institutionen mit dem Rechtsschutz bzw. der „Rechtsfürsorge“ der betroffenen Personen beauftragt. Das IRKS forscht seit gut zwei Jahrzehnten empirisch zur Umsetzungspraxis dieser Rechtsschutz-Instrumente. Auf den jüngsten Studienergebnissen aufbauend gehe ich in meinem Input der Frage nach, wie sich Rechtssubjektivität und personenbezogener Rechtsschutz unter Bedingungen einschränkender Interventionen bei gleichzeitig postulierter Selbstbestimmung und persönlicher Freiheit in der Praxis (Unterstützungsalltag, gerichtliche Praxis, außergerichtlicher Rechtsschutz durch Vereine etc.) entfalten und wie sie ausverhandelt werden.

16:45
Kindgerechte Justiz - Zugang zum Recht für Kinder

ABSTRACT. Kinder kommen vielfach mit dem Justiz- und Verwaltungssystem in Berührung. Sie können hierbei in sehr unterschiedlicher Weise betroffen sein, beispielsweise in familienrechtlichen Verfahren bei einer Trennung der Eltern, als (Opfer-)Zeug*innen oder Beschuldigte in strafrechtlichen Verfahren, als Betroffene in Asylverfahren oder durch Vorhaben in der Kommune.

Die UN-Kinderrechtskonvention, die Leitlinien des Europarates für eine kindgerechte Justiz und Checklisten der EU-Grundrechteagentur für Fachkräfte enthalten zahlreiche Vorgaben für kindgerechte Justizverfahren. Die Kinderrechte-Strategie des Europarates fordert die Mitgliedstaaten zur Umsetzung der Leitlinien des Europarates für eine kindgerechte Justiz auf.

Der Zugang zum Recht ist für Kinder jedoch häufig von Erwachsenen und dem individuellen Engagement der Verfahrensbeteiligten abhängig. Ihr Zugang zum Recht und die Verwirklichung des Rechts auf ein kindgerechtes Verfahren muss deshalb systematisch und strukturell abgesichert sein.

Die Koordinierungsstelle Kinderrechte begleitet die Umsetzung der Strategie des Europarates für die Rechte des Kindes und der EU-Kinderrechtsstrategie in Deutschland. In Zusammenarbeit mit Kooperationspartner*innen wurden gemeinsam mit Expert*innen kinderrechtsbasierte Kriterien für das familiengerichtliche und das strafrechtliche Verfahren erarbeitet. Die Umsetzung dieser Kriterien wurde in einem bereits abgeschlossenen Pilotprojekt zum familiengerichtlichen Verfahren erprobt und wird in einem derzeit in Durchführung befindlichen Pilotprojekt zum strafrechtlichen Verfahren betrachtet.

Der Vortrag soll die Kriterien für eine kindgerechte Justiz sowie vorliegende Projektergebnisse vorstellen.

17:00
Umsetzung der UN-Kinderrechtskonvention in den deutschen Bundesländern – Potenziale und Herausforderungen von indikatorenbasiertem Monitoring

ABSTRACT. Im Rahmen des Staatenberichtsverfahrens zur UN-Kinderrechtskonvention hat der Ausschuss für die Rechte des Kindes den Vertragsstaat Deutschland immer wieder für den Mangel eines umfassenden Datenerhebungssystem mit Bezug auf Kinder kritisiert (zuletzt in seinen Abschließenden Bemerkungen 2014 und 2022). Zudem wurde die Einführung kinderrechtlicher Indikatoren zur regelmäßigen Überprüfung und Bewertung der Umsetzung empfohlen. In der Pilotstudie „Kinderrechte-Index“ (2019) des Deutschen Kinderhilfswerks wurden 64 Kinderrechte-Indikatoren entwickelt und die Umsetzung von fünf Kinderrechten in den deutschen Bundesländern miteinander verglichen. Eine Neuauflage mit überarbeiteten und erweiterten Indikatoren ist aktuell in der Entstehung. Im Beitrag sollen neben einem methodischen Überblick die Erfahrungen mit dem „Kinderrechte-Index“ als Instrument zur Förderung der Rechtswirksamkeit von Kinderrechten diskutiert werden. Durch den indikatorenbasierten Vergleich können eine große mediale Öffentlichkeit erreicht und politische Debatten in den Bundesländern angestoßen werden. Gleichzeitig führt die quantifizierte Perspektive auf eine komplexe soziale und politische Wirklichkeit zu starken Vereinfachungen, die zudem von der Verfügbarkeit von Daten beeinflusst ist. Eine zentrale Herausforderung kinderrechtsbasierten Monitorings ist daher alle Kinder als Rechtssubjekte in den Blick zu nehmen. Denn insbesondere für disaggregierte Daten nach soziodemografischen Merkmalen gibt es wenig verfügbare Quellen.

16:15-17:45 Session 5C: Track 3: Kollektive Mobilisierung von Recht(en) – Umwelt, Mobilität, soziale Kämpfe
16:15
Kollektive Rechte durch kollektive Rechtsmobilisierung? Soziologische Grundlagen von ökozentrischen Umweltklagen in Kolumbien.

