BERLIN2015: DIE VERSPRECHUNGEN DES RECHTS DRITTER KONGRESS DER DEUTSCHSPRACHIGEN RECHTSSOZIOLOGIE-VEREINIGUNGEN, 9.-11. SEPTEMBER 2015, HUMBOLDT-UNIVERSITäT ZU BERLIN
PROGRAM FOR WEDNESDAY, SEPTEMBER 9TH
Days:
next day
all days

View: session overviewtalk overview

11:30-13:00 Session 1A: Asyl und Menschenrechte – Versprechungen im Spannungsfeld zwischen universellen Rechten und nationalen Interessen

Track "General Papers". Organisiert von Andrea Fritsche and Julia Dahlvik.

In Hinblick auf die Realisierung des universellen Charakters der Menschenrechte spielt das Institut Asyl eine zentrale Rolle: Hat ein Herkunftsstaat seine menschenrechtlichen Schutz- und Gewährungspflichten verletzt, ist eine uneingeschränkte Gültigkeit bzw. Realisierung der Menschenrechte nur möglich, wenn ein Drittstaat die Ausfallshaftung für die Garantie der Menschenrechte übernimmt. Die Prinzipientrias der Universalität, Interdependenz und Unteilbarkeit der Menschenrechte, deren Begründung aus der Menschenwürde sowie immer weitreichendere rechtlich verbindliche Dokumente (wie die GFK, EMRK oder GRC) machen die Menschenrechte für Nicht-Bürger*innen, allen voran Flüchtlinge, Asylsuchende oder Illegalisierte, zur Versprechung schlechthin. Trotz Leitsätzen wie „Gleiche Rechte für Alle“ und „Alle Menschenrechte für Alle“, wie sie auf der Weltmenschenrechtskonferenz 1993 in Wien formuliert wurden, trans- oder postnationalen Wirklichkeiten, kosmopolitischen Idealen und einer voranschreitenden „Entkoppelung von Grenzen und Territorium“ (Buckel 2013), bleibt der Nationalstaat mit seinem Rechtssystem schlussendlich zentraler Akteur in der tatsächlichen Zuerkennung von Rechten für Nicht-Bürger*innen.

Der Widerspruch zwischen der Souveränität des Nationalstaats und dem universellen Geltungsanspruch der Menschenrechte, der bereits von Hannah Arendt thematisiert und von Benhabib als „konstitutive[s] Dilemma freiheitlicher Demokratien“ benannt wird, wird besonders dann greifbar, wenn es um die Gewährung von Rechten an Nicht-Bürger*innen geht. Antworten auf das Spannungsverhältnis zwischen universellen Rechten und nationalen Interessen finden sich auf der einen Seite über einen verstärkten Appell an ein universelles Menschsein und daraus abgeleitete Rechte, v.a. von Seiten zivilgesellschaftlicher Organisationen, Flüchtlings- und Migrant*innenbewegungen aber auch im Kontext einer menschenrechtlich gerahmten politischen Rhetorik; auf der anderen Seite wird – u.a. mit Bezug auf die notwendige Interessensabwägung aufgrund des relativen Charakters der Menschenrechte – eine ausdifferenzierte Spezialgesetzgebung etabliert, die je nach Flüchtlings*- oder Migrant*innenkategorie stratifizierte Rechte zuerkennt.

In diesem Kontext stellt sich die Session die Frage, was die Versprechungen der Menschenrechte angesichts der sich verändernden Rolle des Nationalstaats für Flüchtlinge und Asylsuchende konkret bedeuten (können). Einerseits soll der Frage nachgegangen werden, wie angesichts der aktuellen Bedingungen Menschenrechte eingeklagt bzw. Forderungen nach Menschenrechten gestellt werden (können) und wie der Umgang mit derartigen Forderungen in der asylrechtlichen Praxis ausschaut. Andererseits soll anhand konkreter Beispiele aus transdisziplinärer Perspektive der Weg menschenrechtlicher Versprechungen nachgezeichnet und in diesem Zusammenhang gefragt werden, wie sich das Spannungsverhältnis zwischen universellen Rechten und nationalen Interessen in konkreten Bereichen mit Flüchtlingen bzw. Asylsuchende manifestiert.

Location: Seminarraum 1.608, Universitätsgebäude am Hegelplatz, Dorotheenstr. 24, 6. OG
11:30
Was ein Asylantrag verspricht… – ein interdisziplinärer Blick auf Bedeutungen des Menschenrechtskonzepts für Asylsuchende

ABSTRACT. Um die Bedeutung, Relevanz und Beanspruchbarkeit der Menschenrechte für Asylsuchende im Spannungsfeld zwischen universellen Rechten und nationalen Interessen diskutieren zu können, ist es hilfreich, Rechte nicht nur als sogenannte legal rights zu betrachten, sondern v.a. deren sozialen und politischen Charakter in den Blick zu nehmen. Zentral ist in diesem Zusammenhang in einem ersten Schritt die Frage, inwiefern und aus welcher Perspektive Asylsuchende angesichts der aktuellen Bedingungen überhaupt als Rechteinhaber*innen bzw. als Anspruchsteller*innen – sogenannte Rights-Claimants – verstanden werden können. Dieser Frage soll mit Bezug auf drei disziplinär unterschiedlich verankerte Zugänge – ausgehend von einer rechtwissenschaftlichen Perspektive über die Diskussion von Arendts Konzept des „Rechts, Rechte zu haben“ bis zu einem sozialkonstruktivistischen Verständnis von Menschenrechten – nachgegangen werden.

Darauf basierend soll, in einem zweiten Schritt, diskutiert werden, was ein derart erweiterter Blick auf menschenrechtliche Forderungen und Versprechungen für den Blick auf die Asylwirklichkeit bedeutet, d.h. konkret wird danach gefragt, welche Wirklichkeitsausschnitte eine empirische (und politische) Praxis in den Blick nehmen müsste, um beurteilen zu können, ob die aktuellen Bedingungen überhaupt die Einforderung menschenrechtlicher Ansprüche ermöglichen bzw. diesen genügen.

Auf der einen Ebene kann so nachgezeichnet werden, wie politisch und gesellschaftlich intendierte Stratifizierungsprozesse Asylsuchende als eine besondere Kategorie an Migrant*innen mit nur begrenzten menschenrechtlichen Ansprüchen etablieren; auf der anderen Ebene wird aber auch gezeigt, dass trotz gesetzlich, politisch und rechtspraktisch eingeschränkten menschenrechtlichen Versprechungen – u.a. aufgrund deren sozialer Konstruiertheit und diskursiven Macht – Menschenrechte und menschenrechtliche Forderungen insbesondere für Nicht-Bürger*innen ein wichtiger Referenzpunkt bleiben.

Grundlage der Überlegungen bildet dabei ein laufendes soziologisches Dissertationsprojekt dass sich über Erzählungen von Asylsuchenden der Frage annähert, inwiefern Asyl als Recht und die Asylbeantragung als Rechteeinforderung verstanden wird. Empirische Erkenntnisse dieser Arbeit finden dabei in den Ausführungen Niederschlag – v.a. in Zusammenhang mit Bedeutungen, die im Asylwesen transportiert werden und entsprechend Auswirkungen auf Subjektpositionen und Handlungsorientierungen der Asylsuchenden haben und damit auch die individuellen und gruppenspezifischen Möglichkeiten im Umgang mit menschenrechtlichen Versprechungen beeinflussen.

11:45
Welche Relevanz hat das Menschenrecht im alltäglichen administrativen Entscheiden über Asyl?
SPEAKER: Julia Dahlvik

ABSTRACT. Während für Jurist/innen das Entscheiden über Asylanträge auf (mehr oder weniger) eindeutigen Rechtsnormen basiert, sind aus Sicht der entscheidenden Praktiker/innen in der Behörde – und auch aus soziologischer Perspektive – auch andere handlungsrelevante Normen identifizierbar. Wenngleich eine inzwischen fast unüberschaubare Vielzahl an nationalen, supranationalen und international rechtlichen Normen die Bearbeitung von Asylanträgen steuert, so sind diese im alltäglichen Handeln der Entscheider/innen kaum sichtbar. Dies ist u.a. auf eine notwendige Komplexitätsreduktion der Aufgabe des Entscheidens zurückzuführen. Auf der Suche nach dem Menschenrecht in der Asylverwaltung stellt sich die Frage, wo Menschenrechte im alltäglichen administrativen Entscheiden über Asyl sichtbar werden? Die hier vorgestellte Untersuchung kommt zu dem Schluss, dass es insbesondere die Interaktionssituation ist, in der sich Asylsuchende/r und Entscheider/in face-to-face begegnen – die sogenannte ‚Einvernahme‘ – , in der asylrelevante menschenrechtliche Regelungen zum Vorschein kommen. An Struktur und Inhalt einer typischen Einvernahme lassen sich sowohl administrative Normen als auch menschenrechtliche Standards deutlich ablesen. Dabei zeigt sich jedoch auch ein Konflikt der zwei unterschiedlichen Logiken, die diese Normen charakterisieren. Derartige Spannungen zwischen nationaler (Restriktion, Sicherheit) und kosmopolitischer (Menschenrechte) Orientierung (Morris 2009) können anhand dieser Interaktionssituation der ‚street-level bureaucracy‘ (Lipsky 2010) analysiert werden. Deutlich wird in der Analyse auch, dass mit den Strategien des Umgangs mit diesen Spannungen diverse Verantwortungsverschiebungen einhergehen. Denn, dass das Entscheiden über Asyl mit Verantwortung verbunden ist, darüber sind sich Entscheider/innen im Klaren. Inwiefern dieses Bewusstsein explizit oder implizit an menschrechtliche Aspekte anknüpft, soll an dieser Stelle ebenfalls diskutiert werden. Dieser Beitrag geht also der Frage nach, wie Menschenrechte auf nationaler Ebene im Kontext der Asylverwaltung realisiert werden, konkret in der Interaktion zwischen Staat/Behörde und Individuum. Die hier besprochenen Ergebnisse basieren auf einer institutionellen Ethnographie (Smith 2006) des österreichischen ehem. Bundesasylamts. (Dahlvik 2014) Die Analyse der sozialen Praktiken und Prozesse in der Bearbeitung von Asylanträgen basiert auf Interviews mit Entscheider/innen, teilnehmender Beobachtung von Einvernahmen mit Asylsuchenden sowie auf der Analyse von Asylakten, die im Rahmen meines Dissertationsprojekts durchgeführt wurden.

12:00
Das Recht auf Information und Partizipation unbegleiteter minderjähriger Asylsuchender auf dem Weg zu ihrem Recht auf Asyl

ABSTRACT. Das Recht verspricht Asylsuchenden im Fall der Verfolgung im Heimatland Schutz in einem anderen Land zu erhalten. Information ist hier eine wesentliche Komponente auf dem Weg zur Rechtserlangung. Sie sollte für die Betroffenen am Anfang jedes Antrags bzw. jedes Verfahrens auf Zuerkennung internationalen Schutzes stehen, so dass die Betroffenen selbstbestimmt teilnehmen können. Die Praxis lehrt anderes, der Großteil der Asylsuchenden begibt sich in ein Verfahren, ohne zu wissen: „was ist Asyl“. Dem rein rechtlich betrachteten Verfahren steht die individuelle Vorstellung gegenüber, für das erfahrene Leid im Heimatland, im Aufnahmeland kompensiert zu werden. Die Erwartung richtet sich an die Menschenrechte, schließlich gibt es das Recht auf Asyl. Den individuellen Vorstellungen kann das proklamierte Recht jedoch nicht in jedem Einzelfall gerecht werden. Die Zuerkennung von internationalem Schutz richtet sich nach klaren Normen und stößt bei den Vorstellungen eines nicht unbeträchtlichen Teils der Schutzsuchenden an Grenzen. Gerade in diesem Zusammenhang ist das Recht auf Information und der in der Praxis beschwerliche Weg der Informationsbeschaffung ein Herausforderung. Asylsuchende befinden sich häufig in einer für sie unverständlichen Situation die sie entmachtet, sie werden zu Objekten des Verfahrens. Für unbegleitet minderjährige Asylsuchende nimmt die Information den Umweg über den/die gesetzliche Vertreter*in, er/sie ist die Schnittstelle zwischen Informationserteilung und –erlangung. Die gesetzliche Vertretung bietet für die unbegleiteten minderjährigen Asylsuchenden den Vorteil, den Verfahrensweg nicht alleine bestreiten zu müssen, nimmt ihnen auf der anderen Seite jedoch auch einen Teil ihrer Entscheidungsfähigkeit. Betrachtet man das Konzept der Vertretung, ist offensichtlich, dass neben dem Recht auf Information das Recht auf Partizipation eine massive Bedeutung hat. Partizipation ist im Asylverfahren in Form einer Pflicht ausgestaltet, das Kind wird zur Mitwirkung am Verfahren angehalten, anderenfalls ist mit negativen Konsequenzen zu rechen. Dieser Pflicht steht das Kinderrecht der Partizipation in allen Angelegenheiten die das Kind betreffen gegenüber. Partizipation, als eines der vier Grundprinzipien der UN Kinderrechtskonvention, gilt es aktiv zu verwirklichen. Der Beitrag erarbeitet in einem ersten Teil die Beantwortung folgender Fragen: Welche Herausforderungen bestehen bei der Informationsbeschaffung für Asylsuchende und unbegleitete minderjährige Asylsuchende im Speziellen? Ist die bestehende rechtliche Beratung im Sinne des Rechts auf Information ausreichend? Der zweite Teil widmet sich Modellen der Partizipation, und der Frage, wie weit haben unbegleitete minderjährige Asylsuchende die Möglichkeit an ihrem Verfahren mitzuwirken? Die Grundlage der Bearbeitung bildet die fachliche Expertise der Autorin als Koordinatorin der Netzwerks der Betreuungsstellen unbegleiteter minderjähriger Asylsuchender in Österreich und wird durch empirische Forschung auf diesem Gebiet ergänzt. Das Ergebnis soll Defizite aufzeigen, Verbesserungsvorschläge bieten und so den Versprechungen des Rechts Rechnung tragen.

12:15
Ein Recht auf Arbeit für Schutzsuchende in Österreich?
SPEAKER: Margit Ammer

ABSTRACT. Der Beitrag untersucht auf Basis einer rechtlichen Analyse die Versprechungen des Menschenrechts auf Arbeit sowie den Zugang von Asylsuchenden zu unselbständiger Arbeit in Österreich. Das Menschenrecht auf Arbeit wird als essentiell für ein Leben in Würde und auch für die Realisierung von verschiedenen anderen Menschenrechten (zB Recht auf einen adäquaten Lebensstandard, Recht auf Privatleben, Recht auf Gesundheit) beschrieben. Schutzsuchende in Österreich sind rechtlichen und faktischen Hindernissen beim Zugang zum Arbeitsmarkt ausgesetzt – unabhängig von der Dauer des Asylverfahrens. Diese Barrieren wirken idR auch im Fall einer Statuszuerkennung lange Zeit negativ nach. Folgende Fragen stellen sich: 1. Dürfen Staaten das Menschenrecht auf Arbeit für Schutzsuchende beschränken? Falls ja wie? 2. Ist die Situation in Österreich konform mit den flüchtlings- und menschenrechtlichen Verpflichtungen? 3. Gibt es Möglichkeiten für Schutzsuchende, das Recht auf Arbeit durchzusetzen? Wenn ja, welche?

11:30-13:00 Session 1B: Recht, Strafe und Journalismus
Location: Seminarraum 1.404, Universitätsgebäude am Hegelplatz, Dorotheenstr. 24, 4. OG
11:30
Paradoxien des Sexualstrafrechts. Zur Revision des Prostitutionsgesetzes

ABSTRACT. Das ordnungsstiftende Potenzial des Rechts macht vor den intimsten Momenten des Alltagslebens bekanntlich nicht halt. Da die Sexualität ebenso sehr ein Terrain sozialer Spielregeln und moralischer Einrahmungen, wie auch ein Bereich autonomer Aushandlungen und subjektiver Interessensartikulationen ist, lassen sich rechtliche Bezugnahmen hier schwerlich pauschalisieren: sie sind bald restriktiver und bald liberalisierender Natur, und überdies sorgt der Einfluss des sozialen Wandels auf die juristische Sphäre für regelmäßige Revisionen. Dennoch weist insbesondere das Sexualstrafrecht verschiedenartige Steuerintentionen und -instrumente auf, die weniger dem Erhalt der sozialen Ordnung als vielmehr der Stabilisierung spezifischer polit-ideologischer Programme zu dienen scheinen. Diesen Eindruck geben nicht allein jüngste Tendenzen der Strafverschärfung und aktuelle Debatten über Gesetzesreformen; Sexualität war in der Rechtsprechung und Rechtschöpfung der Bundesrepublik immer schon ein umkämpftes Diskursfeld, das nie ‚rein juristisch‘ verhandelt wurde. Kaum irgendwo wird moralischer Aktionismus als ‚Motor‘ rechtlicher Veränderung deutlicher als hier. Am Beispiel kontraproduktiver Elemente des Sexualstrafrechts kann folglich demonstriert werden, wie die Versprechungen des Rechts sich in paradoxale Effekte für das gesellschaftliche Zusammenleben zu verwandeln drohen. Dies soll beispielhaft anhand der Neuregelung des Prostitutionsgesetzes (ProstG) dargestellt werden. Begleitet von Änderungen des Strafgesetzbuches, sollte das Gesetz von 2002 an ursprünglich die Rechtswirksamkeit von Vertragsansprüchen festschreiben und eine Grundlage für die soziale und rechtliche Absicherung von Sexarbeiterinnen bieten. Die Kritik über seine Steuerungskraft hat jedoch seit dem Inkrafttreten nicht nachgelassen: Einerseits wird die fehlende Passung an die soziale Wirklichkeit beklagt, andererseits die Legalisierung eines problematischen Handlungsfeldes angekreidet. Dass Reformbedürftigkeit vorliegt, scheint politisch mittlerweile festzustellen – doch welche Konsequenzen ergeben sich dabei aus (rechts-)soziologischer Sicht für die Lebensformen und Identitäten von Prostituierten, ihren Kunden, Bordellbetreibern und anderen Interessengruppen? Und wie stark werden dabei juristische Prozeduren zu moralischen Werkzeugen umfunktioniert? Vor dem Hintergrund rechtssoziologischer, aber auch ethnografischer Forschung soll gezeigt werden, dass die Versprechungen des Rechts bisweilen nicht bis in die empirische Wirklichkeit von Akteuren reichen, sodass sich – wie im Fall des Prostitutionsgesetzes – ein paradoxes Geflecht aus Schutzbestimmungen, Autonomieansprüchen, fehlender Anerkennung und moralischer Direktiven ergibt.

11:45
Feministische Narrative, Glaubwürdigkeit und der Strafprozess
SPEAKER: unknown

ABSTRACT. Zu den zentralen Versprechungen des modernen Rechtsstaats gehören die Objektivität im Verfahren und die Suche nach der objektiven Wahrheit. Diesen Ansprüchen kann er allerdings nicht immer gerecht werden, z.B. wenn eine Strafsache nicht abschließend geklärt werden kann. Der Anforderung des objektiven Beweises in der rechtsstaatlichen Logik folgend muss hier ein Zweifelsfreispruch erfolgen. Doch was, wenn dadurch - wie im Fall von sexueller Gewalt – strukturelle Unterdrückung und Marginalisierung perpetuiert werden?

Schon seit Jahrzehnten macht sich die feministische Theorie narrative Methoden zu Nutze, um mit Erfahrungen zu arbeiten, die nicht dem Mainstream, bzw. nicht der patriarchalen männlichen Norm entsprechen. Diese werden der objektivierten, beweisbaren aufklärerischen „Wahrheit“ gegenüber gestellt, die wie Finley 1989 schreibt, ohnehin nur aus Abstraktionen bestehe, deren Zweck es sei, dahinter stehende Machtgefälle zu verschleiern. Doch kann man – als Feministin, Wissenschafterin und Juristin – den Anspruch auf eine objektive „Wahrheit“ vollständig hinter sich lassen?

Was diese Debatte im Konkreten bedeuten könnte, möchte ich anhand der nie enden wollenden Diskussion um die Glaubwürdigkeit von Opfern sexualisierter Gewalt darstellen. Der Strafprozess nimmt hier eine besondere Rolle ein: der objektiven Wahrheit verpflichtet, versucht sich das Gericht in einem Beweisverfahren, das von vornherein unmöglich ist. In der typischen Situation, in der es sich um einen Vorfall zwischen einem Mann und einer Frau handelt, die verschiedene Versionen der Geschichte erzählen, bei der es keine Zeug_innen gibt, und es auch sonst keine eindeutigen Beweise gibt, kommt es meistens zu einem Freispruch im Zweifel. Denn wie soll man die Schuld des Täters auch objektiv beweisen? Die Wirkung eines solchen Zweifelsfreispruchs entspricht jedoch nicht der Unklarheit der Situation. Dem Täter sowie auch dem Opfer und der Öffentlichkeit wird vielmehr signalisiert: „Es ist nichts passiert. Alles ist in Ordnung.“

Schon lange versuchen Feminist_innen die strukturelle Abwertung von Frauen, in Form des ihnen Nicht-Glaubens, zu bekämpfen. In der feministischen Linken des deutschsprachigen Raums hat sich zu diesem Zweck das – auch intern wild umstrittene – Konzept der Definitionsmacht herausgebildet. Diesem zufolge soll der Betroffenen grundsätzlich – und ohne nachzufragen – ihre Version der Geschichte geglaubt werden. Verlangt wird Parteilichkeit, in manchen Fällen wird schon der Versuch, der Geschichte auf den Grund zu gehen als Schutz des Täters verstanden.

In der daraus resultierenden Diskussion wird des Öfteren mit Prinzipien des Strafprozesses argumentiert. Können bzw. müssen diese hier jedoch überhaupt angewendet werden? In welchem Verhältnis steht die Gewährleistung rechtsstaatlicher Prinzipien zur strukturellen Abwertung von marginalisierten Erfahrungen? Und was bedeutet Parteilichkeit in den Fällen von sexualisierter Gewalt: Die Geschichte des Opfers als „Wahrheit“ anzuerkennen oder das Konzept der objektiven Wahrheit als solches in Frage zu stellen?

In meinem Beitrag möchte ich untersuchen, in welchem Verhältnis die Konzepte feministischer Parteilichkeit und Anerkennung zu den Vorstellungen einer objektiven Wahrheit stehen und wie diese Erkenntnisse strategisch auf den Umgang mit sexualisierter Gewalt umgelegt werden können. Insbesondere möchte ich dabei das Augenmerk auf die Rolle des Strafprozesses legen.

12:00
Kontrolle ist gut, Ressource ist besser? Was sich der Investigativ-Journalismus von sich und vom Recht verspricht
SPEAKER: Marc Mölders

ABSTRACT. Manch ein rechtssoziologischer Ansatz zum sozialen Konstitutionalismus verspricht sich vom Recht nur noch wenig. Waren es vor dreißig Jahren noch vom reflexiven Recht bereitgestellte „integrative Mechanismen für Verfahren und Organisation“ (Teubner & Willke 1984), die eigensinnige Sozialsysteme zu der Einsicht bringen sollten, anderen eine brauchbare Umwelt darzustellen, so finden sich nunmehr andere Druckinstanzen als Reflexionsinitiatoren: „Massive, über Medien weltweit verbreitete Kritik“, von der gar angenommen wird, sie habe sich als weit stärker als die „Instrumente der Staatenwelt“ erwiesen (Teubner 2012).

Schaut man sich etwa veränderte Bankgeheimnis-Regulierungen in der Folge der „Offshore-Leaks“ an, erscheint diese theorieimmanente Wende nur empirisch konsequent. Das längst bekannte Phänomen der Steueroasen schien überhaupt erst regulierbar, als die Enthüllungen des International Consortium of Investigative Journalists (ICIJ) einen öffentlichen Druck plausibilisieren konnten, auf den der bis dahin stets für einen Abbruch sorgende Hinweis auf geltendes Recht (i.e. das je nationale Bankgeheimnis) nicht länger eine Antwort darstellte.

Dass in diesem Beispiel der Investigativ-Journalismus (IJ) eine so prominente Rolle spielt, ist kein Zufall, wird rechtssoziologisch aber kaum zur Kenntnis genommen. IJ versteht sich ohnehin als Vierte Gewalt und hat als Teil der Massenmedien einen guten Zugang zu Instrumenten öffentlichen Drucks. So gefasst, lässt sich der IJ als professionalisierter Geber konstitutioneller Lernanstöße beschreiben und kommt damit der Rolle nahe, die einst das reflexive Recht innehatte.

Dem Vortrag geht es nicht darum, die Steuerungskapazitäten des IJ und des Rechts gegeneinander aufzuwiegen. Vielmehr versucht er Interesse für die Frage zu wecken, wie der IJ seine Steuerungsfähigkeit einschätzt, und was er sich in diesem Zusammenhang vom Recht verspricht.

Die Verbindungen von Recht und IJ sind vielfältig. Offensichtlich bildet Recht einerseits die Rahmenbedingungen des Journalismus (Pressefreiheit, Zeugnisverweigerungsrecht), andererseits ist die Judikative seit jeher ein Kontrollobjekt aus der Sicht des IJ (Justizskandale). Hieran hat auch die Digitalisierung der Medienwelt zunächst nichts verändert. Wohl aber hat diese die Gründung neuer IJ-Organisationen weltweit befördert. Mit der US-amerikanischen ProPublica und dem deutschen Correct!v rücken zwei prominente Beispiele in den empirischen Fokus des Beitrags. Bemerkenswert ist zunächst, wie vergleichsweise nüchtern die eigene Steuerungskapazität eingeschätzt wird. Da es in der Gegenwart schwieriger denn je sei, überhaupt Kausalitäten auszumachen, eint beide der Ansatz, einen Beitrag zur Korrektur (systemischer) Verfehlungen leisten zu wollen.

Dieser Bescheidenheit steht eine Art und Weise des Organisierens von „Druckerzeugnissen“ gegenüber, die für das Tagungsthema aufschlussreich sein dürfte: Um Veränderungsdruck aufzubauen, nutzen sowohl ProPublica als auch Correct!v das Recht als Ressource. Dabei treten durchaus unterschiedliche „Versprechungen vom Recht“ zutage, die wiederum Aufschluss über das jeweilige Veränderungsmodell geben. Sobald Regulierungen beobachtbar werden, die der Korrekturvorstellung ProPublicas entsprechen, werden diese gezielt als zu wählende und machbare Variation promoviert; die Regulierung von Fracking in verschiedenen US-Bundesstaaten illustriert dies. Correct!v zeichnet ein Stufenmodell aus: Informationen zu liefern, mit denen Rezipienten dann Veränderungen anstoßen und Fehlentwicklungen korrigieren können. Hierzu veranstaltet man etwa (mit der bpb) Workshops zum Thema „Behörden zur Auskunft zwingen.“

So sind sich Theorie und Praxis offenbar einig, sich von klaren Anstoß-Kausalitäten zu verabschieden. Für die Rechtssoziologie könnte daraus folgen, sich eher für die Korrekturkonstruktionen selbst zu interessieren. An den Versprechungen des Rechts hat die Praxis scheinbar weniger Zweifel als die Theorie.

11:30-13:00 Session 1C: Soziale Ungleichheit und Konstitutionalisierung: konzeptuelle Debatten

Track "Soziale Ungleichheit". Organisiert von Sergio Costa und Kolja Möller.

Location: Seminarraum 1.308, Universitätsgebäude am Hegelplatz, Dorotheenstr. 24, 3. OG
11:30
Gegen Gleichheit - mit Yanis Varoufakis
SPEAKER: Tim Wihl

ABSTRACT. Yanis Varoufakis ist nicht nur griechischer Finanzminister, sondern auch ein nicht unbedeutender politischer Ökonom. 2002 veröffentlichte er einen Artikel unter dem erstaunlichen Titel "Against Equality". Darin greift er originär konservative ökonomische Argumente auf, um die dominierende Spielart des linksliberalen ökonomischen Denkens anzugreifen, die sich - bewusst oder auch unbewusst - an John Rawls orientiert. Interessanterweise nimmt er damit eine entscheidende Weichenstellung für die politische Theorie und Praxis der Gegenwart vorweg: Sollen beide, einerseits, sich der flüchtigen Idee von "Chancengleichheit" fügen? Sollen wir, andererseits, weiter an ökonomische Ungleichheit als Anreizsystem glauben? Lassen wir unsere sozialtheoretische Phantasie also vom Denken von ökonomischen ERGEBNISSEN her - wie egalitär auch immer - beherrschen? In meinem Vortrag möchte ich veranschaulichen, dass das Recht - mit Varoufakis - mehr für soziale Gleichheit bewirken kann, als Steuerungspessimisten annehmen: und zwar gerade weil das Recht in großen Teilen wie auch tiefenstrukturell nicht am Ergebnis, sondern am VOLLZUG ökonomischer Prozesse ansetzt.

11:45
Die Globale Konstitutionalisierung der Menschenrechte: Überwindung persistenter Ungerechtigkeiten oder Verrechtlichung tradierter Asymmetrien?
SPEAKER: unknown

ABSTRACT. Die Grenzen des auf den Westfalen-Vertrag zurückgehenden Völkerrechts, internationale Konflikte nach der Debakel der pax americana zu regulieren, sind allgemein bekannt. Unterschiedliche Vorschläge und Programme sind auch entstanden, um die Unzulänglichkeiten des Völkerrechts zu korrigieren. Dieses Papier beschäftigt sich mit einem dieser Ansätze: der neo-kantische Globale Konstitutionalismus, wie im Spätwerk des deutschen Sozialphilosophen Jürgen Habermas veranschaulicht wird. Dementsprechend entwickeln Rechtswissenschaftler_innen und Politolog_innen in Westeuropa und Nordamerika eine Reihe von Vorschlägen, die zwar intern heterogen sind, aber die insgesamt ein Reformprogramm des Völkerrechts im Sinne der Durchsetzung und Gewährleistung der Menschenrechte weltweit ausmacht. Der vorliegende Beitrag vertritt die Position, dass der Globale Konstitutionalismus trotz seiner undiskutablen Verdienste erhebliche theoretische und empirische Defizite aufweist. Dies betriff vor allem zwei Bereiche: die Bestimmung seiner Quellen und die unzureichende Bewertung seiner sozialen Auswirkungen. Um diese Kritik zu entwickeln, geht der Beitrag von einem konkreten Fall aus, in dem die globalen Konstitutionalisierung der Menschenrechte ein relativ fortgeschrittenes Stadium erreicht hat: die kulturellen Gruppenrechte von Minderheiten. Der Beitrag setzt damit sowohl analytisch-theoretisch auseinander als auch durch zwei exemplarische Fälle. Es handelt sich dabei um die Entscheidungen des Interamerikanischen Gerichtshofs für Menschenrechte in Bezug auf die Maroon-Völker in Suriname und die rechtliche Anerkennung „traditioneller“ Territorien afro-amerikanischer Gruppen in Brasilien.

12:00
Das gebrochene Versprechen der Verfassung: kollektive Selbstbestimmung in Zeiten transnationaler Verteilungskonflikte

ABSTRACT. Eine der zentralen Versprechungen des Rechts in demokratischen Verfassungsordnungen ist, dass die Verfassung die Lösung von Verteilungskonflikten in Prozessen kollektiver Selbstbestimmung gewährleistet. Aufgrund der transnationalen Dimension gegenwärtiger Verteilungskonflikte in Europa ist dieses Versprechen nur noch schwer einzuhalten. Diese Konflikte sind angesichts der Interdependenzen zwischen den nationalstaatlichen Ökonomien in der EU kein Phänomen, das sich mit der nationalstaatlichen Matrix des Verfassungsrechts einfangen lässt. Einerseits lassen sich die Folgen demokratischer Entscheidungen nicht auf die Ökonomie eines Mitgliedstaats beschränken. Andererseits ist die Gestaltungsmacht nationaler Entscheidungsträger durch ökonomische Interdependenzen, internationale Organisationen und private Akteure eingeschränkt. So entstehen grenzüberschreitende Verteilungskonflikte, die die hergebrachten Strukturen kollektiver Selbstbestimmung herausfordern. In dieser Konstellation ist es die Leistungsfähigkeit nationaler Verfassungen, die in Frage steht. Dies zeigt sich in der Rechtsprechung europäischer Verfassungsgerichte zu den Maßnahmen im Zuge der Euro-Rettung und den Folgen der Austeritätspolitik. Ein Vergleich der Rechtsprechung des deutschen, spanischen und portugiesischen Verfassungsgerichts dokumentiert dies. In allen drei Verfassungsordnungen geht es darum, Handlungsspielräume für die nationalen Gesetzgeber zu sichern, sei es durch die Betonung der Identität der nationalen Verfassung und des Grundsatzes der nationalen Selbstbestimmung, den Rückgriff auf soziale Rechte oder Argumente der Gewaltenteilung. Eine Analyse der Entscheidungen dieser Gerichte zeigt, dass das Phänomen sozialer Ungleichheit letztlich nur als Problem der vertikalen Hierarchie zwischen nationaler und supranationaler Rechtsordnung oder als Problem nationaler Gewaltenteilung wahrgenommen wird. Dadurch verkennen nationale Verfassungsgerichte den transnationalen Charakter der gegenwärtigen Verteilungskonflikte in Europa. Sie entwickeln weder Methoden noch eine Sprache, die es möglich macht, eine Perspektive transnationaler europäischer Solidarität zu entwickeln. Zwar sehen die Verfassungsgerichte das Problem mangelnder politischer Inklusion, das sich aus der transnationalen Dimension der Verteilungskonflikte ergibt. Auf der Basis nationalen Verfassungsrechts können sie diese politische Inklusion aber nicht länger gewährleisten. Verfassungsgerichte suggerieren, dass sie Prozesse kollektiver Selbstbestimmung auf nationaler Ebene effektiv schützen können, unterschlagen dabei aber die Grenzen der nationalen Handlungsoptionen im Angesicht transnationaler ökonomischer Interdependenzen. Zudem sind sie strukturell blind dafür, dass im Kontext transnationaler sozialer Ungleichheit die Sicherung demokratischer Entscheidungsspielräume in einem Mitgliedstaat zu Lasten der demokratischen Entscheidungsspielräume in einem anderen Mitgliedstaat gehen kann: Behält der Deutsche Bundestag die Freiheit, die Zahlung von Finanzhilfen an die Erfüllung bestimmter Konditionalitäten zu knüpfen, beschränken diese die demokratischen Entscheidungsprozesse in den Nehmer-Mitgliedstaaten. Nationale Verfassungsgerichte sind in der Währungs- und Finanzkrise für viele Akteure zu einem Hoffnungsträger geworden, der die politischen Spielräume sichern soll, die durch die neuen intergouvernementalen Strukturen auf europäischer Ebene verloren gegangen sind. Sie können diese Hoffnung allerdings mit dem hergebrachten verfassungsrechtlichen Instrumentarium kaum erfüllen. Der Beitrag arbeitet die bestehenden Hindernisse anhand einer rechtsvergleichenden Analyse heraus und legt dar, dass es einer horizontalen Öffnung des nationalen Verfassungsrechts bedarf, um das Problem der politischen Inklusion angesichts transnationaler Ungleichheitskonflikte zu lösen. Hierfür sollen methodische Vorschläge der horizontalen Folgenabschätzung und strukturellen Kooperation skizziert werden.

11:30-13:00 Session 1D: Reichweite und Grenzen von Transitional Justice Prozessen: Utopie der Moral oder Kalkül der Macht?

Track "Transitional Justice". Organisiert von Fatima Kastner.

Zu den zentralen Versprechen von Transitional Justice für Postkonfliktgesellschaften nach Krieg, Gewalt und systematischer Repression gehören Gerechtigkeit, Wiedergutmachung und Versöhnung. In der Session werden Reichweite und Grenzen der Aufarbeitung massiver Gewaltverbrechen durch Transitional Justice Mechanismen diskutiert. Diese können von internationalen und hybriden Strafgerichtshöfen, über Wahrheits- und Versöhnungskommissionen bis hin zu traditionellen Formen der Unrechtsbewältigung reichen. Inwieweit diese unterschiedlichen Unrechtsbewältigungsmechanismen makrokriminellen Unrechts jeweils zur Aufarbeitung vergangener Menschenrechtsverletzungen, der Friedenskonsolidierung, dem Wiederaufbau politischer und rechtlicher Institutionen wie auch zur Prävention weiterer systematischer Gewaltverbrechen in Übergangsgesellschaften beitragen können wird kritisch beleuchtet. Zudem diskutieren die Beiträge aus rechtspolitischer, gendertheoretischer und rechtssoziologischer Perspektive die Herstellung von Akzeptanz als Problem von Strafgerichtsverfahren, Geschlechtergerechtigkeit und die lokale Politisierung universaler Normen im Kontext von Transitional Justice Prozessen.

Location: Seminarraum 1.502, Universitätsgebäude am Hegelplatz, Dorotheenstr. 24, 5. OG
11:30
Akzeptanzbeschaffung als Problem von Strafgerichtsverfahren im Kontext von Transitional Justice

ABSTRACT. Seit den 1990er Jahren können Täter von Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen zunehmend vor einer internationalen Strafgerichtsbarkeit zur Verantworten gezogen werden. Damit wird auf das Problem Bezug genommen, dass es nationalen Strafgerichten in vielen Fällen nicht zu gelingen scheint, schwere Menschenrechtsverletzungen zu verfolgen. Insbesondere mit dem im Jahr 2002 in Kraft getretenen Statut zur Errichtung des Ständigen Internationalen Strafgerichtshofs kommt das Ziel zum Ausdruck, der weit verbreiteten Straflosigkeit von Menschenrechtsverletzungen ein Ende setzen zu können. In die Rechtsprechung im Nachgang massiver Gewalt werden von den Befürwortern der Strafrechtsverfolgung große Hoffnungen gesetzte. So wird die Rechtsprechung neben der Schaffung von Gerechtigkeit etwa auch mit Friedenskonsolidierung, Aufbau von Vertrauen in staatliche Strukturen oder die Unterstützung der Etablierung des Rechtstaats verbunden.

Ein Blick in die Auseinandersetzungen mit der Strafverfolgung als Instrument zur Aufarbeitung schwerer Menschenrechtsverletzung führt direkt auch die Zweifel an der friedensstabilisierenden Wirkung retributiver Gerechtigkeitsvorstellungen vor Augen. Zahlreiche Autoren diskutieren die damit verbundenen Intentionen und Hoffnung und weisen auf Probleme und Grenzen von Gerichtsverfahren als Versöhnungs- und Befriedungsinstrument nach Massengewalt hin. Die Kritik bezieht sich dabei insbesondere auf die Beobachtungen, dass unter „verschärften“ Konfliktbedingungen und fragilen politischen Verhältnissen die Gefahr der Politisierung des Rechts besteht. Führen die im Anschluss daran entstandenen Enttäuschungen und Unrechtsempfindungen zur Mobilisierung von Protest, kann eine erneute Konflikteskalation die Folge sein.

Dieses Problem in den Blick nehmend, wird sich der Vortrag der Frage widmen, warum Strafgerichtsverfahren ein problematisches Instrument von Transitional Justice in Postkonfliktstaaten darstellen. Hierfür werden die legitimationsstiftenden Verfahrensmerkmale gerichtlicher Entscheidungsfindung betrachtet und danach befragt, inwiefern diese unter der Bedingung von Konfliktgeneralisierung und fragiler Staatlichkeit beeinträchtigt werden. Insbesondere wird diskutiert werden, inwiefern die Probleme der Rechtsprechung auftreten, die die Verfahrensmerkmale der Ergebnisoffenheit, der richterlichen Unabhängigkeit und der Abschottung des Gerichtsverfahrens gegenüber Außeneinflüssen betreffen.

Um dies zu verdeutlichen wird unter anderem argumentiert werden, dass sowohl nationale als auch internationale Tribunale Gefahr laufen, von Einschränkungen dieser funktionalen Erfordernisse zur Akzeptanzbeschaffung betroffen zu sein. So ist etwa nach gewaltsamen Auseinandersetzungen zu beobachten, dass es im Laufe von Gerichtsverfahren nicht gelingt, Ergebnisoffenheit zu demonstrieren, weil die Anklage schon als Indiz für die Schuld des Beklagten gewertet wird. Dem Umstand, dass eine Politisierung des Rechts eine überzeugende Darstellung von Ergebnisoffenheit und richterlicher Neutralität beinträchtigen kann, soll mit dem Einsatz internationaler Strafgerichte begegnet werden. Bei Internationalen Tribunalen kann jedoch das Problem auftreten, dass sie die Darstellbarkeit richterlicher Unabhängigkeit durch eine Erwartungsüberlastung an den Richterspruch eingebüßt wird. Werden sich von der strafrechtlichen Aufarbeitung von Menschenrechtverletzungen weitreichende Folgewirkungen versprochen – wie etwa die Stärkung von Rechtsstaatlichkeit, Prävention weiterer Gewaltverbrechen, Stärkung des Bewusstseins für Menschenrechte oder Friedensaufbau – wird das Recht mit nicht zu erfüllenden Erwartungen überfordert und der Richter mit der Bürde belastet, die Folgewirkungen seiner Entscheidungen in den Blick zu nehmen. Die Unparteilichkeit des Richters steht unter diesen Erwartungshaltungen auf dem Spiel.

11:45
Geschlechtergerechtigkeit in Transitionsgesellschaften: (Ambivalente) Versprechen des Völkerstrafrechts

ABSTRACT. Die Bewältigung makrokrimineller Straftaten stellt für viele Transitionsgesellschaften eine große Herausforderung dar. Wiedergutmachungs- und Reintegrationleistungen für Betroffene, insbesondere für Leidtragende von Formen sexualisierter Gewalt, bleiben vielfach aus. Das ist umso bedauerlicher als nicht nur die Notwendigkeit der gesellschaftlichen Reintegrationen sowie des Aufbaus politischer und rechtlicher Institutionen besteht, sondern auch die Notwendigkeit von Versöhnung und Wiedergutmachung. In vielen Postkonfliktgesellschaften wiegt allerdings aus der Betroffenenperspektive besonders schwer, dass der individuellen Verletzungserfahrung ein weitgehend unzureichender Rechtsschutz, fehlende Sicherheit und mangelnde Teilhabe auf Seiten der Opfer gegenübersteht, sondern auch eine Kultur der Straflosigkeit der Täter_innen. Solange der Unrechtscharakter von Gewalthandlungen nicht deutlich herausgestellt wird, solange weder die Täter_innen zur Rechenschaft gezogen werden noch die Funktionsträger_innen Verantwortung übernehmen, wirkt für die Betroffenen das vergangene Unrecht auch in der Gegenwart fort. In unserem Vortrag richten wir den Fokus auf Phänomene sexualisierter Gewalt in Konfliktzusammenhängen und formulieren unter Berücksichtigung von Studien zu ausgewählten Postkonflikt- und Transformationsgesellschaften die These, dass die Bewältigung historischen Unrechts eine umso größere Chance erhält, je besser die sozialen und politischen Maßnahmen zur Aufarbeitung von humanitären Völkerrechts- und Menschenrechtsverletzungen mit der juristischen Ahndung von Täter_innen verbunden werden. Unser Augenmerk richtet sich dabei vor allem auf die Rolle der Internationalen Strafgerichtsbarkeit, die in Bezug auf den individuellen Rechtsschutz eine entscheidende Hoffnungsträgerin darstellt. Unser durchaus optimistisches Fazit fällt gleichwohl mit Blick auf die tatsächliche Urteilspraxis verhalten aus, denn insbesondere in einer gendertheoretischen Perspektive lässt sich zeigen, dass die Möglichkeiten der Unrechtsbewältigung mithilfe des Völkerstrafrechts ambivalent ausfallen: Das Potential, vormals bestehende oder auch re-etablierte Genderhierarchien zu vermeiden und zur Gendergerechtigkeit beizutragen, bleibt weitgehend unausgeschöpft. Auch klammern verzerrende Vorannahmen über Opferrollen und sexualisierte Gewalttatbestände all jene Gewalttaten aus, die strukturellen und kontextuellen Charakter haben, insbesondere wenn der Fokus auf ‚grobe‘ bzw. ‚massive‘ Menschenrechtsverletzungen liegt. Vielfältige Formen der Präjudizierung von Betroffenenperspektiven verhindern eine betroffenen- und gendersensible Anerkennung von Verletzungserfahrungen, und damit die Aufdeckung über die geschlechtskonnotierten und strukturellen Zusammenhänge von Makrokriminalität. Zudem führen Präjudizierung dazu, dass Opfernarrationen vorstrukturiert und entsprechend für hegemoniale Diskurse zugeschnitten werden können. Vor diesem Hintergrund zeigen wir in unserem Vortrag auf, dass sich die umfänglichen Hoffnungen, die sich auf die strafrechtliche Sanktionierung und rechtliche Entschädigung der Betroffenen beziehen, bislang nicht erfüllt haben – sei es mit Blick auf (1) die rechtsdogmatische Verankerung von individuellen Rechtschutzinteressen, (2) mit Blick auf die ressourcen- und kapazitätsbezogenen Umsetzungsdefizite, (3) die fehlenden Kooperationsbeziehungen zwischen unterschiedlichen institutionellen Ebenen oder (4) mit Blick auf mangelnde Normbefolgung. In diesem Zusammenhang stehen einerseits praktische Probleme und Verfahrensmängel und andererseits strukturelle Defizite des Völkerstrafrechts im Fokus unserer Betrachtung, was es ermöglicht, (5) darzulegen, dass die die Internationale Strafgerichtsbarkeit systematisch überfordert wird, was ein Stück weit der Strukturvergessenheit der in sie gesetzten Hoffnungen geschuldet ist.