ABSTRACT. 2016 und 2018 sind in Kolumbien wegweisende Urteile für die Umweltgerichtsbarkeit gesprochen worden. Zuvor hatten Klagekollektive aus NGOs, sozialen Organisationen und Privatpersonen individuelle und kollektive Rechte mobilisiert. Überraschenderweise sprachen die Gerichte dabei Teilen der Natur einen Rechtsstatus zu. Dieser Beitrag beleuchtet Implikationen beider Fälle für die Theorie kollektiver Rechtsmobilisierung. Genutzt werden Analysen von Interviewdaten, die hierfür mit NGOs und Basisorganisationen geführt wurden. Anhand der Befunde argumentieren wir: Den Rechtsmobilisierungen liegen soziale Beziehungen zwischen gemeinnützigen Prozessführer:innen und vertretenen Akteuren zugrunde, die zur Grundlage für pragmatische Klageentscheidungen wurden. Dieser analytische Fokus erweist sich als hilfreich, um situationssensibel zu einem besseren Verständnis für die Abkürzungen und Umwege zu kommen, über die komplexe Konflikte als Rechtsstreitigkeiten zu Umweltfragen dargestellt wurden. Schließlich kann ein Fokus auf die Klagekollektive nach der Urteilsverkündung dazu beitragen den Ansatz und die Konzepte kollektiver Rechtsmobilisierung zu verallgemeinern und zu stärken.

16:30
Roads (not) Taken: Rechtspolitische Visionen von Stadt im Verkehrswende-Aktivismus

ABSTRACT. Verkehrspolitischer Aktivismus mobilisiert Recht, um die Visionen einer lebenswerteren Stadt zu verwirklichen. Beispielsweise versucht die Initiative Berlin Autofrei ein Gesetz per Volksentscheid zur Abstimmung zu bringen, das den motorisierten Individualverkehr aus der Berliner Innenstadt verbannt. Mit der Wahl von Recht als Interventionsmittel liegen bestimmte Aktionsformen nahe, andere werden ausgeschlossen (bspw. ziviler Ungehorsam). Ausgehend von diesen Befunden möchte der Beitrag danach fragen, wie Mobilisierungspraktiken und rechtspolitische Visionen des Verkehrswende-Aktivismus miteinander zusammenhängen: Wie wird Recht (in diesem Forschungsfeld) mobilisiert? Aber auch: Was wird durch Recht mobilisiert/ mobilisierbar? Dabei sollen sowohl Pfadabhängigkeiten als auch blinde Flecken zur Sprache kommen.

Theoretisch deute ich Verkehrswende-Aktivismus als ethische Praxis, die Alternativen in Abgrenzung zu politischen Imperativen des Status Quo entwirft (Dave 2010). Die Auswahl von Mobilisierungsmitteln beruht insofern auf einem Navigationsprozess (Faust 2019) in rechtlich-politischen Ordnungen. Die Beobachtungen, wie politische Anliegen und rechtspolitische Vorgehensweise kommensurabel gemacht werden (als Prozesse der reflexiven Juridifizierung, Klausner 2021), können demnach analytisch genutzt werden, um die relevanten rechtlich-politischen Ordnungen zu ergründen.

16:45
Mobilisierung des Rechts in der Mobilitätswende

ABSTRACT. Urbane Mobilität ist zunehmend zu einem gesellschaftlichen Konfliktfeld geworden. Es wird über die Einrichtung von Pop-Up-Radwegen ebenso diskutiert wie über attraktive Preise und Angebote des ÖPNV. Die aufgrund der Klimaschutzziele geforderte Dekarbonisierung des Verkehrssektors wie auch veränderte Anforderungen vieler Nutzer*innen an die Verkehrsinfra-struktur zielen auf eine Verlagerung des Individualverkehrs auf andere Verkehrsträger. Eine „Mobilitätswende“ ist daher zu einem politischen Steuerungsziel geworden. Welche Rolle spielt die Mobilisierung des Rechts bei diesem Transformationsprozess? Verwaltungsgerichte werden von Einzelnen mobilisiert, um innovative Verkehrsmaßnahmen und Verkehrsversuche anzu-greifen. Vielfach ergeben sich dort, wo Ressourcen zur Rechtsmobilisierung bestehen, entspre-chende Verhinderungsmöglichkeiten. Die Wahl entweder straßenrechtlicher oder straßenver-kehrsrechtlicher Gestaltungsinstrumente beeinflusst dabei auch die individuellen Rechtsschutz-möglichkeiten, dies wiederum hat Rückwirkungen auf die städtischen Planungen. NGOs nutzen die Verbandsklagemöglichkeiten, um konkrete wie abstrakt-generelle Verkehrsmaßnahmen im Wege einer Public Interest Litigation durchzusetzen, zum Beispiel Dieselfahrverbote oder ein potentielles Tempolimit. In anderen Bereichen besteht weder für Einzelne noch für die Verbände ein Zugang zum Recht. Die Faktoren, Funktionen und Folgen dieses asymmetrischen Zugangs zum Recht sollen in dem Beitrag untersucht und reflektiert werden.

17:00
Bewegungsorientierte Rechtsmobilisierungsanalyse: ein Beitrag für die Analyse sozialer Kämpfe auf dem juridischen Terrain

ABSTRACT. In der Aushandlung kollektiver Interessen sowie in sozialen Kämpfen wird stets Recht mobilisiert. Dies verdeutlichen historische und aktuelle juristischen Auseinandersetzungen um reproduktive Rechte, um die Klima- oder Migrationspolitik und um die Verwirklichung von Menschenrechten in der globalen Wirtschaft. Rechtssoziologische Ansätze haben dazu beigetragen, die Bedingungen für den Erfolg von Mobilisierungprozessen auf dem juridischen Terrain nachzuvollziehen; während Strömungen der Bewegungsforschung sich den Ressourcen und Gelegenheiten gewidmet haben, die die kollektive Mobilisierung mit Rekurs auf Rechtsmittel begünstigen oder erschweren. Der vorliegende Beitrag setzt sich mit einem weiteren, in dieser Diskussion noch ausbaufähigen Aspekt auseinander. Anhand einer bewegungsorientierten Rechtsmobilisierungsanalyse (Vestena 2022), die auf Beiträgen der oben genannten Felder sowie materialistischen und feldtheoretischen Ansätzen basiert, wird die Rolle solcher kollektiv ausgehandelten Antagonismen in breiteren gesellschaftlichen sozialen Kämpfen herausgearbeitet. Das Wechselspiel zwischen politischen und juridischen Momenten sozialer Kämpfe kann produktive Ergebnisse für progressive Kollektivitäten erzielen, indem zum einen ihre Forderungen über den Höhenpunkt der Mobilisierung hinaus in der politischen Arena thematisiert werden, und zum anderen die Übersetzung ebendieser kollektiven Forderungen in die Grammatik des Rechts soziale Kämpfe jenseits des juridischen Feldes legitimiert. Diese theoriegeleiteten Überlegungen werden anhand potenzieller Rechtskämpfe zum Schutz von Arbeits- und Menschenrechten entlang globaler Produktionsnetzwerke thematisiert.

16:15-17:45 Session 5D: Track 4: Polizeiliche Gewalt und ihre strafrechtliche Aufarbeitung

Übermäßige Gewaltanwendungen durch Polizeibeamt*innen sind immer wieder Gegenstand der öffentlichen Debatte. Das DFG-geförderte Forschungsprojekt „Körperverletzung im Amt durch Polizeibeamt*innen“ (KviAPol) hat auf Basis einer Betroffenenbefragung mit über 3.300 Teilnehmenden und über 60 qualitativen Interviews einschlägige Interaktionsgeschehen sowie ihre strafrechtliche Aufarbeitung untersucht. Das Projektteam – Laila Abdul-Rahman, Hannah Espín Grau, Luise Klaus und Tobias Singelnstein – stellt in dem Panel zentrale Ergebnisse des Projekts vor und ordnet diese in die Fragestellungen der Konferenz ein: Welche Gewaltanwendungen werden kriminalisiert, welche nicht? Wo zeigen sich welche Hindernisse beim Zugang zum Strafrecht und wie kommen sie zustande?

16:15
Anzeigeverhalten bei übermäßiger Gewalt durch Polizeibeamt*innen

ABSTRACT. Im Rahmen des Forschungsprojekts KviaPol haben wir 2018 und 2019 eine Online-Befragung mit Personen durchgeführt, die Gewalterfahrungen mit der Polizei schilderten, die sie als rechtswidrig bewertet haben. Dabei zeigte sich, dass sich nicht einmal jede*r zehnte Befragte zu einer Anzeige gegen die handelnden Polizeibeamt*innen entschloss. Der Vortrag beleuchtet die Gründe für diese Entscheidungen über eine Anzeigeerstattung. Es wird der Frage nachgegangen, welche Faktoren eine Anzeige und damit Zugänge zum Strafrecht erschweren, wer davon betroffen ist und welche anderen Umgangsweisen abseits des Strafrechts für Betroffene existieren. Dabei werden Ergebnisse aus der Betroffenenbefragung, aber auch aus Interviews mit Opferberatungsstellen und Rechtsanwält*innen vorgestellt. Insofern wird auch auf die strukturellen Bedingungen eingegangen, die die Mobilisierung von Recht für Betroffene von übermäßiger polizeilicher Gewalt positiv wie negativ beeinflussen können.