12:00
Lokale Politisierung universaler Normen: Zur Emergenz eines globalen Rechtsregimes von Transitional Justice in der Weltgesellschaft

ABSTRACT. Seit Mitte der 1980er Jahre rekurrieren weltweit Gesellschaften, die sich mit ihrer blutigen Vergangenheit konfrontiert sehen, auf das Konfliktlösungskonzept von Transitional Justice, etwa indem sie internationale oder hybride Ad-hoc Tribunale, oder Wahrheits- und Versöhnungskommissionen einsetzten. Dieses neuartige Phänomen der Globalisierung von Transitional Justice untersucht der Beitrag, indem er der Frage nachgeht wie sich diese transkulturelle Ausbreitung vergangenheitspolitischer Normen, Standards und Institutionen der Übergangsgerechtigkeit erklären lässt? Im Anschluss an Überlegungen zu einer Theorie der Weltgesellschaft und Weltkultur werden die lokalen Politisierungsformen wie auch die weltgesellschaftliche Funktion herausgearbeitet, die zur Ausdifferenzierung und Konstitutionalisierung von Transitional Justice zu einem globalen Rechtsregime in der Weltgesellschaft geführt haben.

11:30-13:00 Session 1E: Abstammung und Elternschaft im Umbruch

Track "Lebensformen und Identitäten". Organisiert von Michelle Cottier und Elisabeth Holzleithner.

Location: Seminarraum 1.601, Universitätsgebäude am Hegelplatz, Dorotheenstr. 24, 6. OG
11:30
boys will be boys: Männlichkeit - Vaterschaft - Recht

ABSTRACT. In welchem Verhältnis stehen rechtliche Regelungen über die Ermöglichung und Förderung von Väterbeteiligung an der Erziehungsarbeit zu herrschenden Vorstellungen über Männlichkeit? Das Recht ist an der Konstruktion von Geschlecht ebenso beteiligt, wie es dadurch beeinflusst wird, dass diese Aussage auch Männlichkeiten mit einschließt, ist in den Legal Gender Studies im deutschsprachigen Raum allerdings noch wenig verankert. Der Diskurs über Vaterschaft wird von reaktionären Väterrechtsbewegungen dominiert, denen feministische Rechtskritik und kritische Männerforschung das Feld nicht überlassen sollten. Ein Verständnis von Geschlecht, das die (Re-)Produktion eines binären Geschlechterverhältnisses und deren Zusammenhang mit Heteronormativität als wesentlich versteht, muss die Konstruktion von Männlichkeit miteinbeziehen.

Seit 1990 ist es Männern ist Österreich rechtlich ermöglicht, in Elternkarenz zu gehen. Seit 1. Jänner 2011 haben öffentlich Bedienstete, seit 2014 auch Vertragsbedienstete, die Möglichkeit eine Väterfrühkarenz, besser bekannt als „Papa-Monat“, in Anspruch zu nehmen. Eine Ausdehnung auf die Privatwirtschaft wird von Seiten des Frauenministeriums angestrebt. Der „Papa-Monat“ ist an den Zeitraum des Mutterschutzes gebunden und soll jungen Eltern die Möglichkeit geben, sich einem Kindes in seinem ersten Lebensjahr gemeinsam zu widmen. Wie die rechtliche Legitimation gleichgeschlechtlicher Elternschaft sich auf die geltende Rechtslage auswirkt, die bislang stark an heteronormative Familienkonzepte anknüpft, wird sich zeigen. Im Gegensatz zum Mutterschutz ist die Väterfrühkarenz nicht verpflichtend, ihre Inanspruchnahme also den jeweiligen Eltern überlassen.

Das Recht verspricht durch solche Regelungen die Beteiligung von Männern an Erziehungsarbeit zu fördern, es verspricht die Veränderung einer sozialen Realität. Inwiefern kann das Recht auf solche Veränderungen hinwirken? Müssen rechtliche Maßnahmen mit diskursiven Verschiebungen Hand in Hand gehen, um etwas zu bewegen? Hartnäckig hält sich der Männeranteil unter den Karenzbezieher_innen unter zehn Prozent. Dieser Umstand ist herrschenden Männlichkeitsbildern geschuldet, die eine Verknüpfung von Fürsorge und Männlichkeit unvereinbar erscheinen lassen. Durch eine binäre Konzeption von Geschlecht, die Mann und Frau als komplementäre Pole begreift, wird das Zusammendenken von Männlichkeit mit weiblich assoziierten Arbeiten erschwert. Zudem impliziert hegemoniale Männlichkeit Dominanz, sie unterdrückt Weiblichkeit, ebenso wie marginalisierte Formen von männlichen Identitäten. Diese Hierarchisierung schließt die Gleichwertigkeit geschlechtlich konnotierter Arbeiten ebenso wie die gerechte Aufteilung von Aufgaben in einer Partner_innenschaft aus.

Das Recht bietet eine wesentliche Grundlage für die Gestaltung von Lebensformen, in denen neue männliche Identitäten entworfen und gelebt werden können. Im Ringen um gesellschaftliche Hegemonie ist das Recht eine wichtige Ebene der Auseinandersetzung, es ist ihm an der Herstellung von Konsens ebenso gelegen, wie es mit Zwang durchsetzbar ist. Die rechtliche Ermöglichung von Väterbeteiligung ist allerdings nicht mit Zwang ausgestattet, mit ihrer Umsetzung muss demnach umso mehr eine (Neu-)Verhandlung von Männlichkeit einhergehen, die aktive Vaterschaft an sich denkmöglich macht.

11:45
Verfassungsrechtliche Rahmung und Realbereich der Ansprüche auf Kenntnis der Abstammung

ABSTRACT. Der verfassungsrechtliche Schutz des Wissens sowohl um die eigene Abstammung als auch um die eines Kindes berührt Grundfragen der biologischen Elternschaft und auf sie bezogene gesellschaftliche Ordnungsvorstellungen. Begründet wurde das Grundrecht auf Kenntnis der Abstammung als Recht des Kindes im Verhältnis zu den Eltern und verankert im allgemeinen Persönlichkeitsrecht. Mittlerweile besteht es einfachrechtlich als grundsätzliches Recht des (potentiellen) biologischen Vaters zur Anfechtung der rechtlichen Vaterschaft nach § 1600 Abs. 1 Nr. 2 BGB und – auch durch die Judikatur des EGMR befördert – nach § 1686a BGB als grundsätzlicher Auskunftsanspruch des biologischen Vaters. Einen richterrechtlich begründeten Anspruch des Scheinvaters auf Auskunft gegen die Mutter des Kindes auf Offenbarung des biologischen Vaters (als Schuldner eines Unterhaltsregresses) hat das BVerfG jüngst abgelehnt, eine Gestaltungsbefugnis des Gesetzgebers zur Regelung dieses Anspruchs nicht von der Hand gewiesen und eine Schutzpflicht zugunsten des Scheinvaters verneint. Insgesamt fällt die grundrechtliche Verortung des Anspruchs auf Kenntnis der Abstammung nicht so eindeutig aus wie für die Kenntnis der eigenen biologischen Herkunft. Der fortlaufende medizinische Fortschritt verändert den Realbereich der einschlägigen Grundrechte. Einerseits steigen die Möglichkeiten und sinken die medizinischen, ökonomischen, möglicherweise auch ethischen und rechtlichen Hürden für den Abstammungsnachweis. Andererseits werden die Konturen des Abstammungsbegriffs aufgrund des biomedizinischen, insbesondere biogenetischen Fortschritts unschärfer – zuletzt sogar bei der bislang als „sicher“ geltenden biologischen Mutter. Die Schutzfunktionen der Grundrechte auf Abstammungswissen sowie die an die Abstammung geknüpften (z.B. unterhalts-, erb- und staatsangehörigkeits-, neuerdings auch umgangsrechtlichen) Rechtsfolgen der Feststellung biologischer Elternschaft müssen mit solchen Realitäten abgeglichen werden. Der Beitrag möchte Grundlinien der jüngeren verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung zum Recht auf Wissen um die Abstammung nachzeichnen und die darin zutage tretenden grundlegenden Ordnungsvorstellungen analysieren. Schon heute steht fest, dass der verfassungsrechtliche Schutz des Wissens um Abstammung nicht immer gleich gelagert und gewichtet ist. Legitimität und Effektivität des verfassungsrechtlichen Schutzes werden zum einen durch die Lebensumstände und Gründe bestimmt, in denen und deretwegen Wissen begehrt wird, zum anderen durch Grundrechtspositionen, die – wie der Schutz der Diskretion in Bezug auf die eigene Lebensführung oder das Recht auf Unkenntnis der eigenen Abstammung – mit diesem Begehren in Ausgleich gebracht werden müssen. Zu prüfen sind auch die rechtlichen Folgen und sonstigen „Kosten“ eines Rechts auf Auskunft bzw. einer Kenntnis der Abstammungsverhältnisse angesichts sich verändernder Realbedingungen. Dem Verhältnis von biologischer und sozialer Elternschaft auf kommt dabei besondere Bedeutung zu.

12:00
Leihmutterschaft in Indien. Kontext, Diskurs und Praxis: Ein Werkstattbericht

ABSTRACT. Kritikerinnen und Kritiker der globalen Reproduktionsmedizin bedienen sich vor allem eines Szenarios, um die ethische Fragwürdigkeit, rechtliche Problematik und politische Unerwünschtheit dieser Entwicklungen und Praktiken zu veranschaulichen: Ein vermögendes Paar fortgeschrittenen Alters aus Europa bedient sich fremder Keimzellen und einer in Armut lebenden indischen Leihmutter, um seinen Kinderwunsch nach erfolgter Berufskarriere doch noch zu verwirklichen. Das im öffentlichen Diskurs stark präsente Beispiel wirft zahlreiche Fragen auf: Wer urteilt über wen? Was ist unethisch: das Verhalten des Paares aus Europa oder dasjenige der indischen Leihmutter oder beide? Und weshalb genau? Ändert sich an dieser Wertung etwas, je nachdem, ob man für die Leistung bezahlt oder nicht? Ist Leihmutterschaft ganz grundsätzlich moralisch verwerflich oder nur in einem Kontext wie Indien? Und wie wird das Verhältnis von Armut und Selbstbestimmung der Leihmutter imaginiert und diskutiert? Ich war im Winter 2015 zwei Monate in Indien und Gast an einer Klinik für Reproduktionsmedizin mit Sitz in Kochi und Bangalore. Ich habe mit Ärztinnen, dem Pflegepersonal und den Leihmüttern gesprochen, die Räumlichkeiten und die medizinische Infrastruktur angeschaut und ganz allgemein versucht, das Phänomen Leihmutterschaft im weiteren rechtlichen, sozialen, kulturellen und wirtschaftlichen Kontext Indiens zu verorten. Es gibt inzwischen umfangreiche ethnographische Forschung über Leihmutterschaft in Indien. Zu den umfassendsten Studien gehört diejenige von Amrita Pande, Wombs in labor - Transnational commercial surrogacy in India, erschienen im Jahr 2014. Ich will diesen Berichten grundsätzlich keinen weiteren anfügen. Und ich will das Gesehene und Gehörte weder durch den deontologischen noch durch den utilitaristischen Ethikfilter bewerten. Der Werkstattbericht will vielmehr erstens den rechtlichen, kulturellen, politischen und wissenschaftlichen Kontext beschreiben, in welchem das Thema und die Praxis der Leihmutterschaft verhandelt wird, und zweitens ein paar Gedanken formulieren, wie das fundamentale Konzept der Selbstbestimmung in diesem Kontext zu verorten und verstehen ist.

12:15
Kindheit, Elternschaft, Familie – Herausforderungen durch die Fortpflanzungsmedizin

ABSTRACT. Die Zeugung als Akt der Liebe, die Schwangerschaft als Zustand guter Hoffnung, die Familie als natürliche Keimzelle des Staates – alle diese Vorstellungen mussten sich schon immer den Vorwurf gefallen lassen, die komplexe soziale Wirklichkeit zu naturalisieren und zu romantisieren. Vollends in Frage gestellt werden sie durch die Möglichkeiten der Fortpflanzungsmedizin: Die Zeugung wird zu einem technischen Produktionsprozess, die Schwangerschaft zum Risikominimierungsprogramm und die Familie zu einer unübersichtlichen Aushandlungsaufgabe zwischen Samenspendern und Wunscheltern, Eizellspenderinnen und Gebärenden, Leihmüttern und Besteller_innen. Das Recht sieht sich mit unterschiedlichen Erwartungen konfrontiert: Neue Fortpflanzungstechniken werden einerseits als Gefahr für die „natürliche“ Lebensform der Familie angesehen und sind dann vom Recht konsequenterweise so restriktiv wie möglich zu behandeln. Reguliert wird in dieser Hinsicht einerseits über Komplettverbote bestimmter reproduktiver Verfahren wie der Leihmutterschaft oder der Eizellspende, andererseits über Zugangsbegrenzungen, etwa für Alleinstehende und gleichgeschlechtliche Lebensgemeinschaften. Dahinter stehen ausgesprochen oder unausgesprochen gesellschaftliche Leitbilder über die „gute Familie“, die „gute Kindheit“ und die besten Voraussetzungen für die Herausbildung einer gesunden Identität. Entgegen dieser begrenzenden und einhegenden Tendenz wird die Reproduktionsmedizin aber auch als Chance gesehen, das tradierte Leitbild der heterosexuellen und leiblich begründeten Familie aufzugeben und Platz zu schaffen für neue Formen sozialen Miteinanders, etwa in gleichgeschlechtlichen Lebensgemeinschaften oder Ein-Eltern-Familien mit ihren „Spenderkindern“. Der technische Fortschritt dient aus dieser Perspektive der Emanzipation gerade der Personen, die bislang wenig Möglichkeiten hatten, ihren Kinderwunsch zu realisieren, und dem Abschied von patriarchalen Familienvorstellungen.

Stärker noch als durch Veränderungen des sozialen Rahmens, in dem Kinder erzeugt und geboren werden, wird die individuelle Identität tangiert, sobald die reproduktionstechnischen Verfahren diagnostischen Zwecken dienen, wie bei den unterschiedlichen Varianten der Präimplantations- und Pränataldiagnostik. Wie verändert sich der Blick auf das Kind und allgemein auf das menschliche Individuum, wenn es bereits im Stadium des Ungeborenseins der kritischen Prüfung auf Krankheit, Behinderung, Geschlecht oder Gewebstypus hin unterworfen ist? Welche Bedeutung haben diese Prozesse auf die Identitätsbildung und die Autonomie des geborenen Kindes? Findet zur Zeit eine „Vermenschlichung“ (Diekämper) oder eine „Entmenschlichung“ (Maio) des Embryos statt? Ist die Möglichkeit der vorgeburtlichen Diagnostik und Auslese als Segen für die schlussendlich geborenen Kinder zu begrüßen (Buchanan) oder als „liberale Eugenik“ (Habermas) zu kritisieren?

In meinem Beitrag möchte ich aktuelle Erwartungen an das Recht im Bereich der Fortpflanzungsmedizin vorstellen und diskutieren. Dabei greife ich auf frühere Überlegungen zur Diversifizierung familiärer Lebensformen (insb. gleichgeschlechtliche Lebensgemeinschaften) zurück und präsentiere erste Ergebnisse aus einem Forschungsprojekt zur rechtlichen Regulierung und ethischen Bewertung vorgeburtlicher Diagnosemethoden. Besonderes Augenmerk möchte ich darauf legen, welchen Leitbildern das Recht zur Zeit im Hinblick auf die kindliche Identitätsentwicklung sowie auf Elternschaft und Familie folgt und wie sich diese Leitbilder durch die Möglichkeiten der Reproduktionsmedizin verändern.

Buchanan, Beyond humanity? The ethics of biomedical enhancement, 2013 Diekämper, Reproduziertes Leben. Biomacht in Zeiten der Präimplantationsdiagnostik, 2011 Habermas, Die Zukunft der menschlichen Natur. Auf dem Weg zu einer liberalen Eugenik? 4. Aufl. 2013 Maio, Abschied von der freudigen Erwartung. Werdende Eltern unter dem wachsenden Druck der vorgeburtlichen Diagnostik, 2013

11:30-13:00 Session 1F: Verrechtlichung, „Subkultur“ und moderne Geschichte von Vermittlungen im Streit (in Deutschland und Österreich)

Track "Vermittlung im Konflikt". Organisiert von Alfons Bora, Justus Heck und Fritz Jost.

Location: Seminarraum 1.405, Universitätsgebäude am Hegelplatz, Dorotheenstr. 24, 4. OG
11:30
Vom Richten zum Schlichten – juristische Entscheidungssysteme im Umbruch? Außergerichtliche Konfliktlösung in Deutschland im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert
SPEAKER: Peter Collin

ABSTRACT. Mit der Verabschiedung der Reichsjustizgesetze von 1877 setzte sich in ganz Deutschland ein etatistisches und zugleich liberales Justizmodell durch. Schrittweise hatte man private oder korporative Gerichtsbarkeiten beseitigt oder auf unwesentliche Restbestände reduziert; Sondergerichtsstände waren aufgehoben worden. Und am Ende einer langen Debatte hatte man sich für ein zivilprozessuales Prozessmodell entschieden, das die Opponenten als freie Marktteilnehmer konzipierte, welchen man die gleiche Fähigkeit zur eigenverantwortlichen und intelligenten Interessenwahrnehmung unterstellte. Denn der Prozess war wesentlich Parteiprozess, in dem ein gehöriger Teil der Prozesshandlungen den Parteien überantwortet war. Der Richter war im Wesentlichen nur für die Entscheidung zuständig; vom paternalistischen Prozessmodell der altpreußischen Allgemeinen Gerichtsordnung hatte man sich verabschiedet. Schon ab den 1880er Jahren allerdings erhob sich heftige Kritik an vielen Aspekten dieses neuen Justizmodells. Es galt als unsozial und weltfremd. Zugleich entwickelten sich neue Formen der Konfliktlösung außerhalb der ordentlichen Gerichtsbarkeit, vor allem in der Wirtschaft und zum Ausgleich sozialpolitischer Konflikte. 1919 konstatierte der Rechtswissenschaftler Justus Wilhelm Hedemann: „… überall sehen wir Einigungsämter, Schlichtungsausschüsse, Schiedskommissionen auftauchen.“ Dieser Entwicklungsstrang der Justizgeschichte ist bisher nur in Ansätzen erforscht worden. Erste Sondierungen zeigen aber schon bestimmte gemeinsame Muster: (1) Der Großteil der Entscheider waren Angehörige der betroffenen sozialen oder wirtschaftlichen Gruppen; der Staat war meist nur über einzelne Repräsentanten oder über einen Vorsitzenden vertreten, der die Verhandlungen leitete. (2) Nur teilweise galten die Entscheidungsvorgaben des staatlichen Rechts. Zum Teil waren diese ersetzt durch Richtlinien, die eine Billigkeitsentscheidung vorschrieben, oder durch spezielle Maßgaben, die stärker auf die normativen Orientierungen der beteiligten Kreise abstellten. (3) Im Vergleich zum normalen Zivilprozess war das Verfahren stark vereinfacht. Hierdurch sollte eine schnellere Entscheidung und eine bessere Partizipation der Betroffenen ermöglicht werden. Konflikte sollten eher durch „Schlichten“ als durch „Richten“ gelöst werden. Der letztgenannte Aspekt soll vertieft behandelt werden. Auf der Grundlage einer Analyse der seinerzeitigen rechtspolitischen Debatten, der rechtlichen Rahmenbedingungen und – soweit quellenmäßig erfassbar – der Praxis dieser Einrichtungen soll exemplarisch veranschaulicht werden, welchen Stellenwert man dem Konfliktregulierungsmodus des Schlichtens einräumte, welche Erwartungen man damit verband und wie sich diese Erwartungen erfüllten. Die Darstellung konzentriert sich dabei auf die arbeitsrechtliche Schlichtung, die Mieteinigungsämter und die Einigungsämter der gemeinsamen Selbstverwaltung der Ärzte und Krankenkassen.

11:45
Generalisierung alternativer Streitbeilegungsformen
SPEAKER: unknown

ABSTRACT. Bereits in den achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts gab es Diskussionen über Alternativen zur richterlichen Streitentscheidung (Prütting JZ 1985, 261 ff.). Den Vorteilen der Verminderung von persönlichem und monetären Aufwand solcher Konfliktlösungen sowie ihres mangels strikter Rechtsbindung erweiterten Lösungspotentials wurden Bedenken entgegengehalten, welche die Wahrung rechtlicher Garantien für den Einzelnen wie die Durchsetzung und Entwicklung des Rechts im Allgemeinen betrafen. Seither sind Schlichtung und Vermittlung weiter rechtlich ausgeformt worden. Dies betrifft Vorkehrungen in einzelnen Gesetzen, durch Institutionen und Leistungsanbieter (als „Gütemerkmal“, s. Jaeger AnwBl. 2014, 518) wie die Einbeziehung einer „Richtermediation“ in den Prozess und die Erfassung der außergerichtlichen Mediation durch ein Spezialgesetz. Die „Verrechtlichung der Alternativen“ zum formal und materiell rechtsorientierten Prozess hat also zugenommen [vgl. Hess ZZP 118 (2005), 427 ff.], wobei dieser normativ und faktisch ohnehin eine deutliche Komponente der „gütlicher Beilegung des Rechtsstreits“ aufweist (Jost Ad legendum 2012, 63 ff.). Jüngst tritt die europarechtliche Vorgabe der alternativen Streitbeilegung in Verbraucherangelegenheiten hinzu [bisher: Referentenentw. eines Gesetzes zur Umsetzung der Rili über alternative Streitbeilegung in Verbraucherangelegenheiten, mit welchem die gegebenen „Schlichtungskultur“ flächendeckend werden soll]. Stimmen, welche sich eine bessere Durchsetzung von Verbraucherrechten sowie die Förderung des europäischen Binnenmarktes erhoffen (Berlin/Creutzfeldt- Banda ZKM 2012, 57 ff.; Rühl ZRP 2014, 8 ff.) und die außergerichtliche Streitbeilegung als adäquat für ein „modernes Rechts- und Gesellschaftsverständnis“ ansehen (Hirsch NJW 2013, 2088 ff.; Isermann/Berlin VuR 2012, 47), stehen Warnungen vor einem „Paradigmawechsel“ durch Abwendung vom rechtsförmigen Prozess und Hinwendung zu „rechtsfernen Schlichtungsverfahren“ gegenüber, welche darin „die Luhmannsche ´Legitimation durch Verfahren` reinsten Wassers“ entdecken mit Nachteilen für das Rechtssystem insgesamt wie auch Rechtseinbußen für den Verbraucher (Roth JZ 2013, 637 ff.). Befürworter wie Skeptiker nehmen die Entwicklung ernst und schreiben ihr vielfältige Wirkungen zu. Zu überlegen ist, ob das Vorhaben die (unter-schiedlichen) erwarteten Effekte tatsächlich hat oder im Symbolischen verbleiben wird. Dabei ergeben sich verschiedene Fragerichtungen. Der befürchtete Paradigmawechsel mit Beeinträchtigung des Rechtssystems kommt in Betracht. Ein neuer Raum der Thematisierung von Konflikten, die bisher nicht vor Gericht gelangten, ließen justizielle Funktionen des Rechtssystems demgegenüber eher unberührt, abgesehen von einer gerne beschworenen „Veränderung der Streitkultur“. Auch kann man bei der angestrebten Verbesserung von Beschwer-demöglichkeiten für Verbraucher (Zugang zum „Recht“ in einem rechtsfernen Verfahren?) ansetzen. Hinweise auf Wirkungsbedingungen des in die nationalen Strukturen einzubettenden Projekts (Berlin/Creutzfeld-Banda, a.a.O., S. 58) und seine Chancen könnten sich aus den bisherigen Erfahrungen mit Streit-beilegungsangeboten (s. etwa Röhl, Das Güteverfahren vor dem Schiedsmann; Röhl/Weiß, Die obligatorische Streitschlichtung in der Praxis) wie aus der Analyse der vorgesehenen Verfahrensstruktur (vgl. etwa Engel/Hornuf ScheidsVZ 2012, 26; auch Isermann/Berlin, a.a.O.) vor dem Hintergrund einer allgemeineren Konzeption von Schlichtung ergeben.