16:30
Maßstäbe und Perspektiven bei der Bewertung polizeilicher Gewaltanwendungen

ABSTRACT. Polizeiliche Gewaltanwendungen sind nicht selten umstritten; die diesbezüglichen Bewertungen variieren je nach Perspektive der Beteiligten und Beobachter*innen. Teil der Untersuchung im DFG-Projekt KviaPol ist die Frage, wie solche Bewertungsdiskrepanzen zustandekommen und wie sie die Umgangsweisen von Betroffenen, Polizeibeamt*innen und Angehörigen der Justiz mit polizeilicher Gewalt prägen. Aufbauend auf der Erwägung von Stoughton, Noble und Alpert (2020), dass neben einem rechtlichen auch ein gesellschaftlicher sowie ein polizeilicher Maßstab für die Bewertung polizeilicher Gewaltanwendungen existieren, werden anhand von Betroffenenangaben aus der Online-Befragung sowie Interviews mit Angehörigen von Polizei und Justiz Unterschiede der Maßstäbe und ihrer Anwendungen herausgearbeitet. Dabei zeigen sich divergierende Bewertungsweisen, die sich aber auch überschneiden und die den Zugang zur rechtlichen Bearbeitung einer Gewaltanwendung beeinflussen können.

16:45
Strafjustizielle Aufarbeitung von Vorwürfen rechtswidriger Gewaltausübung

ABSTRACT. Nur 2 % aller von den Staatsanwaltschaften bearbeiteten Strafverfahren wegen Gewaltausübungen durch Polizeibeamt*innen werden in Deutschland zur Anklage gebracht, der überwiegende Teil wird eingestellt. Die strafrechtliche Aufarbeitung solcher Vorwürfe scheint besondere Hürden aufzuweisen. Das DFG-Projekt KviaPol hat für Deutschland anhand einer Betroffenenbefragung sowie Interviews mit Polizeibeamt*innen, Richter*innen und Staatsanwält*innen untersucht, wie sich diese justiziellen Bearbeitungsprozesse gestalten, welche Ermittlungspraxen bestehen, welche Besonderheiten in der Beweislage sich zeigen und welche (sonstigen) Umstände die hohen Einstellungsquoten erklären können. Aufbauend auf den Ergebnissen der vorangegangenen Vorträge zeichnen wir nach, wie eine funktionale Dominanz der Polizei den Verlauf von Strafverfahren gegen Polizeibeamt*innen beeinflusst und diskutieren Ansätze der Veränderung.

16:15-17:45 Session 5E: Track 5: Soziales Recht als Sicherheit im öffentlichen Raum

Dieses Panel fragt wie (Un-)Sicherheit im öffentlichen Raum durch die Praxis sozialer Rechte hergestellt wird. Anhand von öffentlichem Raum, wie z.B. einem Bahnhofsvorplatz, sollen Fragen zum Verhältnis von Sicherheitsrecht, sozialem Recht und Lebenslagen konkretisiert werden. Wie wird einerseits soziales Recht dem heterogenen Phänomen von Wohnungslosigkeit gerecht? Inwieweit trägt andererseits öffentliche Verantwortung und gesellschaftliches Versagen z.b. beim Zugang zu Wohnungen zu unsicheren Lebenslagen bei? Inwieweit darf Sicherheitsrecht die Bedürfnisse von Wohnungslosen und Drogensüchtigen zugunsten von mehr Sicherheit für Passant*innen vernachlässigen? Die Folgen individueller und individualisierender Rechte für Leistungsberechtigte sowie Polizei und Verwaltung als auch einer Aufteilung in Rechtsgebiete, die Zusammenhänge ausblendet, werden diskutiert anhand eines der gesamten Bevölkerung zustehenden öffentlichen Raumes.

16:15
Leben mit Bürgergeld im Öffentlichen Raum

ABSTRACT. Die Lebenslage wohnungsloser Personen hängt u.a. von ihrer persönlichen, gesundheitlichen und sozialen Sicherheit ab. 90% von ihnen beziehen Sozialleistungen. 18 - 20-Jährige haben teils kein Geld bis max. den Regelbedarf bis 2022 in Höhe von 449€ (EBET, ASH (Hg.), 2022, Wohnungslos in unsicheren Zeiten). Ein Teil der unsicheren Lebenslage ist die von manchen Betroffenen als unzugänglich, gar als Gegner, erlebte Sozialverwaltung. Müller hat die Konservierung des Hartz IV-Konfliktes in den Klagen von ALG II-Empfangenden beschrieben (2021, Protest und Rechtsstreit). Nun sind in Deutschland am 1.1.2023 Änderungen im SGB II in Kraft getreten und ALG II heißt seither Bürgergeld. Wie ändern sich mit dem Bürgergeld die Lebenslagen Wohnungsloser? An welchen Stellen gibt es Verbesserungen im heterogenen Phänomen Wohnungslosigkeit? Dieser Vortrag untersucht die These, dass der Hartz-IV-Konflikt weiterhin präsent ist und eine vertrauensvolle Arbeitsbeziehung von Leistungsberechtigten und Jobcentern (Dern/Krehner 2018, Doppelt besser?!) eine solidarische Perspektive braucht. Beide Seiten sind wechselseitig voneinander abhängig und angewiesen auf funktionierende Infrastrukturen. Die Behörden sind jedoch vermutlich nicht zugänglicher geworden (BAGFW 2022, Erreichbarkeit von Jobcentern und Arbeitsagenturen), z.B. wegen fehlender Erreichbarkeit und umfangreicher vorzulegender Unterlagen, die zur Prüfung individueller Rechtsansprüche erforderlich sind.

PANEL: "Soziales Recht als Sicherheit im Öffentlichen Raum" von Judith Dick und Kirsten Wiese

16:30
Soziale Rechte versus Recht auf Sicherheit am Bahnhofsvorplatz in Bremen im Panel "Soziales Recht als Sicherheit im öffentlichen Raum"

ABSTRACT. Den Bahnhofsvorplatz in Bremen passieren täglich rund 140.000 Reisende. Ebenso treffen sich dort täglich mehr als 1000 Menschen zum Trinken und Drogenkonsum. Auch wohnen dort Obdach- und Wohnungslose. Dieses Zusammentreffen unterschiedlicher Interessensgruppen führt zu Unsicherheit und Unwohlsein für viele. Medien und Politik thematisieren vor allem die sicherheits- und ordnungsrechtlichen Probleme wie der Drogenhandel, umherliegender Müll und Diebstähle. Die Polizei ist am Bahnhofsvorplatz deshalb verstärkt präsent, führt Personenkontrollen durch und spricht Platzverweisungen aus; ca. 50 staatliche Videokameras sind dort installiert. Demgegenüber ist das Angebot für die sozial Bedürftigen am Bahnhofsvorplatz geringer: Der Drogenkonsumraum ist 900 Meter von Bahnhof entfernt, ein Aufenthaltsraum unter einer Brücke ist mangels Streetworkern nicht durchgehend geöffnet, es gibt nur eine öffentliche kostenlose Toilette. Dieser sicherheitsbezogene Blick findet sich im Recht wieder: Der Bahnhofsvorplatz ist besonderer Kontrollort nach dem Bremischen Polizeigesetz mit der Folge, dass die Polizei dort unter leichteren Voraussetzungen Personenkontrollen durchführen kann. Die rechtlichen Ansprüche der sich dort aufhaltenden Obdachlosen, Bettelnden und Drogensüchtigen werden demgegenüber wenig thematisiert. Dabei gewähren Grund- und Menschenrechte ihnen ein Anspruch auf einen selbstgewählten Aufenthaltsort, Gesundheit, Obdach, Existenzsicherung und Teilhabe. In dem Vortrag wird untersucht, inwieweit soziale Grund- und Menschenrechte für die Lösungssuche am Bahnhofsvorplatz stärker handlungsleitend sein können.

16:45
Jugend(…)recht – Gestaltung von Zugängen im deutschen System der Jugendstrafrechtspflege

ABSTRACT. Im Beitrag wird das deutsche System der Jugendstrafrechtspflege skizziert, das sich besonders durch die Orientierung am Erziehungsgedanken auszeichnet: In den Vordergrund tritt in diesem System multiprofessioneller Zusammenarbeit die Institution der Jugendhilfe im Strafverfahren (JuHiS). Sie ist verortet sowohl im Jugendhilfe-, als auch im Jugendstrafrecht. Die ihr obliegenden Funktionen unterscheiden sich in Bezug auf beide Rechtsbereiche. Steht im Bereich der Jugendhilfe die Begleitung und Unterstützung der jungen Menschen in Bezug auf ihren Alltag und mögliche Hürden der Gestaltung desselben im Vordergrund, fokussiert das Jugendstrafrecht vor allem den Unterstützungsmoment durch die JuHiS für die Jurisprudenz um dieser die Urteilsbildung zu erleichtern. Neben diesem Spannungsverhältnis von Hilfe und Strafe zeigt sich in Deutschland eine organisationale Neujustierung der Jugendkriminalrechtspflege in Form der Etablierung von „Häusern des Jugendrechts“. Nicht zuletzt erfährt Jugendkriminalität eine besondere Form der diskursiven Rahmung und politischen Aufmerksamkeit. Aus diesen skizzierten Herausforderungen lässt sich die Frage ableiten, wie das professionelle Selbstverständnis von Akteuren in der Jugendstrafrechtspflege Zugänge zu Recht für junge Menschen präformiert.

16:15-17:45 Session 5F: Track 7: Die Funktion von Gerichten
16:15
Perspektiven soziologischer Justizforschung

ABSTRACT. Ausgehend von einer empirischen Studie in der ordentlichen Gerichtsbarkeit, in deren Mittelpunkt die Richterschaft und die Staatsanwaltschaften stehen, fragt der Vortrag nach neuen Perspektiven der Justizforschung - in dreifacher Hinsicht: Mit Blick auf die gesellschaftliche Funktion der Justiz, mit Blick auf das Amtsethos und die Gesellschaftsbilder von Justizjuristinnen und -juristen und mit Blick auf die Rolle der Gerichte in den aktuellen gesellschaftlichen Transformationsprozessen.

Der Beitrag plädiert für eine Justizsoziologie, die den arbeitenden Rechtsstaat und seine Trägerinnen- und Trägergruppen in den Vordergrund rückt. In diesem Verständnis ist Justizforschung Gesellschaftsanalyse, die sich Legitimations-, Repräsentations- und Generationenfragen der Demokratie in der Polykrise zuwendet.