12:00
Vermittlung im Konflikt - Chance oder Einschränkung für eine dauerhafte Streitbeilegung?

ABSTRACT. Bestimmungen über außergerichtliche Streitbeilegungsmechanismen zur Vermittlung in Konflikten finden sich sowohl in österreichischen Normen als auch auf europäischer Ebene (zB ODR-Verordnung). Wie die Anzahl der schlichtenden Einrichtungen erweitert sich auch die Diversität derselben und eine klare Abgrenzung der Merkmale und Tätigkeitsbereiche gestaltet sich für einen Streitbeteiligten in der österreichischen Konfliktlösungslandschaft selbst nach einer zeitintensiven und genauen Suche schwierig. Zudem sind die Nuancen zwischen verpflichtenden, alternativen Streitbeilegungsverfahren und jenen, die freiwillig in Anspruch genommen werden können, vielfältig. Dies zeigt sich schon bei einem kurzen Vergleich jener Verfahren, die Parteien vor der Einleitung eines Gerichtsverfahrens durchlaufen müssen und zu denen die Autorin rechtssoziologische Erhebungen durchgeführt hat. Das Mietschlichtungsverfahren dient als verwaltungsbehördliches Vorverfahren, wobei Konfliktbeteiligte dieses in bestimmten Gemeinden und in taxativ aufgezählten Angelegenheiten verpflichtend durchlaufen müssen. Dadurch ergeben sich Verfahrensunterschiede, je nachdem in welcher Gemeinde das Mietobjekt gelegen ist und ob es sich um einen im Gesetz normierten Streitgegenstand handelt. Wie die befragten Schlichtungsreferenten versichern, nehmen die Parteien keine Obligation wahr, sondern empfinden die Mietschlichtungsstelle als eine kostenlose und unbürokratische Informationsquelle, deren Referenten ferner einen durchsetzbaren Bescheid erlassen können. Ein obligatorischer, außergerichtlicher Streitbeilegungsversuch, dessen Anwendungsbereich nicht wie bei mietrechtlichen Konflikten geographisch begrenzt ist, ist eine Prozessvoraussetzung für Beschattungs- und Belüftungsbehinderungskonflikte zwischen Nachbarn. Bei Entzug von Licht und Luft durch Bäume und Pflanzen, zB bei Vermoosung oder dauerhafter Nutzung von Kunstlicht, müssen die Parteien entweder eine Schlichtungsstelle mit der Auseinandersetzung befassen, einen prätorischen Vergleich beantragen oder ein Mediationsverfahren veranlassen. Noch genauer begrenzt das Behindertengleichstellungsrecht den Anwendungsbereich einer Schlichtungsinstanz. Denn fühlt sich ein Mensch mit besonderen Bedürfnissen diskriminiert, ist ein Verfahren beim Sozialministeriumservice zwingend einzuleiten. Die zuständigen Schlichtungsreferenten müssen zwar auf die zusätzliche Möglichkeit einer kostenlosen Mediation hinweisen, für die Beteiligten besteht jedoch keine Verpflichtung – zwischen 2006 und 2012 fanden lediglich 25 Mediationen statt –, sich darauf einzulassen. Im Verhältnis zum Nachbarschafts- und Behindertengleichstellungsrecht geht § 15a Bundesausbildungsgesetz mit einem gesetzlich normierten, verpflichtenden Mediationsverfahren bei der Auflösung eines Lehrverhältnisses noch einen Schritt weiter. Demzufolge kann ein Lehrberechtigter einseitig und vorzeitig ohne wichtigen Grund unter Einhaltung bestimmter Fristen und Formerfordernisse ein Lehrverhältnis nur auflösen, wenn er ein Mediationsverfahren initiiert hat. Weil jedoch der Zwang dem Grundsatz der Freiwilligkeit in der Mediation entgegensteht, reicht dieser lediglich bis zum Erstgespräch. Schon bei der kurzen Darstellung dieser vier Verfahren und deren Komplexität zeigt sich, dass eine derartige Heterogenität immer mehr Probleme für das Rechtssystem aufwirft (vgl. die Idee eines Multi Door Court House). Dabei gilt es zu bedenken, dass die Schwierigkeiten bereits entstehen, bevor der Vermittler den eigentlichen Konfliktbereinigungsprozess startet. Denn in einer empirischen Erhebung unter Konfliktparteien zum Mikroprozess der Tätigkeit von Schlichtern und Mediatoren wurde erkennbar, dass die Ergebniszufriedenheit von unterschiedlichen Faktoren wie Zeitaufwand, Geld, Möglichkeit zur Kommunikation, Experteninformation, Alter oder Geschlecht abhängig ist. Die thematisierte Verpflichtung zu einer alternativen Vermittlung in Konflikten rückt hingegen in den Hintergrund.

11:30-13:00 Session 1G: Roundtable: Disziplin-übergreifende Verfassungsgerichtsforschung­

Track "Recht, Expertenherrschaft, Demokratie". Organisiert von Christian Boulanger, Michael Wrase und Sascha Kneip.

Der Roundtable widmet anhand konkreter Forschungsthemen der Frage, welche methodischen und theoretischen Ansätze sich für ein Forschungsprogramm zur vergleichenden Verfassungsgerichtsbarkeit eignen, das für Rechtswissenschaft und Sozialwissenschaften in ähnlicher Weise anschlussfähig ist. Der Roundtable wird von 4 10-minütigen Impulsreferaten eröffnet und lädt alle an der derzeitigen Debatte interessierten ein, mitzudiskutieren.

Location: Seminarraum 1.406, Universitätsgebäude am Hegelplatz, Dorotheenstr. 24, 4. OG
11:30
Von Vetospielern, Deutungsmächtigen, Hütern und Ersatzgesetzgeberinnen: Kritische Anmerkungen zu gegenwärtigen Ansätzen in Politikwissenschaft und Rechtswissenschaft

ABSTRACT. Das Input-Statement widmet sich einigen Topoi der Verfassungsgerichtsforschung der letzten Jahre, die zu unserem Verständnis der sozialen Mechanismen beitragen, die bei der Institution der Verfassungsgerichtsbarkeit wirksam werden. Trotzdem greifen einige zu kurz und sind zu stark auf die disziplinäre Perspektiven verengt. Der Politikwissenschaft fehlt immer noch zu stark die Bereitschaft, sich auf das soziale Feld des Rechtssystems einzulassen, die rechtswissenschaftliche Diskussion hängt noch viel zu stark an politischen Theorien, die empirisch längst fragwürdig geworden sind.

11:45
Die Unterscheidung zwischen Politik und Recht als Gegenstand disziplinären Glaubens
SPEAKER: Michael Wrase

ABSTRACT. Der Input nimmt ein Zitat Alec Stone-Sweets zum Ausgangspunkt, um sich mit der Konstruktion der Unterscheidung von Politik und Recht im disziplinären Kontext der Rechtswissenschaft auseinanderzusetzen. Welchen Zweck verfolgt die Abgrenzung, insbesondere in Bezug auf die Verfassungskontrolle (judicial review)? Und wie verändert sie sich über die Zeit? Welchen Blick wirft die Politikwissenschaft auf die Recht-Politik-Unterscheidung als "Gegenstand disziplinären Glaubens“?

12:00
Interesse oder Rechtskonsistenz? Wie lässt sich die Spruchpraxis von Verfassungsgerichten erklären?

ABSTRACT. In Politik- und Rechtswissenschaft gibt es verschiedene Ansätze zur Erklärung richterlicher Spruchpraxis. Während in der Politikwissenschaft immer wieder auf die Interessen in der Richterschaft verwiesen wird, dominiert in der Rechtswissenschaft die Vorstellung, dass Erwägungen einer konsistenten Rechtsanwendung die Urteilsinhalte bestimmen. Die Beschränktheiten solcher monokausalen Erklärungsansätze bilden den Startpunkt für Überlegungen zur Entwicklung anspruchsvollerer Erklärungen, die auch auf eine Disziplinenverschränkung abzielen.

12:15
Nationale Verfassungsgerichte im europäischen Integrationsprozess – inter- und innerdisziplinäre Trennlinien in Politik- und Rechtswissenschaft
SPEAKER: Sascha Kneip

ABSTRACT. Das Statement analysiert die unterschiedliche Perzeption der Rolle nationaler Verfassungsgerichte in den Rechtswissenschaft und Politikwissenschaft (in Bezug auf die europäische Integration). Ausgangspunkt ist die Bobachtung, dass es eine erstaunliche Allianz in der Kritik v.a. an der Europarechtsprechung des BVerfG in Europarechts- und politikwissenschaftlicher Integrationsforschung gibt, während Teile der Staatsrechtswissenschaft und der vergleichenden Demokratieforschung das Gericht gemeinsam gegen solche Kritik verteidigen. Die Trennlinien laufen also, so wäre die These, nicht zwischen den Disziplinen, sondern innerhalb der Disziplinen.

11:30-13:00 Session 1H: Entwicklung durch faireres Steuerrecht?

Track "Recht und Entwicklung". Organisiert von Johanna Mugler.

Globale Initiativen, welche eine verstärkte Mobilisierung nationaler eigener Ressourcen zur Finanzierung von Entwicklung in Ländern des globalen Südens betonen, haben seit dem Monterrey Consensus in 2002 stark zugenommen. Steuerpolitik und Steuerrecht sind primär etwas national geprägtes und ausgehandeltes. Das Recht zur Finanzierung der Staatsausgaben Steuern zu erheben steht jedem Staat zur Ausübung seiner Souveränität zu. Wenn es aber um die Besteuerung von transnationalen Finanz- und Handelsaktivitäten geht dann müssen Nationalstaaten ihre Steuerpolitik und ihr Steuerrecht international koordinieren und mit anderen Staaten kooperieren. In diesem Panel möchten wir uns mit den derzeitigen Veränderungen im internationalen Steuerrecht beschäftigen. Es wird zunehmend von verschiedenen Seiten als „unfair“ und „nachteilig“ für die Entwicklung der Länder des globalen Südens bezeichnet, da es das nationale Recht Steuern zu erheben einschränkt und damit oft mit Steuereinbußen verbunden ist. Insbesondere interessieren wir uns für sozial- und rechtswissenschaftliche Beiträge, welche die unterschiedlichen Visionen von Steuergerechtigkeit, welche derzeit in Bezug auf die Normen und Prinzipien des internationalen Steuerrechts diskutiert werden näher beleuchten. Oder Beiträge, welche die nationalen, internationalen Akteure und Institutionen, welche an der Produktion dieser Normen und Regeln beteiligt sind, in den Blick nehmen und deren wirtschaftliche, sozio-politische und institutionellen Rahmenbedingungen reflektieren. Erwünscht sind ebenso Beiträge, welche die Entstehung und Aushandlung der Steuerpolitik und des Steuerrechts von konkreten Ländern des globalen Südens erforschen und hier insbesondere einen Fokus auf die Aushandlung von internationalen Steuerabkommen dieser Länder legen.

Location: Seminarraum 1.501, Universitätsgebäude am Hegelplatz, Dorotheenstr. 24, 5. OG
11:30
„What the hell is a fairer corporate tax law?“ Eine Ethnographie der Aushandlung von Steuerfairness innerhalb der G20 OECD BEPS Initiative.

ABSTRACT. Das derzeitige internationale Steuerrecht wird von verschiedenen Seiten zunehmend als „unfair“ und „nachteilig“ für die Entwicklung der Länder des globalen Südens bezeichnet. Zum einen begünstigt es Kapital exportierende Länder und schränkt das nationale Recht Steuern zu erheben Kapital importierender Länder ein. Zum anderen wird der Produktionsprozess internationaler Steuerprinzipien und Regeln zunehmend als undurchsichtig und veraltet kritisiert, da vor allem multilaterale Organisationen, die in den Ländern des globalen Nordens dominieren, tonangebend sind. Die derzeitige G20 OECD BEPS („Base Erosion and Profit Shifting“) Initiative ist ein internationaler Versuch, das gegenwärtige internationale Steuerrecht „fairer“ zu gestalten und neu zu verhandeln. Dieses Paper, basierend auf Gesprächen mit internationalen Steuerexperten (corporate, privat, staatlich, NGOs) und Beobachtungen von öffentlichen G20 OECD BEPS Beratungssitzungen, beschreibt in seinem ersten Teil, wie und von wem internationale Steuernormen und Prinzipien innerhalb dieser Initiative verhandelt und erstellt werden. Im zweiten Teil diskutiert das Paper, welche unterschiedlichen Vorstellungen von Steuerfairness und -gerechtigkeit den verschiedenen Verhandlungspositionen innerhalb der BEPS-Initiative zugrunde liegen. Abschließend werden erste Überlegungen vorgestellt, welche der besprochenen Visionen und Positionen vorherrschen und wie diese spezifischen Normen und Prinzipien an Dominanz bzw. Legitimität gewinnen und was dies potentiell für die Steuereinnahmen für „die“ Länder des globalen Südens bedeuten wird.

11:45
Verteilungsmassstäbe im Internationalen Steuerrecht
SPEAKER: Yasmin Holm

ABSTRACT. Wenn ein Unternehmen grenzüberschreitend tätig ist, so gibt es zumeist mindestens zwei Staaten, die für eine solche Tätigkeit eine Besteuerung vorsehen: Folgt der Staat, in dem das Unternehmen ansaessig ist (Ansässigkeitsstaat), dem Welteinkommensprinzip, so unterwirft er das weltweite Einkommen des Unternehmens seiner nationalen Besteuerung. Der Staat, in den das Unternehmen investiert (Quellenstaat), wird einen Teil des Einkommens des Unternehmens, die auf seinem Gebiet erwirtschafteten Gewinne, ebenfalls besteuern. Die so entstehende Doppelbesteuerung wird allgemein als Hindernis für den erwünschten weltweiten Wirtschaftsverkehr angesehen. Daher versuchen viele Staaten, sie zu beseitigen. Häufig greifen sie dafür auf Doppelbesteuerungsabkommen (DBA) zurück, bilateralte Verträge, in denen zwei Staaten festlegen, wie Einkommen, das sie an sich beide besteuern wuerden, nur einmal besteuert wird: Einer der Staaten verzichtet auf "sein" Besteuerungsrecht. Untechnisch gesagt teilen die Staaten die Besteuerungsrechte untereinander auf. DBA erleben seit Mitte des 20. Jahrhunderts eine wahre Blüte. Mehrere internationale Organisationen geben regelmässig Vorlagen für DBA heraus - die Organization for Economic Development (OECD) und die UNO sind hier federführend. Im Vergleich dieser beiden Vorlagen und mit Blick auf die Diskussion um Konzepte zur Aufteilung von Besteuerungsrechten fällt auf, dass stark unterschiedliche Konzepte als jeweils "gerecht" oder "fair" bezeichnet werden. So unterscheiden sich zwei der wesentlichen Konzepte zur Aufteilung der Besteuerungsrechte für Unternehmensgewinne in hohem Masse, der von der OECD entwickelte Authorised OECD Approach (AOA) und die Formelaufteilung (Formulary Apportionment), die das UN-Musterabkommen beeinflusst - beide reklamieren sie für sich, sowohl (sach-)gerecht als auch praxistauglich zu sein. Deutschland als OECD-Mitglied hat sich dafür entschieden, seine DBA an dem Musterabkommen der OECD und insbesondere am AOA auszurichten (jedenfalls soweit sich Deutschland in den Verhandlungen um ein DBA durchsetzen kann). Recht, gerade das Steuerrecht, ist wertungsabhängig und wertungsbedürftig. Wer steuerlich belastet wird und wer nicht und in welcher Höhe, dies sind die "typischen" wertungsabhängigen Frage, die das nationale Steuerrecht immer und immer wieder zu klären hat. International stellt sich eine andere Frage: Wer soll die Besteuerungsrechte für einen bestimmten grenzuberschreitenden Sachverhalt erhalten, wem steht gerechterweise das Recht der Besteuerung zu - dem Ansässigkeitsstaat oder dem Quellenstaat? Vor diesem Hintergrund wird die Frage virulent, welchen Gerechtigkeitsvorstellungen die verschiedenen Massstäbe zur Aufteilung von Besteuerungsrechten, insbesondere der von Deutschland unterstützte und sogar in nationales Recht implementierte AOA, folgen. Oder liegt ihnen möglicherweise alleine das fiskalische Interesse des jeweiligen Staates bzw. der jeweiligen Staatengruppe - für die OECD liesse sich diese Staatengruppe als "reiche Industrienationen", für die UN als "Entwicklungs- und Schwellenländer" bezeichnen -, zugrunde? Ein möglicher Massstab für eine gerechte Verteilung von Ressourcen ist der Capability Approach von Martha Nussbaum. Ausgehend von John Rawls' Theorien zur Verteilungsgerechtigkeit entwickelte Martha Nussbaum einen Ansatz, der die Schwächen von Rawls' Theorie überwinden sollte. Der Capability Approach ist in seinen Grundlagen ein sehr offener Ansatz; nach Nussbaum soll er so auf breite internationale und kulturübergreifende Akzeptanz treffen koennen. Dies macht den Ansatz für das internationale Steuerrecht höchst interessant - und rechtfertigt einen Versuch, diesen Ansatz als Grundlage für einen Mechanismus zur Aufteilung der Besteuerungsbefugnis für Unternehmensgewinne zwischen den Staaten heranzuziehen.

12:00
Steuerliche Autonomie für Entwicklungsländer – gerecht und effizient?

ABSTRACT. Entwicklungsländer haben einen großen Finanzbedarf, den sie nachhaltig nur über die Besteuerung decken können. In einem ersten Schritt bedarf es in der Regel einer Reform des nationalen Steuersystems und des Aufbaus einer geschulten Steuerverwaltung, um die Wirtschaft überhaupt effektiv wie effizient besteuern zu können. Hier spielt steuerliche Entwicklungszusammenarbeit durch Politik- und Verwaltungsberatung eine wichtige Rolle, wobei ein Diktat „goldener Zügel“ zu vermeiden ist. In einem zweiten Schritt stellt sich die Frage der Besteuerung ausländischer Investitionen und damit der internationalen Wettbewerbsfähigkeit. Grenzüberschreitende Wirtschaftstätigkeit kann sowohl im Ansässigkeitsstaat des Investors, als auch im Entwicklungsland als Zielland der Investition und Quellenstaat der dadurch erwirtschafteten Einkünfte besteuert werden. Diese Quellenbesteuerung ist für die Finanzierung des Entwicklungslandes wichtig, belastet die Investition andererseits mit zusätzlichen Rechtsbefolgungskosten. Doppelbesteuerungsabkommen stimmen daher nicht nur die Besteuerungszugriffe ab, um eine übermäßige Doppelbesteuerung zu Lasten des Steuerpflichtigen zu verhindern. Sie beschränken auch die Quellenbesteuerung. Zudem wird die noch zulässige Quellenbesteuerung im Rahmen der verbreiteten Anrechnung auf die Besteuerung im Ansässigkeitsstaat im Belastungsergebnis neutralisiert. Dies dient nach herrschender ökonomischer Lehre der Produktionseffizienz, sorgt aber dafür, dass Investitionen in das Inland wie auch in das (Entwicklungs-)ausland gleich hoch besteuert werden. Dadurch können die Entwicklungsländer keine effektive eigenständige Steuerpolitik betreiben, insbesondere nicht ihre Defizite in der Infrastruktur durch niedrigere Steuern ausgleichen. Dies wird als Protektionismus oder gar „fiskalischer Imperialismus“ kritisiert: die Investition in ein Entwicklungsland wird steuerlich unattraktiv gemacht. Der Beitrag will zeigen, dass im Gegensatz dazu sowohl Ansässigkeitsstaat wie auch Quellenstaat (Entwicklungsland) nach Gerechtigkeits- wie auch nach Effizienzmaßstäben grundsätzlich einen autonomen Besteuerungsanteil ausüben sollen. Grundlage dafür ist die Lehre von der globaläquivalenten Steuerrechtfertigung (Legitimation der Besteuerung). Wenn die Besteuerung nur als Globalgegenleistung für das staatliche Gesamtleistungspaket (insbesondere die Infrastruktur) zu rechtfertigen ist, folgt daraus, dass sowohl Ansässigkeits- als auch Quellenstaat (das Entwicklungsland) einen Besteuerungsanteil beanspruchen können, sofern dieser effizient wie effektiv erhoben werden kann. Da das staatliche Gesamtleistungspaket nicht objektiv beziffert werden kann, kann die Belastungshöhe nur im nationalen politischen Prozess ausgehandelt und demokratisch legitimiert werden. Daher muss sowohl das Belastungsniveau im Ansässigkeits- wie im Quellenstaat respektiert werden und sich in der Endbelastung widerspiegeln. Ökonomisch ist es fraglich, weshalb die Neutralitätsbetrachtungen nur die Steuerbelastung in den Blick nehmen, nicht aber das staatliche Gesamtleistungspaket als „Gegenleistung“. Kann es eine „Äquivalenzneutralität“ geben? Im Rahmen der Doppelbesteuerungsabkommen lässt sich die steuerliche Autonomie der Entwicklungsländer über die von der OECD zu Unrecht undifferenziert bekämpfte Anrechnung fiktiver Quellensteuern bewahren. Im Ergebnis bekommt der Steuerpflichtige eine Gesamtbelastung, welche die Inanspruchnahme der Staatsleistungen sowohl seines Ansässigkeitsstaates als auch des Entwicklungslandes als Quellenstaat abbildet. Entwicklungsländer haben damit die Chance, ein geringeres Maß an Staatsleistungen durch niedrigere Steuern abzubilden. Damit können sie mit entwickelteren Ländern konkurrieren und durch das ermöglichte Wirtschaftswachstum sukzessive ihre Staatsleistungen erhöhen und die Armut durch entstehende Spielräume zur Umverteilung bekämpfen.

12:15
Kommentar zur Session: "Entwicklung durch faireres Steuerrecht?"
SPEAKER: Cees Peters

ABSTRACT. Kommentar

13:00-14:30Mittagspause
14:30-16:00 Session 2A: Dreierlei Arten ein Versprechen zu brechen: fragmentierende Rechtsautonomie, ent-differenzierende Moralisierung oder integrative Übersetzungsverhältnisse

Track "General Papers". Organisiert von Linda Nell und Joachim Renn.