16:30
How Dealing with Crises? Gerichtliche Entscheidungen unter Unsicherheit

ABSTRACT. Krisenzeiten sind Zeiten der Unsicherheit. Welche Strategien wählen Gerichte, um diese Unsicherheit zu bewältigen? Anhand der Rechtsprechungspraxis des BVerfG können unterschiedliche Vorgehensweisen identifiziert werden:

- Eine traditionelle Strategie ist, dass die Richter:innen dem Gesetzgeber üblicherweise einen relativ großen Einschätzungsspielraum zubilligen. Diese Praxis hält nicht nur Gestaltungsspielräume für politische Akteure offen, weil Politikbereiche nicht vollständig ‚durchjuridifiziert‘ werden. Die politische Einschätzungsprärogative erlaubt es, dieses gegebenenfalls inhaltlich zu kritisieren, ohne diese als verfassungswidrig verwerfen zu müssen.

- Dagegen handelte das BVerfG bei seinen Entscheidungen zur europäischen Staatsschuldenkrise eher prospektiv und gab vor, dass es auch in Krisensituationen geboten ist, bestimmte (parlamentarische) Verfahrensschritte zwingend durchzuführen. Dies kann als der Versuch einer Bewältigung des Problems des Krisenmanagements durch Formale Prozeduralisierung interpretiert werden.

- Eine weitere Option des Umgangs mit Unsicherheit besteht – gerade angesichts des bestehenden ‚Verfassungsgerichtspositivismus‘ – darin, konkrete Entscheidungen eben nicht allzu ‚dogmatisch‘ zu treffen, um zukünftige Gestaltungsmöglichkeiten offenzuhalten.

- Nur selten flüchtet sich das BVerfG in Entscheidungsverweigerung im Sinne einer 'political question doctrine' – und wenn, versucht es dies in der Außendarstellung zu camouflieren.

16:45
When democracy faces judicial activism: reflections on the Brazilian case

ABSTRACT. The Brazilian Supreme Court (STF) has been developing tradition that can be considered as activist, while interpreting fundamental rights, as the cases of the homoafetive partnership, homophobia, campaign financing for women and others show. However, the cases involving Car Wash Operation highlights how dangerous it can be when courts decide to implement their own political agenda (an agenda that may be shared with other political actors, but not with the Constitution). So that courts may not be seen as the saviors of democracy when all other institutions fail. Nonetheless, the situation becomes more blurry when actions taken by the Court that may be considered as going beyond its competences are important for ensuring the proper development of the elections. This was the case of the 2022 Brazilian elections and the strong act of judge Alexandre de Morais when dealing with Bolsonarism and the spread of fake news. Considering this background, this work intends to analyze the adequacy of the decisions taken by Alexandre de Morais (member of the STF and presidente of the Electoral Superior Court) during 2022 elections and, thereby, discuss the limits imposed to courts, specially during crises that may affect the democratic order. It will be argued that such cases, in which the relation between law and politics becomes even closer, courts have a special strong duty to deliver a decision that is integrated to the constitutional narrative that had been developed until that moment.

17:00
Emulated Guardians - Can the Oversight Board and the DSA's out-of-court dispute settlement bodies control platform power?

ABSTRACT. [VORTRAG KANN AUCH AUF DEUTSCH GEHALTEN WERDEN]

How to control the massive administrative-like private governance operations of social media giants? So far, the standard answer was to emulate ideas, control mechanisms, language, and institutions known for controlling public power. Particularly prominent among such seasoned mechanisms are courts or, more generally, adjudicators. Paired with the language of rights and constitutionalism, we recently witnessed the emergence of Emulated Guardians like Meta's Oversight Board or the EU's newly established out-of-court dispute settlement bodies. They will decide cases relevant for millions, perhaps billions of users. However, they do so with limited authority, often lacking democratic underpinning, imbued with US-American and, to a lesser degree, European values. But can novel, emulated adjudicatory guardians effectively remedy rights violations, improve the private governance of platforms, and legitimately control vast power structures?

This project approaches these trends with a three-pronged, interdisciplinary analysis. First, it theorizes that large organizations thrive for socio-political legitimacy and therefore tend to establish PR-savvy, formal structures purporting to protect rights and establish adjudicative control over power. These formal structures emulate adjudicators – but always risk being only ceremonial structures, detached from the organizations' actual practice. Second, the project empirically analyzes the two abovementioned bodies. Based on extensive document review and elite interviews, the research highlights differences and commonalities between these two paradigmatically European, respectively US American approaches. Third, assuming a normative, public law perspective, the project evaluates the two bodies (and the underlying discursive tendency they represent). The evaluation is granular and shows promising signs but severe problems with both bodies. It spans between the two poles of ceremony, i.e., guardians that only appear like controlling and protecting, and control, i.e., guardians that indeed remedy rights and control large power structures. The project concludes that meaningful emulated, adjudicatory control over administrative-like power structures requires authoritative guardians, legitimate and functional rules, and a growing culture of control.