Das klassische Versprechen des Rechts auf die normative Integration ganzer Gesellschaften einzustehen, kann auf dreierlei Weisen gebrochen werden: 1) funktionale Differenzierung kann so gelesen werden, dass die Autonomie des Rechtssystems nur um den Preis der Fragmentierung eines Systems, das den Bezug zur normativen Integration abgestreift hat, zu haben ist. 2) In Gegenrichtung machen kompakte Verbindungen zwischen kollektiver Moral und rechtlicher Konfliktregulationen die Selbstständigkeit des Rechts abhängig von einer problematischen Homogenisierung rechtsexterner, normativer Horizonte bzw. lebensweltlicher Grundlagen. Im ersten Fall erscheint das Versprechen des Rechts auf normative Integrationsleistung durch die Bedingungen funktionaler Autonomie gebrochen, im zweiten Fall bricht das Recht das Versprechen auf moralische Legitimität erzwungen durch die Heterogenität sozialer Kontexte, die ironischerweise für die Ausdifferenzierung aber konstitutiv sein könnte. In beiden Fällen entspricht die Enttäuschung normativer Erwartungen auf eine konventionelle Weise dem Brechen eines Versprechens und zwar als das unglückliche Ergebnis unliebsamer Sachzwänge. Daraus aber, dass das in komplexen Lagen das Recht mit Notwendigkeit übersetzt werden muss, folgt, 3) dass das Brechen eines Versprechens (gewissermaßen der Verheißungen der Aufklärung) auch einen ganz anderen Sinn haben kann: „Übersetzung“ bedeutet, dass Sprecher im Übergang zu ausdifferenzierten Sprachen sich versprechen müssen, sobald sie glauben, die Sprache des einen Kontextes innerhalb eines anderen sprechen zu können. Recht, das zur Anwendung gebracht werden soll, kann Wirkungen, Implementationen, und Funktionserfüllung nur durch einen Bedeutungsbruch hindurch erreichen. Das heißt z.B. Übersetzung impliziert, dass scheinbar gleiche Sätze (juridische Regeln) in gegeneinander ausdifferenzierten Kontexten radikal differente Bedeutungen annehmen. Darum sind die starken Erwartungen an das Recht zum Brechen eines „Versprechens“ verurteilt, das in der Tat gebrochen werden muss – allerdings eher im Sinne der bedeutungsbrechenden Übersetzung eines Versprechers. Was heißt es, wenn man mit der Systemtheorie das Problem der normativen Integration der Gesellschaft durch das Recht hinter sich lässt, aber die normative Frage nicht zu den Akten legt, sondern als ein Übersetzungsproblem auffasst und damit die normative Intuition der Erwartungen an das Recht bewahrt und transformiert? Mit Blick auf die moderne Gesellschaft verliert das Recht offensichtlich seine klassische Funktion der allseits legitimen „Konfliktbeilegung“. Das Recht kann keine mögliche, beste Lösung im Sinne aller liefern – und soll es auch gar nicht. Das Recht kann deshalb (ebenso wenig wie die Politik oder die Religion) nicht mehr das Ganze repräsentieren und steuern und also auch nicht die normative Integration der Gesellschaft in Regie nehmen. Damit geht die rechtsinterne Normativität bei der Übersetzung des Rechts aber nicht vollständig verloren: Ausdifferenzierung bedeutet nicht Fragmentierung, sondern Etablierung von Sinngrenzen, über die hinweg übersetzt werden muss, sodass die normative Integration der Gesellschaft sich auf die Ebene einer Integration zweiter Ordnung verschiebt, das heißt, der Integration zwischen rechtlicher und rechtsexterner Integration. Die Dimension der normativen Geltung zieht sich dabei nicht auf die Seite des Rechtssystems zurück, sondern teilt sich selbst in differenzierte Formen normativer Erwartungsstabilisierung, zwischen denen wieder auf eine normativ relevante Art übersetzt werden muss. Das Panel widmet sich der Frage nach dem Verhältnis zwischen hochgradig ausdifferenziertem Rechtssystem und gesellschaftlicher (normativer) Integration im Lichte aktueller Differenzierungstheorien mit besonderem Akzent auf die Übersetzungsproblematik.

Location: Seminarraum 1.608, Universitätsgebäude am Hegelplatz, Dorotheenstr. 24, 6. OG
14:30
Zur Problematik von Rechtsversprechen in differenzierten Gesellschaften
SPEAKER: Jan Weyand

ABSTRACT. Moderne Sozialordnungen zeichnen sich dadurch aus, funktional differenziert und normativ plural zu sein. Funktionale Differenzierung bedeutet, dass sich unterschiedliche, eigenlogisch operierende Handlungsbereiche herausbilden, die als „Systeme“ oder „Felder“ beschrieben werden. Eine Konsequenz funktionaler Differenzierung ist, dass kein Handlungsbereich mehr das Ganze der Sozialordnung repräsentieren kann. Normativer Pluralismus bedeutet, dass moderne Sozialordnungen über keinen gemeinsamen normativen Konsens mehr verfügen. Auf soziale Differenzierung und Pluralisierung hat die rechtssoziologische Diskussion in unterschiedlicher Weise reagiert. Man kann aus funktionaler Differenzierung und normativer Pluralisierung die Konsequenz ziehen, strikt zwischen Recht, Politik und Norm zu unterscheiden. In dieser Argumentation verspricht das Recht nichts. Vielmehr muss man sich fragen, warum dem Recht Versprechen kommunikativ zugerechnet werden. Gegen diese Position sind Einwände formuliert worden, etwa von Jürgen Habermas. Nach Habermas verleihen Rechtsnormen politischen Programmen bindende Kraft; das Recht steht, wie es in Faktizität und Geltung heißt, „zwischen Politik und Moral“. Der Vortrag untersucht die Plausibilität beider Positionen am Beispiel der Geschichte der Judenemanzipation in Preußen. Er zeigt, wie sich normative Postulate (etwa die Idee menschlicher Gleichheit unabhängig von Gruppenzugehörigkeit) mit politischen Programmen (etwa die Maximierung des Wohlstands) in Rechtsnormen (Emanzipationsgesetzgebung) verschränken, ohne dass man sagen könnte, dass mit der Emanzipationsgesetzgebung verbundene Versprechen der Integration von Juden und Nichtjuden in eine gemeinsame Lebenswelt von Bürgern einlösbar wäre. Dieses Versprechen hat einen „überschießenden“ Gehalt, d. h. einen Gehalt, der an das Recht als Erwartung adressiert wird, den das Recht als ein funktional differenziertes „System“ aber nicht einlösen kann: Mit der rechtlichen Gleichstellung wird die Idee einer Sozialintegration verbunden. Das Recht aber kann Individuen nur als Rechtspersonen integrieren. In der Folge stehen enttäuschte Erwartungen (rechtliche Gleichstellung führt nicht zu Sozialintegration). Eine Analyse dieser Erwartungsentäuschung kann zeigen, dass sie eine – zwangsläufige – Folge der Ausdifferenzierung von Handlungsbereichen ist. Das Recht übersetzt politische Programme und normative Postulate in die Sprache des Rechts und kann sie auch nur in dieser Sprache ausdrücken. Gleiche Integration in das Rechtssystem durch Zuschreibung gleicher Rechte und Pflichten ist aber etwas anderes als Sozialintegration. Diese bezieht sich auf die Lebenswelt der Akteure, jene auf ihren rechtlichen Status. Trotzdem muss man annehmen, dass die politischen Erwartungen wie ihre normativen Grundlagen an die rechtliche Emanzipation der Juden diese motivieren. Da das Recht politische Erwartungen nur seiner eigenen Sprache artikulieren kann, muss man wohl annehmen, dass mit dem Recht verbundene Versprechen Motor der Veränderung von Recht sind, wie die Enttäuschung dieser Versprechen Folge eben dieser Veränderung sind.

14:45
Uneinlösbares Versprechen des Familienrechts in Marokko

ABSTRACT. Dass Versprechungen des Rechts nicht selten in Enttäuschungen münden, ist besonders deutlich in einigen Regionen der Weltgesellschaft zu beobachten. Mit dem marokkanischen Rechtsmodell als Bezugspunkt kann in Verbindung mit der vorliegenden Argumentation gezeigt werden, dass Versprechungen des staatlichen Familienrechts, Geschlechtergerechtigkeit herzustellen, vielfach fehlschlagen. Dies wird auf die lokale Existenz zweier normativer Ordnungen mit unterschiedlichen Differenzierungsgraden zurückgeführt. Beide stützen sich offensichtlich auf das islamische und mündliche Recht der Berberstämme und bringen in Interaktionsmilieus differente Gendernormen hervor. In diesem Sinne hängen die normativen Erwartungen an die rechtsstaatlichen Geschlechternormen unmittelbar von verschiedenen Rechtssprachen mit ihren jeweiligen Integrationskriterien ab. Diese definieren auf je eigner Art die Bedeutung der legitimen Rechtshandlung, um sie in den Zusammenhang weiterer Handlungsketten zu integrieren. In dieser postkolonialen Konstellation handelt es sich also um ein Differenzverhältnis dreier Sinnwelten über deren Grenzen hindurch Übersetzungsverhältnisse stattfinden (müssen). Somit lädt der geplante Beitrag dazu ein, Versprechungen des positiven Familienrechts nicht als lineare Übersetzung bzw. Übertragung staatlicher Geschlechternormen zu begreifen: Dies würde beide normativen Ordnungen destabilisieren und die lokale Lebensform ganz von ihrer pragmatischen Geschichte trennen, ja sogar den Sinn atomisieren. Unter Rekurs auf empirische Ergebnisse einer qualitativen Untersuchung in der Stadt Fes und im ländlichen Mittleren Atlas zu lokalen Übersetzungen des staatlichen Familienrechts wird gezeigt, dass das positive Familienrecht Änderungen in habituellen Geschlechterverhältnissen nur durch Bedeutungsbrüche und Rechtskniffe bewirken kann. Diese Thesen werden am Beispiel eines Grenzfalls veranschaulicht. Es wird konkret dargestellt, wie die Versprechung des staatlichen Familienrechts, nämlich die Verheiratung von minderjährigen weiblichen Jugendlichen zu verbieten, situativ bei den Berberstämmen durch pragmatisches Handeln umgegangen wird.

15:00
Sonderfall Preußen und die latenten Funktionen gebrochener Versprechen: zur Übersetzung zwischen Recht und Politik
SPEAKER: Joachim Renn

ABSTRACT. Die historisch-genetische Verklammerung von Politik und Recht – paradigmatisch im nationalen Rechtsstaat - drängt der Rekonstruktion von Funktionen und Wirkun-gen des Rechts in der spätmodernen Weltgesellschaft das Thema der Beziehung zwi-schen Macht und Recht geradezu auf. Welche Art von Autonomie des Rechtssystems kann die Selbständigkeit normativer Geltung gegenüber der Instrumentalisierung des rechtlichen Geltungsversprechens sichern und dennoch zugleich regulative (Konflikt beilegende) Wirkungen eines ausdifferenzierten Rechts über seine Grenzen hinaus garantieren? Eine zunächst theoretische Antwort auf diese Frage lässt sich differenzierungstheore-tisch gewinnen. Recht muss übersetzt werden – der dabei anfallende Verlust betrifft indessen „Geltungsfragen“ anders als allgemeine „Informationsfragen“: im ersten Falle haben wir es mit dem Wechsel der Modalität kontrafaktischer Erwartungen, im anderen Falle mit dem Wechsel des Sinnhorizontes in Relation zu Graden der Fein-körnigkeit von Handlungskoordination zu tun. Man muss deshalb unterscheiden zwischen dem definitiv gebrochenen Versprechen einer „Herrschaft des Rechts“ (H. Arendt, „rule of law“) und der latenten Funktion einer kontrafaktischen Zuschreibung von kontextübergreifenden Wirkungen der Rechtsverbindlichkeit. Das Recht regelt nicht wirklich, nicht direkt, nicht selbst, „die“ gesellschaftlichen Ver-hältnisse; aber die unterkomplexe, zugleich aber effektive Zuschreibung eines sol-chen Regelungsauftrages sorgt dennoch dafür, dass die ungebremste Konfrontation von agonal verfassten Interessengegensätzen gebrochen wird durch den stets mobili-sierbaren Vorbehalt überparteilicher Gesichtspunkte. Es ist vor allem der juridische Vorbehalt gegenüber partikularistischen und exkludierenden Definitionen der Ex-tension eines politischen Gemeinwesens, der sich in der notwendigen Interpretation der relativ dunklen Formel einer für das Politische konstitutiven „kollektiv binden-den Entscheidung“ (z.B. und signifikanter Weise auch bei: Luhmann) zur Geltung bringen lässt. Wo es es gelingt, bei der Übersetzung des Rechts „Translate“ der von allen partikularen Milieuverhältnissen abstrahierenden Verallgemeinerungsformel „subjektiver Rechte“ in den rechtsexternen Kontexten der Gesellschaft zu verankern, kann die latente Funktion der kontrafaktischen Insistenz auf eben jenes Versprechen sozial-integrative Effekte erzeugen. Der Vortrag skizziert die genannte Überlegung zunächst systematisch, speziell: über-setzungstheoretisch, und konkretisiert die entsprechenden Überlegungen im zweiten Teil empirisch am historischen Beispiel einer zeitverzögerten, am Ende aber erfolgreichen Verrechtlichung. Den Referenzfall liefert dabei der Weg zur Staatsbildung bei der Transformation des altpreußischen „Ediktenstaats“ zur „rationalen Staatsanstalt“ (im 18. Jhd.). Eine letzte Konkretisierung bezieht das historische Beispiel und seine systematischen Implikationen auf die aktuelle Frage, warum das am historischen Beispiel erkennbare Modell einer zeitverzögerten und indirekten Verrechtlichung entgegen möglicher Erwartungen auf den Fall des europäischen Mehrebenen-Systems eben nicht (!) übertragen werden kann.

15:15
Zur normativen Wiederaufladung des funktional differenzierten Rechts durch Übersetzung: wann wäre das Versprechen auf eine implizite normative Binnenstruktur des Weltrechts haltbar?
SPEAKER: Linda Nell

ABSTRACT. Die Bedeutung des modernen Rechts ist – entgegen der verbreiteten Auffassung in der Rechtstheorie – nicht einzig und allein mit Blick auf seine funktionale Differenzierung hin zu untersuchen. Zwar ist nach Auskunft der Systemtheorie das klassische Versprechen des Rechts auf die normative Integration ganzer Gesellschaften auf produktive Weise gebrochen worden und stattdessen die Strategie der Beobachtung zweiter Ordnung von beinahe unhintergehbarem Erkenntniswert. Allerdings überzieht die Systemtheorie ihre Kritik an normativistischen Auffassungen vom Recht so weit, dass nicht nur das Programm der normativen Integration der Gesellschaft verworfen wird, sondern mit ihm auch gleich die hinreichende Ausdeutung der Funktionsweise des Rechts. Die funktionale Definition des Rechts marginalisiert den Begriff von Normativität derart, dass gerade nichtnormative Formen der Rejektion von Lernmöglichkeiten beschrieben werden, wie etwa die zweckrationale Kalkulation, bei der die Lernunwilligkeit den Status einer Kognition annehmen kann, die zweckrational in Distanz zu dem was von Fall zu Fall faktisch geschieht, gebildet wird. Der Begriff des rechtlich Normativen reduziert sich somit auf eine „intelligente Kombination von Lernunwilligkeit und Lernfähigkeit“ (Habermas). Geltungsfragen werden im funktionalen Neonlicht weitgehend kognitivistisch umgedeutet und sterilisiert. Kurzum: Der Universalitätsanspruch der systemtheoretischen Gegenstandsauffassung führt dazu, dass auch die Spezifizität des Rechts der funktionalen Analyse zum Opfer fällt. Damit mutet die Systemtheorie den Versprechungen des Rechts zu wenig zu.

So weit muss die Rechtstheorie aber gar nicht gehen! Es ist möglich das systemtheoretische Abstraktionsniveau beizubehalten und dabei zugleich die funktionalen Beschreibungskapazitäten zu überbieten: Dazu ist es nicht einmal nötig das Bezugsproblem der Funktionsweise des Rechts in eine einerseits funktionale und eine andrerseits normative Seite zu teilen (und diese Teilung möglicherweise noch mit der Unterscheidung zwischen System- und Sozialintegration gleichzusetzen). Stattdessen bietet es sich an, von einer normativen Wiederaufladung des Rechts zu sprechen. Dafür, dass dies mehr als ein normatives Postulat ist, spricht, dass Differenzen zwischen heterogenen normativen Ordnungen, die für die Weltgesellschaft kennzeichnend sind, nicht erst dann sichtbar werden, wenn man den Anteil des immanenten Sollenscharakters der Rechtsgeltung ausblendet oder durch systemtheoretische Beobachtung neutralisiert. Die Funktionsweise des modernen Rechts lässt sich nur dann vollständig erschließen, wenn man bereit ist zweierlei Perspektiven zugleich einzunehmen: einerseits müssen innerhalb einer (multipel statt funktional) differenzierten Weltgesellschaft enorme Geltungs- und Ebenenunterschiede zwischen ausdifferenzierten normativen Ordnungen berücksichtigt werden, andrerseits werden überall dort Translate rechtlicher Normen im Lichte der eigenen Horizonte angefertigt. Für das Recht ist somit die hochgradige Interdependenz zwischen heterogen ausdifferenzierten normativen Teilkontexten entscheidend, in welcher Übergänge zwischen der Mikroebene milieubasierter Handlungskoordination (Ethos,Sitte) und der Makroebene verselbstständigter Ordnungen unausweichlich werden.Die normative Geltung des Rechts teilt sich damit in differente Formen der normativen Integration, zwischen denen auf eine normativ relevante Art pragmatisch übersetzt werden muss.

Diese Sicht entfaltet ihre Wirkung vor allem mit Blick auf die neuere systemtheoretisch orientierte Rechtstheorie, die mit Bezug auf die weitere Entwicklung des „Weltrechts“ in Übereinstimmung mit der Luhmannschen Vorlage eine Funktionsverlagerung des Rechts auf Problemlösungsfähigkeiten behauptet.Wie sich übersetzungstheoretisch zeigen lässt, erweist sich eine solche Funktionsverschiebung eher als ein Spezialfall im Horizont einer umfassenderen Dekompositionsnotwenigkeit des modernen Rechts.

14:30-16:00 Session 2B: Compliance und Whistleblowing - Neue Formen sozialer Kontrolle im Unternehmen

Track "Wirtschaftskriminalität". Organisiert von Tobias Singelnstein, Jens Puschke und Lars Ostermeier.

Die strafrechtliche Kontrolle wirtschaftlicher Betätigung gewinnt immer mehr an Bedeutung. Zunehmend werden jedoch auch die Defizite des Strafrechts als Mittel zur Lenkung wirtschaftlicher Prozesse kritisch thematisiert. Hieraus entwickelt sich ein rasanter Aufstieg außerhalb des Strafrechts stehender, aber eng mit ihm verbundener neuer Formen sozialer Kontrolle in Unternehmen. Compliance und Whistleblowing werden nunmehr als Standardkonzeptionen in größere Unternehmen implementiert. Eine vermeintliche Win-Win-Situation für Unternehmen und staatliche Kontrollinstanzen, um Wirtschaftskriminalität zu reduzieren. In dem Panel werden diese Kontrollmittel hinterfragt. Compliance-Programme sind zwar einerseits geprägt durch eine Entformalisierung und eine Privatisierung des Rechts, andererseits führen sie jedoch auch zu einer Ausdehnung der strafrechtlichen Sozialkontrolle.

Location: Seminarraum 1.404, Universitätsgebäude am Hegelplatz, Dorotheenstr. 24, 4. OG
14:30
Whistleblowing in Unternehmen
SPEAKER: unknown

ABSTRACT. Whistleblowing ist in den letzten Jahrzehnten zu einem Element der sozialen Kontrolle avanciert, auch und gerade im Bereich der Wirtschaftsdelinquenz. Der Regulierungsdiskurs sieht in ihm geradezu eine Schlüsselkonzept und schreibt ihm das Potenzial zu, eine Win-Win-Situation zu konstituieren: Als Bestandteil der unternehmensinternen Informationsgewinnung (internes Whistleblowing) diene es der effektiven Selbstkontrolle, während externes Whistleblowing staatliche Ermittlungsdefizite (zumindest teilweise) ausgleiche. Daher werden unternehmenseigene und staatlich-polizeiliche Hinweisgeber-Einrichtungen gleichermaßen forciert. Dabei jedoch konkurrieren Kontrollbehörden mit Unternehmen um das Insiderwissen, da die managerielle und amtliche Verarbeitung der fraglichen Informationen nach jeweils eigenen und auch konfligierenden Maßgaben erfolgt. Folglich zielen die jeweiligen Hinweisgebersysteme (Compliance-Organisation mit Hotline oder Ombudsmann versus Whistleblowing-Portale, finanzielle Anreize etc.) darauf ab, die Missstandsinsider zu den jeweils eigenen Anlaufstellen zu lenken. Dieses Konkurrenzverhältnis erzeugt für die potenziellen Hinweisgeber einen doppelten Entscheidungszwang: erstens das eigene Wissen überhaupt offenzulegen und zweitens gegenüber welcher Institutionen (in ggf. welcher Reihenfolge). Dass die deutsche Rechtspolitik zur Auflösung dieser Spannung bislang nichts beigetragen hat, beruht auf ihrer ambivalenten Haltung zum Whistleblowing, die wiederum durch eine eminentes Forschungsdefizit gefördert wird. Ohne einen detaillierten empirischen Einblick in die Anlässe und Folgen des Enthüllungsverhaltens, die Motive, Konflikte und Entscheidungs-Relevanzen ist eine sachgerechte Bewertung nicht möglich. International wurde Whistleblowing bislang v.a. aus betriebswirtschaftlicher und verhaltenswissenschaftlicher Warte mit vorwiegend experimentellen Mitteln auf personelle, situations- und unternehmensspezifische Einflüsse hin untersucht. In die Entscheidungsprozesse selbst bieten nur vereinzelte qualitative Studien erste Einblicke. Auf die hiesigen Verhältnisse sind all diese Befunde indes aus verschiedenen Gründen (methodische Limitierungen, unterschiedliche kulturelle und rechtliche Rahmenbedingungen usw.) nur bedingt übertragbar. Eine Whistleblowing-Forschung für den hiesigen Raum fehlt nahezu völlig. In diese Forschungslücke stößt das DFG-Forschungsprojekt „Bedingungen für die Inanspruchnahme von Whistleblowing-Systemen am Beispiel von Hinweisgeberverhalten im Gesundheitswesen“ vor. Es bietet als erste Studie im deutschsprachigen Raum einen detaillierten Mehrebenen-Einblick in den besagten Entscheidungsprozess. Im Rahmen von qualitativen Interviews mit 28 Whistleblowern wurden die Entscheidungsschritte und -faktoren untersucht, in denen sich die Hinweisgeber mit einer konflikthaften Situationsdynamik auseinandersetzen und über die sie schließlich zur Wissenspreisgabe gelangen. Die systematische Fallanalyse ermöglichte es, ein neuartiges Whistleblowing-Verlaufsmodell zu entwickeln. Dieses rekonstruiert den Entscheidungsprozess anhand einer Zentralvariable („subjektiv empfundene Handlungsveranlassung“) und weiterer analytisch gewonnener Einflussfaktoren auf den Persönlichkeits-, Situations- und Organisationsebenen. Unser Beitrag will die Ergebnisse der Studie vorstellen, d.h. dieses Modell sowie die wesentlichen empirischen Daten präsentieren, aber auch deren rechtspolitische Implikationen diskutieren. So zeigt sich bspw., dass Whistleblower fast immer auch Eigeninteressen verfolgen, die mit jenen der Unternehmen und Kontrollbehörden nur bedingt kompatibel sind. Zugleich aber besteht eine gewisse Aktivier- und Ansprechbarkeit, insbesondere bei einem Abbau von Konsequenzangst. Deutlich wird ferner, dass angesichts der vielfältigen Mischungen von ethischen und anderweitigen Anzeigegründen an eine „schutzwürdige“ Motivation kein strenger moralischer Maßstab angelegt werden kann.