16:15-17:45 Session 5G: General Papers: Grenzziehungen: Raum als Zugangsvoraussetzung
16:15
Grenz-Strafrecht: Kriminologische Perspektiven auf die Zugänge zum europäischen Rechtsraum an den EU-Außengrenzen

ABSTRACT. Das europäische Selbstverständnis ist verankert in einer universalistischen menschenrechtlichen Wertorientierung. Dieses stößt an den Außengrenzen des Kontinents auf europapolitisch mitverursachte Realitäten, in denen Menschenrechtsverletzungen an der Tagesordnung sind. Mitgliedstaatliche Behörden scheinen dabei mitunter aktiv an diesen Rechtsbrüchen beteiligt zu sein – Stichwort „Push Backs“ durch Frontex. Gesteigert wird dieser „Nicht-Zugang“ zu den rechtsstaatlichen Schutzräumen, den die Migranti:innen suchen, durch die Strafverfolgung von NGOs, die Rettungseinsätze fahren. Auch die Migrant:innen selbst werden in verschiedener Weise kriminalisiert. Im Rahmen der Suche um Schutz müssen sie sich zudem vollkommen offenbaren und werden in Datenbanken verewigt. Rechtsschutz ist kaum zugänglich. Der Beitrag will daher zwei zentrale Dynamiken theoretisch beleuchten: Einerseits soll ein Fokus auf Frontex gelegt werden. Das Verhalten der quasi-polizeilichen Organisation erinnert an strukturelle Problemlagen nationaler Polizeibehörden, was den menschenrechtswidrigen Umgang mit gesellschaftlichen Minderheiten betrifft. Es lässt sich fragen, ob die damit gegebenenfalls einhergehende Entrechtung bzw. Rechtsmobilisierungsverhinderung ihrerseits als kriminalisierungswürdige Devianz klassifiziert werden muss. Andererseits – und im Spannungsverhältnis zum Vorgenannten – ist im öffentlichen Diskurs unter Verweis auf die Territorialität von Staaten häufig von „illegaler Migration“ die Rede. In einer solchen Konzeption überschneiden sich Migration und Kriminalität, die Grenze und ihre Kontrolle werden so zur Strafe selbst. Die europäischen Gesellschaften müssen sich vor diesem Hintergrund mit der Janusköpfigkeit ihrer Außengrenzen mit Blick auf den menschenrechtlich gebotenen Zugang zum Recht auseinandersetzen, um ihre Grenze menschenrechtsfreundlicher zu gestalten und deren Charakter als Exklusions- und Strafinstrument zu überwinden.

16:30
Die literarische Verhandlung von Wechselwirkungen urbaner Raumstrukturen und Kriminalität in Cihan Acars Roman „Hawaii“

ABSTRACT. Begriffe wie „No-Go-Areas“ oder „Hochburgen“ finden breite Verwendung in medialen, wie auch wissenschaftlichen Diskursen über Zusammenhänge städtischer Räume und Kriminalität. Solchen gebräuchlichen Stilmitteln liegt eine paradigmatische Hinwendung zum Raum zugrunde, die sowohl in der kriminologischen Ursachen-, als auch Sicherheits- und Präventionsforschung etabliert ist.

Der Vortrag soll in einem ersten Schritt Grundgedanken traditioneller kriminalgeographischer Ansätze, wie der Chicagoer Schule, Defensible Space-Ansatz, Broken Windows-Theorie, sowie kritische Ergänzungen der jüngeren Forschung überblickshaft nachvollziehen. Daran anknüpfend wird zweitens eine transdisziplinäre literaturwissenschaftliche Perspektive eingenommen. Im Sinne der „Law and Literature“-Strömung sollen über die sozialwissenschaftliche Forschung hinausgehende Beobachtungen von Kriminalität, als räumlichem Phänomen ermöglicht werden. Ein rechtssoziologisches Interesse gilt dabei Rechtsempfinden und Rechtskultur.

Gegenstand der Betrachtung ist der Roman „Hawaii“ von Cihan Acar. Mit dem titelgebenden fiktiven Problemviertel in Heilbronn entwirft der Jurist und Schriftsteller eine literarische Studie über die Wechselwirkungen urbaner Raumstrukturen und Kriminalität.

Mittels einer narratologischen Untersuchung wird der Frage nachgegangen, wie und ob die vorgestellten Ansätze der kriminologischen Raumforschung literarisch aufgegriffen, dargestellt und verhandelt werden. Insbesondere die stadträumliche Markierung oder Beeinflussung abweichenden Rechts, im Sinne eines lebenden Rechts, kann in seiner literarischen Äußerungsform rechtssoziologische Beachtung finden.

16:15-17:45 Session 5H: Track 8: Ökologische Irritationen des Rechts
16:15
Nur eine neuartige Ethik kann Mensch und Natur die Zukunft sichern!

ABSTRACT. In vormodernen Zeiten machte es noch keinen Sinn, die Einbettung des Menschen in die Natur zu hinterfragen. Der ganze Lebenszyklus wurde als Kreislauf gedacht. René Descartes ebnete den Weg in die Neuzeit. Er prägte den Dualismus: Geist und Körper sind getrennt. Der Geist beherrscht den Körper. Die Aufklärung verankerte menschliche Existenz in der Vernunft. Der aufkeimende Kapitalismus trieb den Effizienzgedanken an die Spitze. Die Weltwahrnehmung war, wie wir nun erkennen, eine technizistische geworden. Wir, Herrscher der Welt, konnten uns diese untertan machen. Dieses Faktorenbündel hatte eigendynamisch einen eigenen Kosmos geformt und über unsere Lebenswirklichkeit als Interpretationsmaßstab gestülpt.

Nun, im Anthropozän, sind wir mit der Dialektik dieses verinnerlichten Schemas befasst. Unser Effizienzdenken hatte sich verselbstständigt, der Vernunftbindung und Verankerung in Menschenwürde entkleidet. Rücksichtslos haben wir Natur, andere und uns selbst ausgebeutet. Weit über die vertretbaren Grenzen hinaus. Die Zentripetalkräfte dieser Maschinerie drohen uns Menschen wie insbesondere unsere natürlichen Lebensgrundlagen aus der Gleichung hinaus zu schleudern.

Doch wie können wir uns neu erfinden? Nur durch eine neuartige, am Individuum ansetzende warmherzige Ethik. Siehe mein Buch „Umbruch der Zeit“, das 2023 erscheinen wird.

Hubert Niedermayr (Linz), Rechtsanwalt, Unternehmensberater. Promovierter Philosoph und Jurist. Buchautor.

16:30
Posthumanistisches Recht?

ABSTRACT. Philosophische Überlegungen zum Posthumanismus stehen einer anthropozentrischen Rechtsordnung grundsätzlich dimetral entgegen. Es lassen sich jedoch Aufbrüche in verschiedenen Rechtsordnungen aufzeigen, die sich als posthumanistisch deuten lassen und den Weg weisen könnten zu weiteren Entwicklungen zu stärkerer menschlicher Eingebundenheit und Verantwortungsübernahme.

16:45
Ökologische Gewalt: Staat und Bürger*innen in der Klimakrise – Rechtsordnungen als Verfahrensordnungen der Gewalt

ABSTRACT. Die Debatte um Gewalt und Klimawandel hat einen seltsamen blinden Fleck. Viel und intensiv wird diskutiert, ob der Klimawandel zu Gewalt führt oder darüber, ob Klimaschützer*innen Gewalt anwenden (müssen). Ausgeblendet wird die Frage, ob der Klimawandel selbst als von Menschen ausgeübte Gewalt zu verstehen ist, als ökologische Gewalt – die die Lebensgrundlagen der meisten Menschen massiv gefährdet. Ökologische Gewalt als neuer Blick auf das Verhältnis von Gewalt, Klima und Recht behandelt Grundbegriffe des gesellschaftlichen Zusammenlebens: Freiheit, Legitimität des staatlichen (Nicht)Handelns und im Weiteren die Modalitäten von (Staats)Gewalt. Diese speisen sich aus den ihnen zu Grunde liegenden sozio-politischen Leit- und Ordnungsideen, verstanden als Vergegenwärtigung von Werten, Normen und sachlichen Zusammenhängen, eben kulturell gebündelte Ordnungssysteme, welche sich auch als verhaltensstrukturierende Kraft auf institutionelles Handeln auswirken. Die Klimakrise hat zu einem Wandel von eben jenen gesellschaftlichen Leitideen geführt und die Anthropozändiagnose erweist sich als Herausforderung nicht nur für das Recht. Aber erst die analytische Rückkoppelung von empirischen, normativ gehaltvollen Sachverhalten an die sie begründenden, normativen Grundprämissen (Habermas) macht die gesellschaftliche Transformation und ihre rechtsdogmatischen Folgen sichtbar, so wird z.B. das Klimaschutzurteil des BVerfG als critical juncture (Shapiro/Stone Sweet) erkennbar. Es stellt sich die Frage, ob es zukünftig möglich oder sogar notwendig sein wird, staatliches Nichthandeln angesichts des Klimawandels als illegitime (Staats-)Gewalt zu qualifizieren und so der gewaltsame Widerstand gegen dieses Nichthandeln akzeptiert werden müsste?

18:00-19:00 Verleihung „Preis für Recht und Gesellschaft“ an Prof. Dr. Susanne Baer und Prof. Dr. Michelle Cottier (durch Christa-Hoffmann-Riem-Stiftung und Vereinigung für Recht und Gesellschaft)

mit anschließendem Festvortrag von Michelle Cottier zum Thema "Menschenrechte als Orientierung für die rechtliche Lebensformen- und Geschlechterpolitik?"

 

Informationen zum Preis finden Sie hier: https://rechtssoziologie.info/aktivitaeten/preis-fuer-recht-und-gesellschaft/

Location: Aula