14:45
Scheiternde Rechtsnormbildung im Rahmen von Compliance-Kontrolle
SPEAKER: Jens Bergmann

ABSTRACT. Die Sicherung der Einhaltung wirtschaftsstrafrechtlicher Verbote und Gebote scheint nicht länger ausschließlich eine Angelegenheit des Staates zu sein. Unternehmen in Deutschland sehen sich im Hinblick auf Wirtschaftskriminalität veränderten Anforderungen ausgesetzt und generieren daher Formen der privaten, vorbeugenden Bezugnahme auf Strafrechtsnormen, u.a. durch neue Kontrolltechniken. Der Markt für Compliance Management-Maßnahmen in Wirtschaftsorganisationen boomt aus diesem Grund und mit „Criminal Compliance“ hat sich ein eigenes Rechtsgebiet entwickelt. Diese Entwicklung, die aus der Perspektive der Rechtswissenschaft als Entformalisierung und Privatisierung des Rechts bezeichnet wird, die aber auch als Ausdehnung strafrechtlich relevanter Sozialkontrolle verstanden werden kann, ist für die beteiligten Akteure mit vielen Unsicherheiten verbunden. Der geplante Beitrag möchte solche Unsicherheiten exemplarisch und auf empirischer Basis rekonstruieren und er möchte darlegen, aus welchen Gründen neu etablierte organisatorische Kontrollmaßnahmen an den mit ihnen verbundenen Ansprüchen häufig scheitern (müssen). Hieraus sollen Rückschlüsse gezogen werden hinsichtlich der veränderten Funktion des Wirtschaftsstrafrechts bei der Zuschreibung von Wirtschaftsdelinquenz und in Bezug auf das strafrechtliche Versprechen, Wirtschaftsakteure zu kontrollieren. Der Beitrag ist in drei Schritte untergliedert: 1. In einem ersten Schritt werden konzeptionelle Grundlagen geklärt, die Eigenheiten organisationsinterner Kontrolle aus einer organisationssoziologischen Perspektive erhellen. Beschreibt man Organisationen als wissenserzeugende Beobachtungssysteme und zieht die strukturelle Differenz zwischen Formalität und Informalität von Organisationsstrukturen in Betracht, dann erscheinen Rechtsverletzungen in der paradoxen Form eines in Prozessen der Sinnzuschreibung erst retrospektiv konstruierten und aus Sicht der Organisation oft nützlichen Fehlverhaltens, an dessen Aufdeckung nicht unbedingt großes Interesse bestehen muss. 2. Unter dieser konzeptuellen Voraussetzung werden dann Probleme aus der Perspektive von Compliance-Managern skizziert, die für eine organisationsinterne Umsetzung strafrechtlich relevanter Erwartungen sorgen müssen. Diese Probleme entstehen unter anderem im Hinblick auf die Notwendigkeit, verbindliche Rollendefinitionen und strafrechtlich relevante Situationen festlegen -, sowie verschiedene Anspruchsgruppen gleichzeitig bedienen zu müssen, und auch daraus, Loyalitäts- und Vertrauensbeziehungen in Unternehmen nicht gefährden zu dürfen. Die Bildung und Anerkennung von Normen wird hierdurch erschwert. Anlass und Gegenstand dieser Problemskizze sind Beobachtungsprotokolle, die im Rahmen eines Fortbildungsseminares zum Thema „Compliance-Management“ entstanden sind. Den beteiligten Managern gilt bspw. Compliance als "Modeerscheinung" und sie beschweren sich darüber, "klare Regeln" vorgeben zu müssen, obwohl sie die Arbeit stören und "obwohl keine explizite gesetzliche Regelung als Grundlage vorliegt" (für Korruption). 3. Aus der Analyse dieser Protokolle lassen sich Rückschlüsse auf die veränderte Funktion des Strafrechts ziehen. Die aus den Beobachtungen abgeleitete These lautet, dass strafrechtsbezogene, neuere Regulierungsversuche im Bereich der Wirtschaftsdelinquenz daran scheitern, Erwartungssicherheit herzustellen und verbindliche Orientierungsmaßstäbe zu liefern: Rechtsnormen können im Rahmen von Compliance kaum in praktikable Handlungsvorgaben für die unternehmerische Praxis umgesetzt werden. Den Unternehmen erwächst dadurch zwar ein erhebliches Verunsicherungspotenzial, ihnen wird aber auch mehr Spielraum eingeräumt darin, Devianz selektiv selbst zu erzeugen bzw. zuzuschreiben. Strafrecht scheitert letztlich somit darin noch mehr als zuvor, den Bereich der Ökonomie zu kontrollieren.

15:00
Kommentar
SPEAKER: Jens Puschke

ABSTRACT. Kommentar

14:30-16:00 Session 2C: Sozialrecht, Solidarität, soziale Ungleichheit

Track "Soziale Ungleichheit". Organisiert von Sergio Costa und Kolja Möller.

Location: Seminarraum 1.308, Universitätsgebäude am Hegelplatz, Dorotheenstr. 24, 3. OG
14:30
Versprechungen des Rechts zur Beseitigung der Kinderarmut, Konterkarierungen durch die Rechtsanwendung
SPEAKER: unknown

ABSTRACT. Kinderarmut ist ein weltweites Problem. Sie betrifft nicht nur Kinder in wirtschaftlich schwachen Staaten teilweise mit absoluter Armut, sondern auch Kinder in wirtschaftlich erfolgreichen bis wohlhabenden Staaten mit relativer Armut. Nach der 2015 veröffentlichten Studie des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) im Auftrag der Bertelsmann-Stiftung ist in  Deutschland das Leben von 2,6 Millionen Kindern von Verzicht und Mangel in Folge von Einkommensarmut geprägt.

Das Ausmaß der Kinderarmut ist angesichts der Rechts- und Gesetzeslage schwer zu erklären. Die Kinderkonvention (Con­ven­tion on the Rights of the Child, CRC) vom 20.11.1989 ist von allen Mitgliedsstaaten der Vereinten Nationen (UN) abgesehen von den USA ratifiziert, also auch von Deutschland. Nach Art. 27 der Kinderkonvention haben die Vertragsstaaten damit das Recht jedes Kindes auf einen seiner körperlichen, geistigen, seelischen, sittlichen und sozialen Entwicklung angemessenen Lebensstandard anerkannt und sich verpflichtet, gemäß ihren innerstaatlichen Verhältnissen und im Rahmen ihrer Mittel geeignete Maßnahmen zu treffen, um den Eltern und anderen für das Kind verantwortlichen Personen bei der Verwirklichung dieses Rechts zu helfen und bei Bedürftigkeit materielle Hilfs- und Unterstützungsprogramme vorzusehen.

Zur Umsetzung der Kinderkonvention soll z.B. im Zivilrecht das Unterhaltsrecht dafür sorgen, dass die Kinder einen Unterhalt erhalten, der ihren gesamten Lebensbedarf einschließlich der Kosten einer angemessenen Vorbildung zu einem Beruf und der Erziehung umfasst. Das Steuerrecht soll z.B. die Leistungsfähigkeit der Eltern stärken durch Steuerfreistellung des Existenzminimums über das Kindergeld. Können Eltern wegen fehlender Leistungsfähigkeit den Kinderbedarf nicht aufbringen, soll  z.B. der notwendige Lebensunterhalt für Kinder über das Sozialrecht in Form von Sozialgeld oder Sozialhilfe gesichert sein.  

Angesichts dieser Versprechungen des Rechts sollte es eigentlich keine Kinderarmut mehr geben dürfen. Dass dies leider nicht der Fall ist, dürfte damit zusammenhängen, dass in der Rechtswirklichkeit die  tatsächlich gehandhabte Rechtsanwendung den Kinder kaum zu ihrem notwendigen Lebensbedarf, ihrem Existenzminimum verhilft, geschweige denn zu  ihrem angemessenen Lebensbedarf.

Die Rechtsanwendung konterkariert damit das Recht jedes Kindes auf seinen angemessenen Lebensstandard und entmutigt bei den Versuchen der gerichtlichen Durchsetzung eines notwendigen bis angemessenen Kinderbedarfs mit der Folge von Resignation bei RechtsanwältInnen, Jugendämtern und Wohlfahrts- und Kinderrechteverbänden. Die Frage ist, ob bzw. wie die Desillusionierung über die Realisierung von Recht beseitigt werden könnte.

14:45
The Human Right to a Decent Social Minimum: A Legal Way of Social Inequality Alleviation?

ABSTRACT. The paper is devoted to the right to a decent social minimum, which includes a set of guarantees aimed at protecting persons from extreme poverty; enabling them to lead a decent life; ensuring their involvement in society and access to shared material and intellectual values; and, in the final analysis, providing the opportunity for their moral and intellectual flourishing. Modern literature and international legal practice proceed from the assertion that the right to a decent social minimum is inextricably connected to, and presupposed by, the right to life, and acts as a guarantee of its effectiveness. However, there is still no precise definition of the content and status of the right to a decent social minimum and its particular components. Second-generation human rights that constitute a composite human right to a decent social minimum (the rights to adequate food, water, sanitation, housing, clothing, health care, and education) are still criticized as a “manifesto rights” and currently represent one of the most unfulfilled categories of human rights. One of the fundamental reasons for their violation is that their formulations in international human rights documents, аs well as in the laws of the certain states, are too vague and extensive, and go far beyond what is necessary for a minimally decent life. For instance, there is a widely held point of view that human rights guarantees of a secure access to decent social minimum should substantially reduce social inequality. There is no doubt that the right to a decent social minimum is a legal way of poverty and inequality alleviation. However, it is necessary to specify what kind of inequality the right is aimed to combat. This issue forms the subject of the paper, which has the following structure: first, I develop an idea that it is necessary to distinguish between two interpretations of equality: distributive equality and equality of status; I argue then that it is equality of status that is the key idea of the demand for a decent social minimum and show why this idea is important for understanding the content and status of the right to a decent social minimum; thirdly, I examine two principles essential for the right to a decent social minimum: the principle of sufficiency and the principle of non-discrimination; finally, I show what rules of distributive equality derive from equality of status and correspond to a decent social minimum.

15:00
Erwerbslosenrechte und kollektive Akteure im Sozialstaat

ABSTRACT. Auf nationalstaatlicher Ebene bestehen in den meisten industrialisierten Ländern Rechte auf soziale Sicherung, die auch der Bekämpfung von sozio-ökonomischer Ungleichheit dienen sollen. Ob sozio-ökonomische Ungleichheit aber mittels Recht verringert werden kann oder ob Recht letztlich immer die ökonomisch Stärkeren privilegiert, ist in der rechtstheoretischen und rechtssoziologischen Literatur nicht geklärt. „A fax machine would work just as well for a shop-floor worker if she had the need and opportunity to use it, as it does for an executive. Is the law like that?“ (Cain 1994, The symbol traders, S. 40) Dabei fehlen systematische Untersuchungen über die Wirkungen von sozialen Rechten und Rechten auf soziale Sicherung als ein Unterfall. Mit einer eigenständigen und gebührenfreien Sozialgerichtsbarkeit, Art. 95 Abs. 1 GG, sind Rechte auf soziale Sicherung in Deutschland institutionell stark ausgebaut. Mit dem Rechtsstaats- und dem Sozialstaatsprinzip enthält das Grundgesetz auch eine sozialstaatlich-rechtliche Versprechung. Deren materieller Gehalt ist jedoch schwach ausgestaltet, subjektive soziale Rechte fehlen im Verfassungstext und wurden nur durch die Rechtsprechung als Recht auf ein sozio-kulturelles Existenzminimum entwickelt. Dessen Höhe hat  das Bundesverfassungsgericht 2010 weitgehend der Legislative überantwortet. Nichtsdestotrotz spielt sich seit der Hartz IV-Reform in den unteren Instanzen ein Dauerkonflikt um Alg II-Leistungen ab; seit 2005 ist die Sozialgerichtsbarkeit mit sehr zahlreichen Klagen von Bürger_innen gegen Jobcenter beschäftigt. Protest, der in der Phase der Gesetzgebung 2003 und 2004 auf der Straße stattfand, findet nun in den Gerichten statt. Der hohen Klagezahl entsprechend ist auch die Nachfrage nach Rechtsberatung gestiegen und beeinflusst die Sozialrechtsberatungslandschaft. Hier sind neben Anwält_innen auch Gewerkschaften und Sozialverbände aktiv, weiterhin Erwerbsloseninitiativen und Kirchen. Gewerkschaften und Sozialverbände sind auch zur gerichtlichen Rechtsvertretung befugt – eine weitere Besonderheit des sozialgerichtlichen Prozessrechts. Rechtsberatung und -vertretung wird damit nicht nur von Anwält_innen als individuellen Akteuren, sondern auch von kollektiven gesellschaftlichen Akteuren geleistet. Diese kollektiven Akteure sind auch rechtspolitisch tätig. Sie nehmen für sich in Anspruch, auch die Interessen von Erwerbslosen zu vertreten, insofern erscheint eine Rückübersetzung der individuellen gerichtlichen Konflikte in den legislativ-politischen Bereich möglich. In dem vorgeschlagenen Konferenzbeitrag soll untersucht werden, ob gegenwärtig eine solche Rückübersetzung durch Gewerkschaften und Erwerbsloseninitiativen stattfindet und wie diese beiden kollektiven Akteure, die sich sehr umfänglich zur Hartz IV-Reform positioniert haben, mit dem hohen Klageniveau umgehen. Die Untersuchung erfolgt anhand von Interviews mit Gewerkschaften und Erwerbsloseninitiativen auf lokaler und auf Bundesebene sowie von Organisationsmaterial dieser Akteure. Damit sollen Erkenntnisse über die Bedeutung der rechtlichen Struktur des bundesdeutschen Sozialstaats für die Organisierung kollektiver Interessen von Erwerbslosen gewonnen werden. Die Ergebnisse werden im Kontext der Frage, inwiefern Recht zur Bekämpfung sozio-ökonomischer Ungleichheit überhaupt geeignet ist, interpretiert.

15:15
Europäer in Deutschland: Ermessenserwägungen zu Menschenwürde und europäischer Solidarität
SPEAKER: Judith Dick

ABSTRACT. Das Verhältnis von Justiz und Verwaltung ist immer wieder spannungsreich, manchmal ist diese Spannung gar als Rechtspluralismus beschrieben worden. Derzeit gehen Sozialgerichte und Jobcenter immer wieder unterschiedlich mit arbeitsuchenden EU-Bürger/innen um. Die europarechtlichen Fragen sind zahlreich und umstritten. Es geht unter anderem um die Anwendbarkeit des EFA und der Ausschlussklausel in § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II angesichts von Arbeitnehmerfreizügigkeit und Gleichbehandlungsgrundsatz. Solange europarechtliche Fragen offen sind, kann nach § 40 SGB II iVm § 328 SGB II vorläufig Arbeitslosengeld II gewährt werden. Damit stellt sich die Frage, ob der nationalrechtliche Leistungsausschluss angewendet werden soll oder das Ermessen angesichts existenzsichernder Leistungen auf Null reduziert ist und ein Anspruch auf eine vorläufige Leistungsbewilligung besteht? (LSG Berlin-Bbg) In dieser Frage überlappen sich die Spannungen von Verwaltung und Justiz mit jenen von nationalem und europäischem Normgeber. Der Vortrag hinterfragt über die dogmatischen Fragen hinaus, wie mit diesem Ermessen in der Verwaltung umgegangen wird und inwieweit Haltungen zu Menschenwürde und europäischer Solidarität der Sachbearbeitenden hierbei eine Rolle spielen.

14:30-16:00 Session 2D: Recht - Geschlecht - Kollektivität. Prozesse der Normierung, Kategorisierung und Solidarisierung

Track "General Papers". Organisiert von Beate Binder and Eva Kocher.

In diesem Panel wollen wir ein interdisziplinäres Forschungsvorhaben zur Diskussion stellen, in dem wir unter anderem analysieren und fragen: Wie strukturieren Recht und Geschlecht soziale Kollektive? Wie sind Prozesse der Kollektivierung und Konzepte von Kollektivität durch Recht und Geschlecht geprägt? In welchen Weisen verschränken sich dabei rechtliche Dimensionen mit geschlechtsbezogenen Aspekten? Und wie stellen sich aktuelle gesellschaftliche Konflikte dar, wenn ein vertieftes Verständnis normierter und vergeschlechtlichter Kollektivierungsprozesse zugrunde gelegt wird? Mit diesen Leitfragen verfolgt die geplante interdisziplinäre Forschungsgruppe von Rechtswissenschaftler_innen, Europäischen Ethnolog_innen und Soziolog_innen das Ziel, die Schnittstellen von Recht als soziokulturellem Diskurs- und Handlungszusammenhang und von Geschlecht bzw. Gender als wirkmächtiger sozialer Norm und Strukturkategorie zu fokussieren. Damit soll ein theoretischer Mehrwert sowohl für die Rechtsforschung als auch für die Geschlechterforschung erzielt werden. Wir möchten in dem Panel unseren Ansatz sowie einige der Teilprojekte präsentieren und diskutieren.

Chair:
Location: Seminarraum 1.502, Universitätsgebäude am Hegelplatz, Dorotheenstr. 24, 5. OG
14:30
Recht kollektiv denken. Forschungsfragen
SPEAKER: Susanne Baer

ABSTRACT. Die Dimension des Kollektiven spielt im Recht vielfach eine Rolle, leidet aber auch unter Vorbehalten. Das zeigt der Grundrechtsschutz für Versammlungen (Art. 8 GG), Vereine (Art. 9 I GG) oder Koalitionen (Art. 9 III GG), aber auch die Abneigung gegen kollektiven Rechtsschutz (Verbandsklage). Kritische Forschung - wie in den Gender Studies oder den Critical Race Studies - macht uns zudem auf das Problem erzwungener Kollektividentitäten aufmerksam, was die Suche nach postkategorialem Antidiskriminierungsrecht - gegen jeden rechtlichen Gruppismus - informiert. Der Beitrag geht der Frage nach, wie sich das Kollektive nicht zuletzt für die empirische Rechtsforschung systematisch fassen lässt.

14:45
Knotenpunkt Kollektiv. Geschlecht, sexuelle Orientierung und geschlechtliche Identität als soziale Gruppe(n) im europäischen Asylrecht
SPEAKER: Petra Sußner

ABSTRACT. „Homosexualität als Verfolgungsgrund darf geprüft werden!“ So lautete eine Schlagzeile nach der Entscheidung des EuGH am 7. November 2013 (Rechtssachen C-199/12 bis C-201/12). Für das vorlegende Gericht, den niederländischen Raad van State, handelte es sich freilich um keine rechtliche Neuigkeit. Bereits im Jahr 1981 hatte dieser als weltweit wohl erstes Gericht eine Asylgewährung mit sexueller Orientierung begründet. Abgesehen davon hat der Hohe Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen der Vereinten Nationen – UNHCR – im Jahr 2012 die Guidelines on International Protection No. 9 herausgegeben; sie widmen sich nicht nur dem Verfolgungsgrund sexuelle Orientierung, sondern sprechen auch geschlechtliche Identität an.

Mit Blick auf den asylrechtlichen Geschlechterbegriff liegt darin eine Auffächerung. Im Rahmen der Rechtsprechung der Vertragsstaaten der Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) entwickelt, konzentrierte sich die Anerkennung geschlechtsspezifischer Verfolgung in ihren Anfängen auf die heterosexuelle Cis Frau als das zu schützende Rechtssubjekt. Die Anerkennung von Anträgen, die sich auf Homosexualität stützen, machte ein erstes Hinterfragen dieses heteronormativen Blickregimes notwendig. Mit dem expliziten Hinzutreten von geschlechtlicher Identität scheint das Asylrecht nun auch die Dualität seines Geschlechterbegriffs aufzubrechen.

Tatbestandlicher Anknüpfungspunkt dieser Auffächerung ist der Flüchtlingsbegriff des Art. 1 A Z 2 der GFK. Er nennt weder Geschlecht, noch sexuelle Orientierung oder geschlechtliche Identität als entscheidungsrelevanten Verfolgungsgrund. Doch er ist über den Verfolgungsgrund der Zugehörigkeit zu einer so genannten sozialen Gruppe entwicklungsoffen angelegt und hat der Rechtsprechung den entsprechenden Anknüpfungspunkt geboten.

Damit steht die Auffächerung des asylrechtlichen Geschlechterbegriffs ausdrücklich im Rahmen eines Kollektivkonstrukts und dafür interessiert sich dieser Beitrag im Kern. Rechtstheoretischer Ausgangspunkt ist für ihn der Blick auf die Ambivalenzen, die rechtliche Anerkennungsprozesse mit sich bringen. So haben unter anderem feministische Rechtswissenschaft und Queer Legal Theory deutlich gemacht, in welchem Spannungsfeld sich rechtliche Anerkennung und Normierung bewegen; Ausschlüsse werden durch Benennung reproduziert, über den Anerkennungsprozess verschoben und (re)konstruiert. 'To have a right as a woman is not to be free of being designated and subordinated by gender’, hat es Wendy Brown einmal auf den Punkt gebracht. Gleichzeitig bringt sie damit die in der kritischen Auseinandersetzung mit rechtlicher Anerkennung vorrangige Perspektive zum Ausdruck; sie richtet sich auf Subjektivität und Identität.

Dieser Beitrag möchte bei der aktuell zu beobachtenden Auffächerung des asylrechtlichen Geschlechterbegriffs einsteigen und nach Kollektivität fragen. Zu diesem Zweck wendet er sich an ausgesuchte Entscheidungen des EuGH sowie höchstgerichtliche Entscheidungen der GFK Vertragsstaaten und befragt diese nach Ein- und Ausschlüssen; nach juristisch anerkannten Tatsachen und nach solchen, die als entscheidungsirrelevant verworfen werden. Das Hauptaugenmerk liegt auf der Frage, inwieweit die begriffliche Trennung von Geschlecht, geschlechtlicher Identität und sexueller Orientierung mit unterschiedlichen rechtlichen Schutzniveaus korreliert (damit einer Auffächerung des asylrechtlichen Geschlechterbegriffs entgegensteht) und welche Rolle das Kollektivitätskonstrukt soziale Gruppe in diesem Zusammenhang spielt; wo es im Sinn eines effektiven, dieser Auffächerung gerecht werdenden Asylrechtsschutzes nutzbar gemacht werden kann bzw. wo es Grenzen setzt und nach einer (Re)formulierung verlangt.

15:00
Selbstermächtigung und Rechtsmobilisierung. Zum Entstehen von Kollektivität in Konflikten der vergeschlechtlichten Erwerbsarbeit
SPEAKER: unknown

ABSTRACT. Prozesse der Solidarisierung unter abhängig Beschäftigten, insbesondere das kollektive Handeln und die Interessenrepräsentation durch Betriebsräte und Gewerkschaften, sind in starkem Maße sowohl verrechtlicht als auch vergeschlechtlicht. Der Beitrag fragt danach, welche Rolle das Recht in diesen Kollektivierungsprozessen spielt und wie sich das auf die Vergeschlechtlichung der Kollektivierungen auswirkt. Fokus sind dabei neue Kollektivierungsprozessen im Zusammenhang mit dem Wandel der Erwerbsarbeit, insbesondere der Stärkung netzwerkartiger Koordinationsformen, wie sie sich besonders deutlich in der digitalen Arbeit zeigen: Wie konstituiert sich Kollektivität neu in Situationen einer Krise der herkömmlichen Organisationsformen Kollektivität neu durch gegenhegemoniale Bewegungen, Plattformen, Aktionen und Initiativen?

15:15
Mobilisierung von Recht durch/als Kollektivierung? Antidiskriminierungs- und Gleichstellungsrecht als institutionelle und politische Praxis. Kulturanthropologische Fallstudien
SPEAKER: unknown

ABSTRACT. Das Teilprojekt untersucht aus kulturanthropologischer, d.h. auf Akteure und Praktiken fokussierender Perspektive die Implementierung und Mobilisierung des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes (AGG). In Fallstudien wird herausgearbeitet, wie und welche Kollektivierungsprozesse durch die Mobilisierung dieses Rechts auf lokaler Ebene in Gang gesetzt werden. Dabei interessiert, wie Antidiskriminierungs- und Gleichstellungsrecht (urbane) Handlungsräume und dortige Kollektive und Organisationen gestaltet und/oder verändert. Mit gendertheoretischen Zugängen sollen dabei einerseits aus intersektionaler Perspektive die in diesem Feld wirksamen Geschlechterverhältnisse wie auch Geschlechterbilder in ihren jeweiligen Aktualisierung und Dramatisierung analysiert werden. Da Geschlechtergerechtigkeit sowie die Anerkennung sexueller Diversitäten zugleich auch Untersuchungsgegenstände des TP sind, wird andererseits analytisch wie empirisch die Verwobenheit unterschiedlicher (Selbst- und Fremd-)Kategorisierungen und das situative „Un/Doing“ unterschiedlicher Strukturkategorien sichtbar gemacht.

14:30-16:00 Session 2E: Kindschaftsrecht zwischen Biologisierung und der Anerkennung pluraler und sozialer Elternschaft – wenn gelebte Elternschaft und ‚law in the books‘ auseinanderdriften

Track "Lebensformen und Identitäten". Organisiert von Kirsten Scheiwe.

Das Kindschaftsrecht enthält (sich wandelnde) Annahmen darüber, was Kinder brauchen und was für Heranwachsende, Eltern sowie für die Gesellschaft normal, notwendig und ‚gut‘ sei. Eine Funktion des Rechts ist die schnelle Zuordnung des Kindes zu Eltern und Verwandtschaft mit den entsprechenden Rechten und Pflichten; es geht darum, die Übernahme von Unterhalts- und Sorgepflichten und die alltäglichen Versorgung und Erziehung von Kindern zu gewährleisten. Dabei können die rechtliche Zuordnung dieser Aufgaben und die tatsächliche Praxis durch Personen, die sich im Alltag darum kümmern (auch wenn sie nicht rechtliche, sondern soziale Eltern sind) auseinanderfallen. Rechtliche Zuordnungen durch das Kindschaftsrecht verändern sich mit dem gesellschaftlichen Wandel, nehmen ihn vorweg, gestalten oder ignorieren ihn. Die Zuordnung von elterlichem Status und Rechte und Pflichten der Ausübung elterlicher Sorge werden vom Gesetzgeber oder oder der Rechtsprechung argumentativ legitimiert oder apodiktisch gesetzt, zum Teil mit, zum Teil ohne Einbeziehung wissenschaftlicher Erkenntnisse und empirischer Forschungsergebnisse anderer Disziplinen. Das Panel beschäftigt sich mit dem Spannungsverhältnis zwischen der Rechtsregelung und den häufig davon abweichenden faktischen Sorgeverhältnissen. Die Grundannahme, dass die biologischen Eltern auch die rechtlichen Eltern des Kindes sein sollten, trägt wesentlich dazu bei diese Spannung zu verschärfen. Die geltenden Sorgerechtsregelungen verstärken die Problematik noch, denn sie gehen davon aus, dass Kinder idealerweise zwei Eltern haben müssten, aber auch nicht mehr als zwei Eltern haben dürfen. Die Vorträge im Panel setzen sich mit den biologistischen Grundannahmen der Rechtsregelung und mit der Frage auseinander, ob und wie ein Kindschaftsrecht geschaffen werden kann, das mit den faktischen Sorge- und Erziehungsverhältnissen stärker übereinstimmt.

Location: Seminarraum 1.601, Universitätsgebäude am Hegelplatz, Dorotheenstr. 24, 6. OG
14:30
Segmentierung und Multiplikation der Elternschaft und Kindschaft: ein Dilemma für die Rechtsregelung?

ABSTRACT. Nach einer kurzen Darstellung der Differenzierung von Elternschaft und Kindschaft wird aus sozialwissenschaftlicher Perspektive die Frage behandelt, ob die Regelungen des Familienrechts und des Verfahrensrechts in Familiensachen der bereits erfolgten Ausdifferenzierung von Elternschaft und Kindschaft und damit neuen Familienrealitäten gerecht werden. Diese Zusammenhänge werden an Hand ausgewählter Themenbereiche diskutiert: 1. Problematik der rechtlichen Definition der Elternschaft: die in den sozialwissenschaftlichen Analysen gebräuchliche Unterscheidung zwischen „genetischer“, “biologischer“, „rechtlicher“ und „sozialer“ Elternschaft findet im deutschen Familienrecht keine (konsequente) Anwendung. In diesem Beitrag werden Argumente zur Diskussion gestellt, warum die „rechtliche Elternschaft“ künftig auch im Familienrecht - entsprechend der sozialwissenschaftlichen Konzeption - „nur“ als ein Segment der Elternschaft definiert und gehandhabt werden sollte. 2. Welche Konsequenzen ergeben sich für die Rechtsregelung aus der dynamischen Entwicklung der Elternschaft im Lebensverlauf ? 3. Wie geht die Rechtsregelung mit der Realität der Mehrväter- (Mehrmütter-) familien um (aus der Perspektive der Eltern und der Perspektive der Kinder) ? 4. Pluralisierung der Kindschaft: Problematik der rechtlichen Zuordnung des Vaters bei Kindern, die simultan oder sukzessiv im Lebensverlauf mehrere Väter haben. 5. Problematik des derzeit im Familienrecht maßgebenden Familienbildes.

14:45
Brauchen Kinder immer (nur) zwei Eltern? Forschungsergebnisse in Psychologie und Soziologie und ihre Bedeutung für das Kindschaftsrecht
SPEAKER: unknown

ABSTRACT. Die Scheidungsforschung hat sich in langer Tradition mit der Frage befasst, welche Auswirkung eine Trennung der Eltern – und damit auch der eingeschränkte Kontakt des Kindes zum getrennt lebenden Elternteil – auf das Wohlergehen und die Entwicklung der Kinder hat. Wurden die Nachteile von Scheidungskindern zunächst weitgehend unhinterfragt auf das Fehlen eines Elternteils zurück geführt, so geriet zunehmend die große Bandbreiter der Involviertheit getrennt lebender Eltern – weit überwiegend waren und sind dies die Väter – in den Blick. Mit der Einführung des gemeinsamen Sorgerechts war die Hoffnung verbunden, Rechtsstreitigkeiten getrennter Eltern zu vermeiden und die Beziehung zwischen getrennt lebendem Elternteil und dessen Kind(ern) zu stärken. Mittlerweile richtet sich im Kontext der Diskussion um das Wechselmodell das Interesse verstärkt darauf, welche Bedeutung der Präsenz beider Eltern im Alltag der Kinder zukommt. Durch gleichberechtigte Teilhabe der Kinder am Leben beider Eltern soll das Kindeswohl in besonderer Form gefördert werden. Demgegenüber wird in der hiesigen Forschung der Rolle von Stiefeltern weit weniger Aufmerksamkeit geschenkt. Wenngleich diese vielfach finanzielle Verpflichtungen nicht nur für den leiblichen Elternteil, sondern auch für die Kinder übernehmen und alltägliche Sorge für die Kinder mittragen, beschränkt sich ihre Elternschaft auf das soziale Miteinander und ist juristisch in der Regel nicht abgesichert. Dieser Beitrag gibt zunächst einen Überblick über einschlägige Befunde zu Determinanten und Folgen unterschiedlicher Formen der Involviertheit getrennt lebender Eltern, insbesondere mit Blick auf das Wohlergehen der Kinder in unterschiedlichen Lebensbereichen bzw. Domänen der kindlichen Entwicklung. Hierbei wird die Involviertheit der Eltern im Kontext zahlreicher Einflussfaktoren betrachtet, die von ökonomischen Ressourcen über die Qualität der Beziehung und Kooperation zwischen den getrennten Eltern bis hin zu Merkmalen der Kinder. Besonders Augenmerk gilt dem Einfluss fortgesetzter Konflikte und wiederholter Rechtsstreitigkeiten der Eltern, die sich vielfach als Risikofaktor für die Kontakte des getrennt lebenden Elternteils zum Kind, aber auch als besonders belastend für die Kinder erwiesen haben. In einem zweiten Schritt werden aktuelle Befunde zur Entwicklung von Kindern berichtet, die in Doppelresidenz bzw. im Wechselmodell bei beiden Eltern leben. Den möglichen Vorteilen stehen nicht unbeträchtliche Voraussetzungen und Anforderungen eines solchen Arrangements gegenüber, sowohl für die Eltern als auch für die Kinder. Gleichzeitig stehen auch Fragen des Unterhalts im Raum, wenn das Konzept des hauptbetreuenden Elternteils nicht mehr zum Tragen kommt. Insofern sind auch finanzielle Ressourcen für Eltern und Kinder tangiert. Vor- und Nachteile eines solchen Arrangements werden diskutiert, wobei die Frage nach der Eignung des Wechselmodells je nach Bedürfnissen und Ressourcen der Eltern und Kinder aufgeworfen wird. Im dritten Schritt werden – überwiegend internationale – Befunde zur Rolle von Stiefeltern und deren Einfluss auf die Entwicklung von Kindern vorgestellt. Von besonderem Interesse ist die Frage, inwieweit der Stiefelternteil und der getrennt lebende Elternteil in ein Konkurrenzverhältnis zu einander treten. Ausgewählte Befunde aktueller deutscher Studien werden vorgestellt. Die abschließende Diskussion thematisiert die Inbalance im Scheidungsdiskurs, der vor allem auf die Rolle der leiblichen Eltern fokussiert und kaum dazu beiträgt, die gesellschaftliche Anerkennung sozialen Elternschaft voran zu treiben.

15:00
Andere Länder, andere Sitten? Mehr als zwei Eltern und die Anerkennung von ‚parental responsibility‘ für soziale Eltern im englischen Recht

ABSTRACT. Im Unterschied zum deutschen Recht ermöglicht es das englische Familienrecht seit dem Children Act 1989, durch Gerichtsentscheidung die elterliche Sorge (parental responsibility) auch auf dritte Personen zu übertragen, wenn sie bereits seit längerer Zeit für das Kind sorgen und dies dem Kindeswohl entspricht. Zwar können auch im englischen Recht nur zwei Personen den Elternstatus haben, aber die elterliche Sorge ist auf soziale Eltern gerichtlich übertragbar. Die stärkere Entkoppelung von Elternstatus und Elternverantwortung erklärt Masson mit den Zielen des Gesetzgebers: Der Elternstatus (parenting by being) reflektiere den Wunsch, für das Kind und den Staat Personen mit Pflichten dem Kind gegenüber zu identifizieren, unabhängig davon, welche Rolle diese im Leben des Kindes spielen oder spielen möchten. Die Elternverantwortung (parenting by doing) erkenne die Realität der Versorgung von Kindern in einer Beziehung zwischen Erwachsenen und dem Kind an. Damit sollen diese sozialen Eltern, die für das Kind sorgen und die in einer sozial-familiären Gemeinschaft mit dem Kind leben, auch die rechtlichen Möglichkeiten zur Entscheidung und Vertretung des Kindes gegeben werden, die sie im Alltag benötigen.

Aus der Perspektive des deutschen Rechts könnte man vermuten, dass dies zu noch mehr Konflikten und Auseinandersetzungen führt, wenn drei oder mehr Personen die Elternverantwortung haben. Im deutschen Recht gibt es eine starke Betonung der gemeinsamen Ausübung der elterlichen Sorge und der gemeinsamen rechtlichen Vertretung im deutschen Recht (§§ 1627, 1629 I BGB) auch bei Getrenntleben von sorgeberechtigten Eltern, wenn es um Angelegenheiten von erheblicher Bedeutung für das Kind geht (§ 1687 I BGB). Es haben sich bekanntlich die Konflikte vor den deutschen Familiengerichten gehäuft, in denen es darum geht, wer was allein entscheiden kann, weil es ‚Angelegenheiten des täglichen Lebens‘ sind, und was nicht. Die Konfliktsituationen sind im englischen Recht jedoch anders strukturiert, weil der Grundsatz der Alleinausübung der elterlichen Sorge und der Alleinvertretung unabhängig vom anderen Elternteil gilt. Es gibt einige wenige gesetzliche Ausnahmen davon, bei denen sich die Sorgeberechtigten einigen müssen. Grundsätzlich kann jedoch eine Person mit Elternverantwortung diese allein ausüben. Bei Konflikten kann das Familiengericht angerufen werden um Anordnungen zu erlassen, welche die Streitfragen regeln oder Auflagen und Verbote enthalten.

Der Grundsatz der Alleinausübung der Elternverantwortung und der Einzelvertretung im englischen Recht führt zu anderen Konfliktkonstellationen. Es gibt zunächst keine ‚Veto-‚ oder ‚Blockadeposition‘, weil die entscheidende sorgeberechtigte Person nicht von der Zustimmung der anderen abhängig ist. Wer nicht einverstanden ist, muss das Gericht anrufen. Interessant sind auch empirische Untersuchungen über Stiefelternteile in England. Obwohl es rechtlich möglich wäre, beantragen viele nicht die Elternverantwortung. Mehr noch, in Interviews stellte sich heraus, dass vielen gar nicht bewusst war, dass sie rechtlich kein Sorgerecht für das Stiefkind hatten, obwohl sie in der Praxis tagtäglich so handelten als hätten sie es (Besuche beim Arzt mit dem Kind, von Elternversammlungen in der Schule etc.). Die Alltagserfahrungen von Stiefelternteilen in Deutschland sehen anders aus (auch wenn sie das sog. ‚kleine Sorgerecht‘ haben).

Die unterschiedliche rechtliche Anerkennung sozialer Elternschaft und ihre Auswirkungen auf Recht und soziale Praxis werden vergleichend thematisiert und nach Erklärungen gefragt.

15:15
Die Kluft zwischen Kindschaftsrecht und Sorgeverhalten - ist sie problematisch oder nicht (und warum?)?

ABSTRACT. Nach geltendem deutschen Recht (und nach dem Recht der meisten kontinental-europäischen Länder) hat ein Kind (höchstens) zwei Eltern. Mit wenigen Ausnahmen hat die biologische Beziehung bei der Festlegung der Abstammung einen Vorrang vor sozialen Kriterien (wie z.B. dem des Willens oder des Verhaltens der Betroffenen). Die Elternschaft lässt sich nur in Ausnahmefällen von einer Person auf eine andere übertragen, und in diesen Fällen verliert die erste Person die elterlichen Rechte und Pflichten. Das Sorgerecht ist eng mit dem elterlichen Status verknüpft: nur Eltern können sorgeberechtigt sein.

Es gibt immer eine Kluft zwischen der Rechtsregelung und der bunten Vielfalt des Verhaltens, aber diese spezifische Kluft wird immer weiter. Das ist hauptsächlich eine Folge des Verhaltenswandels, aber auch der Entwicklung der Gesetzgebung. Die Zunahme der Scheidungen, der (informell auflösbaren) nichtehelichen Lebensgemeinschaften, der nichtehelichen Geburten und der Familienrekonstitutionen hat dazu geführt, dass es immer mehr Kinder gibt, die nicht mit beiden Eltern zusammenleben, aber auch immer mehr Kinder, die (mit)versorgt und erzogen werden von Erwachsenen, die nicht den elterlichen Status haben. Das Auseinanderdriften von Recht und Verhalten ist durch eine Rechtsentwicklung verschärft worden, die biologische statt sozialer Kriterien der Vaterschaftszuordnung betont, und die von dem Grundsatz ausgeht, dass ein einmal begründetes gemeinsames Sorgerecht für immer gemeinsam bleibt.

Das Recht ist da um Verhalten zu normieren, nicht um es nachzuahmen, und eine Diskrepanz zwischen Rechtsnorm und Verhalten ist daher nicht per se problematisch. Die existierende Rechtsregelung verursacht aber massive praktische Probleme: Sie versagt Personen, die Verantwortung für Kinder übernehmen, die rechtlichen Instrumente, die notwendig sind um die elterlichen Aufgaben im Rechtsverkehr mit Dritten zu übernehmen, und sie unterschätzt die Komplexität sozialer Beziehungen, in denen mehr als zwei Erwachsene Teile der elterlichen Rolle erfüllen. Die vorgebrachten Argumente für den Erhalt der Regelung sind naturrechtlicher oder rechtsdogmatischer Art und beziehen sich kaum auf das offensichtliche soziale Ziel der Rechtsnormen (die Erziehung und Versorgung von Kindern zu organisieren). Das Papier diskutiert diese Fragen unter Einbeziehung von Normsetzung und empirischer Forschung aus anderen Rechtsordnungen, insbesondere England und Belgien.

14:30-16:00 Session 2F: Vermittlung vor chinesischen Gerichten und in anderen Organisationen

Track "Vermittlung im Konflikt". Organisiert von Alfons Bora, Justus Heck und Fritz Jost.

Location: Seminarraum 1.405, Universitätsgebäude am Hegelplatz, Dorotheenstr. 24, 4. OG
14:30
Mediation und prozessuale Streitentscheidung in China

ABSTRACT. Parallel zum Übergang Chinas zu einer Marktökonomie wurde dessen Justiz ausgebaut. Gerichtsverfahren wurden in stärkerem Maße rechtlich formalisiert und eine große Menge neuer Gesetze verabschiedet; in der juristischen Ausbildung trat die Vermittlung der Fähigkeit zur Anwendung formalen Rechts in den Vordergrund (vgl. Minzner 2011: 941f.). Komplementär zu dieser Entwicklung trat die Konfliktlösung durch Mediationsverfahren, die im Maoistischen China dominierte, immer mehr zurück. Dieser Trend kehrte sich etwa ab 2006 um. Seitdem werden Mediationsverfahren gegenüber der prozessualen Streitentscheidung offiziell als oft vorzuziehende Alternative propagiert (vgl. Waye und Xiong 2011: 24).

Für die erneute Privilegierung von Mediationsverfahren bieten sich zwei scharf kontrastierende Deutungshypothesen an:

1) Dieser Trend könnte verstanden werden als Fortsetzung des Modernisierungsprozesses im Bereich des Rechts, der auf die einfachere und kostengünstigere Bewältigung der enorm gestiegenen Fallzahlen sowie auf die Absenkung der Barrieren des Zugangs zu formal geregelten Konfliktbearbeitungsverfahren zielt, ohne das erreichte Niveau der Ausdifferenzierung des Rechts infrage zu stellen. Gestützt auf den auch in westlichen Ländern zu beobachtenden Trend zur wachsenden Relevanz alternativer Formen der Streitbeilegung, könnte man darin zugleich die Durchsetzung eines „weltkulturellen“ Entwicklungsmusters im Sinn von J.W. Meyer sehen.

2) Die entgegengesetzte Deutung könnte die erneuten Favorisierung nichtstreitiger Formen der Konfliktbeilegung als Versuch zur Re-etablierung einer primär auf politische Gesichtspunkte verpflichteten Form der Konfliktregelung begreifen, welche die Relevanz formalen Rechts für die Lösung von Konflikten systematisch marginalisiert und auf diese Weise die relative Autonomisierung rechtlicher Konfliktbearbeitung durch Austrocknung des Zuflusses an Fällen zurücknimmt.

Vor dem Hintergrund dieser konträren Hypothesen soll eine spezifische und im Blick auf die Fragestellung besonders aussagekräftige Form der Mediation untersucht werden: die gerichtliche Mediation. Insbesondere durch die Untersuchung der Kriterien, die der Oberste Volksgerichtshofs Chinas für die Auswahl der durch Mediationsverfahren beizulegenden Konflikte nennt, sowie anhand der Gesichtspunkte, die bei Vereinbarungen zur gütlichen Beilegung von Konflikten zu beachten sind, soll geklärt werden, inwiefern sich darin die Tendenz niederschlägt, Recht als primäre Orientierungsgrundlage der Konfliktbearbeitung zurückzudrängen.

Das vorläufige Zwischenergebnis dieser Untersuchung lässt sich in einer Weise zusammenfassen, die auf eine modifizierte Fassung der Hypothese 2 hinauszulaufen scheint: Die systematische Privilegierung der Mediation ist strukturell auf die Ermöglichung eines Konfliktlösungsverfahrens hin angelegt, das Einigungen auf der Basis situationsnaher und opportunistisch auswählbarer Gesichtspunkte ohne Bindungswirkung über den jeweiligen Einzelfall hinaus erlaubt. Auf diese Weise wird eine Praxis flexibler Streitbeilegung etabliert, die insbesondere für die ad-hoc Berücksichtigung aktuell politisch relevant erscheinender Kriterien offen ist.

Literatur: Minzer, Carl F. (2011): China’s Turn Against Law, in: The American Journal of Comparative Law, Vol. 59, No.4, S. 935-984. Waye, Vicki, Xiong, Ping (2011): The Relationship between Mediation and Judical Proceedings in China, in: Asian Journal of Comparatie Law, Vol. 6, No. 1, S.1-34.

14:45
Why Chinese Trial Judges Opt for Mediation
SPEAKER: Yedan Li

ABSTRACT. This contribution explores why Chinese trial judges are fond of mediating cases assigned to them for trial. Compared with Western trial judges, Chinese judges have wider discretion to switch between mediation and adjudication. Article 94 of the Chinese Civil Procedure Law states, “when the people’s court conducts mediation, a single judge or a collegial panel may preside over it.” Chinese trial judges can thus legally mediate cases while they are trying them. Chinese trial judges have strong preference for mediation, and this preference is frequently explained by the Chinese culture, namely the combination of Confucianism and Communist ideology in the country’s history. However, as there is no longer a legal vacuum and formal civil litigation rules have been established in China, even though mediation still infiltrates court procedures, mediation and adjudication are nowadays relatively separate and follow different rules. This article uses empirical data analysis to explore why Chinese judges may or may not push for the mediation process in the cases assigned to them for trial. This study shows that judges’ choice between mediation and adjudication depends very much on the individual judge’s perspective. The disputants have little say in choosing the dispute resolution path. It is a judge-dominated system, so it is not surprising that the judge’s view matters most. In current scholarship, scholars tend to consider that the “mediation rate set by the court administrators” is the prime reason for judges to prefer mediation over adjudication. Indeed, judges base their decisions on the incentives the performance measurement put upon them. However, the mediation rate is just one criteria the evaluation of their performance is based on. Other criteria include the worries of having a wrong case, time judges spend on dealing with the case etc. The nature of the Case Quality Evaluation System is bureaucratic control of courts. For that reason, even if the mediation rate target alone is removed from the judges’ work performance evaluation system, there will not be a sharp drop in the trial judge mediation rate.

15:00
Mediation in Organisationen – Die Reparatur von Kontaktsystemen
SPEAKER: unknown

ABSTRACT. Ausgehend von zunehmender Verbreitung und Professionalisierung der Mediationstätigkeit in Wort und Tat zeigt sich, dass in anwachsendem Maße auch Organisationen die Leistungen professioneller Streitbearbeitungsexperten in Anspruch nehmen, um Konflikte zwischen ihren Mitgliedern mediieren zu lassen. Diese Inanspruchnahme mag verwundern, da Organisationen über formale Wege der Konfliktbearbeitung verfügen, etwa die Entscheidung des Vorgesetzten, oder informale, die über Normen der Kollegialität gesteuert werden (Luhmann 1999: 239ff.). Das Phänomen soll aus organisationssoziologischer Sicht und unter Rekurs auf einen breiten Mediationsbegriff beleuchtet werden. Wir wenden uns gegen die „Nullhypothese“, dass es sich bei der Organisationsmediation um Etikettenschwindel handelt, dass also de facto gar nicht mediiert wird, sondern unter diesem Deckmantel bloß Coaching, Supervision oder „betreutes Heulen“ stattfindet. Wir möchten zeigen, wie stark die innerbetriebliche Mediation von der Organisation überschattet wird. So ist etwa die Teilnahme nur „quasifreiwillig“ und der delegierte Konflikt erscheint immer als persönlich, nicht aber als strukturell veranlasst. Ferner möchten wir auf Folgeprobleme verweisen, die aus Mediationsvereinbarungen erwachsen können, z.B. dass die Einhaltung der Vereinbarung eine neue Konfliktquelle darstellt, oder dass die im Kontaktsystem neu oder erneut eingezogenen Rücksichten der innerbetrieblichen (Rollen-)Differenzierung abträglich sind. Auf Grundlage von Interviews mit Organisationsmediatoren schließen wir, dass sehr wohl mediiert wird, allerdings unter der Prämisse einer Reparatur von Kontaktsystemen (vgl. zum Begriff Luhmann 1983: 75ff.). Ungeachtet der wirklichen Ursache werden Konflikte, bevor sie als informale Konflikte in die Mediation gegeben werden, zunächst in einen persönlichen Konflikt transformiert. Darin, dass es sich um etwas Persönliches handelt, das nicht mit der Berufsrolle selbst zusammenhängen kann, sind sich die Streitparteien wie auch ein evtl. relevanter Vorgesetzter einig. Damit stellt die Organisation sicher, dass nicht über formale Systemstrukturen verhandelt wird. Dieser Strukturenschutzmechanismus scheint sehr robust zu sein. So werden etwa in der Mediationsinteraktion durch den Mediator aufgezeigte, die Streitparteien eigentlich persönlich entlastende und entschuldigende, strukturelle Streitursachen in der Regel übereinstimmend nicht akzeptiert. Die Mediation transformiert die Konflikte schließlich in Interessenkonflikte, die für gewöhnlich durch Mediationsvereinbarungen, die sich auf das zukünftige Interaktionsverhalten der Beteiligten beziehen, beigelegt. Forschungsleitend ist zudem die Analogie von Rechtssystem und Mediation auf der einen und formaler Struktur der Organisation und Mediation auf der anderen Seite. Die Formalstruktur einer Organisation lässt sich als ihr Recht begreifen (Luhmann 2008: 116ff.; insb. S.131). Sie ist in sich zwingend widerspruchsfrei konstruiert, wird sie doch u.a. dazu verwendet, um über die Mitgliedschaft zu entscheiden. Kommt es in der Organisation zu gegensätzlichen Auffassungen darüber, wer Recht hat, kann eindeutig zugunsten einer Seite entschieden werden. In der Regel sind diese Entscheider Vorgesetzte, die mit Berufung auf die Formalstruktur und damit verbundenen Folgeproblemen feststellen, wer im Streit gewinnt oder unterliegt. Wie bei dem (Spannungs-)Verhältnis von Mediation zum Rechtssystem, so finden sich im Bereich der Mediation in Organisation ähnliche Problemstellungen. Die Konflikte werden etwa als strukturirrelevant markiert: im Falle der Organisation als Konflikt zwischen Personen, im Falle der Gesellschaft als nicht von öffentlichem Interesse.

Luhmann, Niklas (1999[1964]): Funktionen und Folgen formaler Organisation. Berlin: Duncker & Humblot. Luhmann, Niklas (1983[1969]): Legitimation durch Verfahren.Frankfurt a. Main: Suhrkamp. Luhmann, Niklas (2008[1972]): Rechtssoziologie. Wiesbaden: VS Verl. für Sozialwiss.

14:30-16:00 Session 2G: Verfassungsgerichte und andere non-majoritarian institutions I: Theoretische und konzeptionelle Perspektiven
Location: Seminarraum 1.406, Universitätsgebäude am Hegelplatz, Dorotheenstr. 24, 4. OG
14:30
Systembildung und Internationale Schiedsgerichte: Mögliche Legitimationsketten?
SPEAKER: Vincent Pál

ABSTRACT. Das Spannungsverhältnis zwischen staatlichem Regulierungsbedürfnis und privaten Interessen in einem transnationalen Kontext steht im Zentrum einer gesellschaftsweiten Diskussion, die nun ihrerseits Ländergrenzen überschreitet. Internationale Gerichte und Schiedsgerichte geraten dabei zunehmend in die Kritik. Kern der Debatte ist die Möglichkeit anderer Staaten und ausländischer privater Akteure, auf internationaler Ebene gegen einen Staat und – unter Umständen – auch gegen dessen nationales Recht wegen der Verletzung eines bilateralen oder multilateralen Abkommens vorzugehen. Oftmals handelt es sich dabei um Streitigkeiten, die in den jeweiligen Staaten eine verfassungsrechtliche Dimension aufweisen und damit deren öffentliches Interesse anbelangen.

Ein konkretes Beispiel ist die Einführung von Gesundheitswarnungen auf Zigarettenpackungen oder deren genormter Einheitsverpackung (plain packaging). Entsprechende gesetzliche Pflichten für die Tabakindustrie wurden inzwischen von einer Vielzahl von Staaten eingeführt. In jüngster Zeit sehen sich vor allem Uruguay und Australien juristischen Angriffen, die solche Regelungen anfechten, ausgesetzt. Diese Verfahren werden unter dem Dach der WTO und vor internationalen Schiedsgerichten geführt. Der gesellschaftspolitische Diskurs, der mit der Verabschiedung eines Gesetzes seinen Abschluss fand, wird so weiter vor Gerichte getragen. Die Souveränität eines Staates, im Sinne des öffentlichen Interesses gesetzgeberisch tätig zu werden, kann dadurch schwer beeinträchtigt werden. Hingegen kann in Bezug auf die Streitparteien die Legitimität eines solchen Schiedsgerichts durchaus hergestellt werden.

Die Judikatur internationaler Schiedsgerichte oder auch des Dispute Settlement Body der WTO haben im Laufe der Zeit Schutz- und Rechtmäßigkeitsstandards herausgearbeitet. Diese Maßstäbe bilden wiederum die Grundlage für die Prüfung staatlicher Maßnahmen. Hier kann auch von Systembildung gesprochen werden – die aber in Teilen nicht den genuin verfassungsrechtlichen Systemen und Standards entspricht. In diesem Zusammenhang ist es bemerkenswert, dass nicht-staatliche Akteure auf den Plan treten. So hat es sich etwa der Anti-Tobacco Trade Litigation Fund (Bloomberg Philanthropies und The Bill & Melinda Gates Foundation) zum Ziel gesetzt, Staaten bei der Schaffung rechtlicher Regeln zur Eindämmung des Tabakgebrauchs und bei potenziellen Klagen zu unterstützen.

Dabei wird das Spannungsverhältnis zwischen staatlichen und privaten Interessen sowie verschiedenen staatlichen und nicht-staatlichen Akteuren nicht aufgelöst, sondern weiter in ein gerichtliches Forum getragen. Unser Beitrag soll dieses Spannungsverhältnis kritisch aufbereiten sowie die gegenwärtige Diskussion und relevante Interessenlagen darstellen. Danach sollen Auswege aus diesem Dilemma gesucht werden. Dies geschieht besonders vor dem Hintergrund gescheiterter multilateraler Institutionen. Mögliche Lösungsansätze sollen einerseits privaten Interessen Rechnung tragen, andererseits aber auch über eine weitergreifende Legitimitätsgrundlage verfügen.

14:45
Ein Beitrag zur begrifflichen Neupositionierung von non-majoritarian institutions und deren Anwendung am Beispiel des Neuen Lateinamerikanischen Konstitutionalismus
SPEAKER: Franz Barrios

ABSTRACT. Der Artikel schlägt eine allgemeine begriffliche Neupositionierung von "non-majoritarian institutions" vor. Im Gegensatz zu den vorhandenen Erklärungsversuchen behauptet der Ansatz, dass die Idee von "non-majoritarian institutions" eigentlich auf eine weit komplexere Struktur von verwandten Mechanismen innerhalb des Staates hindeutet. Diese Vielfalt bedarf einer systematischen Zusammenführung. Darüber hinaus, haben  herkömmliche Theorien nicht genug unterstrichen, dass diese Mechanismen nicht nur die kurzfristig angelegten parteipolitischen Entscheidungsprozesse der gewählten Regierenden hemmen (können), sondern auch eine Hemmung des Einflusses des Volkes beinhalten können. Die Literatur hat wertvolle Analysen in Bezug auf die Prozesse und Rechtfertigungen dieser Art von Machthemmung geliefert. Sie hat sich aber sehr oft auf einzelne Mechanismen (Justiz, Regulierungsbehörden usw.) oder auf isolierte Erklärungsgründe (Expertise, Prinzip der Gewaltenteilung usw.) fokussiert. Um diese enge Sichtweise zu vermeiden, ordnet der Beitrag die Vielfalt von Variablen und Elementen, die diese besondere Art der Hemmung der politischen Macht ausmachen, systematisch neu. Somit werden die unterschiedlichen Dimensionen, die dieser Art der Hemmung politischer Macht angehören, herausgearbeitet ohne dabei deren gemeinsame Natur aus den Augen zu verlieren. Ein wichtiges Resultat dieses Unterfangens ist eine dreiteilige Klassifizierung der Mechanismen dieser besonderen Art von Machthemmung. Dies mündet in einer systematischen Unterscheidung von drei Arten von Mechanismen, die die Hemmung parteipolitischer und demokratischer Entscheidungen operationalisieren. Diese wären a) die institutionellen, b) die kapazitätsbezogenen, und c) die infrastrukturellen Mechanismen. Diese drei Arten stellen die zumindest potentiellen Hauptfamilien der Hemmung parteipolitischer und demokratischer Entscheidungsmacht in einem Staat dar. Diese neue Einteilung wird anhand eines empirischen Beispiels illustriert. Dabei wird zunächst gezeigt, wie diese neue begriffliche Anordnung eine umfassendere Evaluierung der Idee von “non-majoritarian institutions” im Rahmen des seit kurzem in Erscheinung getretenen sog. Neuen Lateinamerikanischen Konstitutionalismus (Venezuela, Ecuador und Bolivien) ermöglicht. Dieses Beispiel scheint deswegen nützlich, da die Fundierung dieser jüngsten Verfassungsreformwelle eine skeptische Haltung gegenüber jeglicher Hemmung von Macht beinhaltet, insbesondere gegenüber den “non-majoritarian institutions”. Anschließend wird gezeigt, ob der systematische Abbau dieser Mechanismen, im Rahmen dieser Reformwelle, notwendigerweise zu einem parallelen Abbau des demokratischen Prinzips geführt hat. Der neue Ansatz erlaubt eine Analyse, die nicht auf isolierte einzelne Mechanismen abzielt ("rule of law" oder "judicial review"), sondern den gesamten Komplex von, mit der Idee von “non-majoritarian institutions” verwandten, Mechanismen ins Auge fasst. Angesichts dieser Befunde wird am Ende eine erste Charakterisierung des entstehenden Staatstypus dieser Ländern in Abhängigkeit der Stellung entworfen, die  “non-majoritarian institutions” und andere verwandte Mechanismen in diesen drei Staaten eingenommen haben.

15:00
Koordination und Kontrolle: Die Funktionen der Verfassungsgerichtsbarkeit
SPEAKER: Andrej Lang

ABSTRACT. Das Wirken der Institution der Verfassungsgerichtsbarkeit in demokratisch-rechtsstaatlichen Nationalstaaten lässt sich rechtsordnungsübergreifend mit zwei zentralen Funktionen einfangen: der Koordinations- und der Kontrollfunktion. Zum einen haben Verfassungsgerichte komplexe und delikate Aufgaben der Koordination zwischen den verschiedenen Gewalten und zwischen der Zentralregierung und den föderalen Untergliederungen, zum anderen kontrollieren Verfassungsgerichte die Entscheidungen staatlicher Stellen auf die Vereinbarkeit mit den Prinzipien und Normen der Verfassung. Die Verfassungsgerichtsbarkeit erfüllt eine Koordinationsfunktion. Die Verfassung kann ihre Stabilisierungsfunktion nur erfüllen, wenn ein autoritativer Streitentscheider besteht, der abschließend entscheidet, wie die Verfassung auszulegen ist. Für die Wahl eines (Verfassungs-)Gerichts für diese Rolle sprechen aus institutioneller Perspektive die folgenden Gründe: Erstens ist die Judikative die komparativ schwächste Gewalt, die im Unterschied zur Exekutive und zur Legislative weder über „sword” noch „purse“ verfügt. Zweitens erscheinen Verfassungsgerichte institutionell komparativ besser geeignet, um den enormen Bedarf an Streitschlichtung zu befriedigen, den eine Verfassung als gesellschaftliche Rahmenordnung generiert. Drittens vermitteln die Entscheidungsformen und -prozeduren des Rechts Stabilität. Durch ihr dialektisches Wesen aus schwacher institutioneller Machtposition und der Kompetenz zur letztverbindlichen Verfassungsinterpretation eignet sich die Verfassungsgerichtsbarkeit in besonderem Maße für die Rolle eines nicht allzu machtvollen, in seiner Entscheidungspraxis auf Stabilität und Kohärenz ausgerichteten, unabhängigen und unparteilichen Garanten der Verfassungsordnung, der Streitigkeiten zwischen anderen Verfassungsakteuren autoritativ entscheidet. Verfassungsgerichte erfüllen auch eine Kontrollfunktion. Sie sind mit der Mission beauftragt, die Vereinbarkeit staatlicher Maßnahmen mit den Prinzipien und Normen der Verfassung zu kontrollieren. Die Verfassungsgerichtsbarkeit zeichnet sich durch distinktive institutionelle Verfahrensvoraussetzungen und Grundlagen der Entscheidungsfindung aus, die prinzipientreues Handeln begünstigen und die das Verfassungsgericht dazu prädestinieren, als “forum of principle” allgemeine und abstrakte Prinzipien mit Inhalt zu füllen, weiter zu entwickeln und ihre herausragende Bedeutung für das Gemeinwesen herauszustreichen. Als ein zusätzliches, nachgeschaltetes Entscheidungsforum treffen sie Entscheidungen aufgrund anderer Erwägungen und unterschiedlicher Verfahren als das Parlament oder die Regierung. Verfassungsgerichte erfüllen ihre Kontrollfunktion maßgeblich durch diskursive Normverbreitung und -internalisierung: Wie ein Wegweiser, der – für ein von anderen gewähltes Ziel – einen Weg vorgibt, ihn aber nicht selbst beschreitet, und auch nicht kontrollieren kann, ob der Weg tatsächlich beschritten wird, lenkt das Verfassungsgericht die gewählte politische Entscheidung durch sein Urteil in eine bestimmte Richtung, kann aber danach – weil es als Gericht nur auf Anrufung tätig werden kann – den Fortgang des politischen Entscheidungsprozesses nur begrenzt beeinflussen. Zwar hat verfassungsgerichtliche Normenkontrolle politische und institutionelle Kosten, insbesondere lässt sich eine sukzessive Ausweitung der verfassungsgerichtlichen Entscheidungskompetenzen zu Lasten politischer Entscheidungsträger beobachten, die sich mit der Rolle des Verfassungsgerichts als Streitentscheider in einem triadischen Konfliktlösungsmodell begründen lässt. Allerdings ist das Verfassungsgericht als Institution in einen größeren, den Richtern stetig präsenten politisch-institutionellen Kontext eingebettet, der seine Stellung begrenzt und den es im Rahmen seiner Entscheidungen berücksichtigen muss, wenn es seinen fortgesetzten Einfluss nicht aufs Spiel setzen will.

15:15
Kommentar

ABSTRACT. Kommentar

14:30-16:00 Session 2H: Entwicklungszusammenarbeit und Rechtsstaatsförderung

Track "Recht und Entwicklung". Organisiert von Philipp Dann, Michael Riegner, Julia Eckert, Christian Boulanger

Location: Seminarraum 1.501, Universitätsgebäude am Hegelplatz, Dorotheenstr. 24, 5. OG
14:30
Immer weiter Richtung Rechtsstaat? Justizielle Entwicklungszusammenarbeit am Beispiel des Kosovo
SPEAKER: Julie Trappe

ABSTRACT. In der Außenpolitik der EU nimmt die Entwicklungspolitik eine Schlüsselstellung ein. Weltweit ist die EU der größte Geber von Entwicklungshilfe. Eine Säule der Entwicklungspolitik stellt der Bereich Recht und Justiz dar. Die EU unterstützt Beitrittskandidate und solche Staaten, die es werden wollen beim Aufbau rechtsstaatlicher Strukturen. Dies geschieht insbesondere durch das Heranführungsinstrument IPA (Instrument for Pre-Accession Assistance). Jährlich stellt die EU Millionenbeträge zur Verfügung, um die Partnerstaaten an europäische Standards heranzuführen und eine Übernahme des acquis communautaire zu fördern. Ziel der Programme ist es, nachhaltig stabile Strukturen in Verwaltung und Justiz aufzubauen. Deutschland ist dabei ein wichtiger Player. Die deutsche Rechtsordnung und das deutsche Justizsystem genießen einen guten Ruf und gelten vielfach als Vorbild. Deutsche Beratung wird gern angenommen und oftmals angefordert. Deutsche Institutionen spielen somit eine tragende Rolle in der justiziellen Entwicklungszusammenarbeit der EU. Deutsche Berater sind präsent im Business der internationalen Rechtsberatung. Sie transportieren europäisches Standards und best practices aber auch deutsches Recht. In unzähligen Projekten findet dieser Rechtstransfer statt. Aber was bedeutet das konkret? Wie laufen diese Transferprozesse in der Praxis ab? Wie erfolgt die Annäherung an europäische Standards? Welche Probleme stellen sich in der täglichen Arbeit? Welche Rolle spielen Sprach- und Landeskenntnisse? Was bedeutet das Erreichen von Benchmarks? Wer beurteilt und auf welcher Grundlage, ob die gesteckten Ziele erreicht sind? Welche Rolle spielt eine Konkurrenz der Rechtsordnungen? Welche Maßstäbe sollten gelten, um einen sinnvollen Transfer zu gewährleisten und keinen missionarischen Export von Recht? Der Beitrag befasst sich mit diesen Fragen am Beispiel des Kosovo. Dabei wird ein rechtsanthropologischer Ansatz verfolgt und das Phänomen der rechtlichen Entwicklungszusammenarbeit aus der Nahaufnahme betrachtet. Ausgehend von der praktischen Beratungserfahrung analysiert der Beitrag kritisch die tägliche Arbeit des Rechtstransfers. Das Beispiel Kosovo ist besonders interessant, da hier so viel internationale Rechtsberatung stattfindet, wie sonst nirgendwo. Allein die Rechtsstaatlichkeitsmission der Europäischen Union im Kosovo, EULEX, ist die größte zivile Mission in der Geschichte der EU. Als selbständige Mission im Rahmen der europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik entsendet sie ca. 2000 Richter, Staatsanwälte und Polizisten zur Unterstützung des Aufbaus von Justiz, Verwaltung und Polizei. Daneben finden sich im Kosovo unzählige weitere europäische und außereuropäische Institutionen, die den jungen Staat auf dem Weg zu einem funktionierenden Rechtsstaat unterstützen sollen. Der Kosovo bietet insofern reichlich Anschauungsmaterial, wie internationale Rechtsberatung funktioniert. Selbstverständlich nimmt der Kosovo aufgrund der hohen Beraterdichte eine Sonderstellung ein. Auch die sich gegen ein „EU-Protektorat“ aussprechende Partei Vetevendosje! ist bezeichnend als Gegenreaktion auf zu viel Fremdbestimmung und ein kosovarisches Spezifikum. Das Phänomen Kosovo darf insofern sicherlich nicht verallgemeinert werden. Zur Untersuchung rechtlicher Zusammenarbeit eignet sich das kosovarische Beispiel dennoch, da es zum einen umfassendes Material für eine teilnehmende Beobachtung bietet. Zum anderen spitzen sich hier die grundsätzlichen Fragen nach Sinn und Unsinn internationaler Rechtsberatung zu, so dass die justizielle Entwicklungszusammenarbeit besonders greifbar ist – und sei es auch in ihren absurden Zügen. Ausgehend von der Analyse der Beratertätigkeit im Konkreten nähert sich der Beitrag den grundsätzlichen Fragen, was rechtliche Entwicklungszusammenarbeit verspricht, was sie leisten kann – und wo die Grenzen ihrer Leistungsfähigkeit liegen.

14:45
Eine Intervention - Postkoloniale Perspektiven auf den Entwicklungs- bis hin zum Global Governance-Diskurs im Kontext des Rechts

ABSTRACT. Die Postkoloniale Perspektiverweiterung auf die Global Governance Diskussion lässt parallele Argumentationslinien in historisch wirkungsmächtigen Kolonialdiskursen erkennen, und kann neokoloniale und neoliberale Diskurse entschlüsseln. Denn Privatisierung, Marktliberalisierung und der Ausschluss nicht markwirtschaftlicher Lösungsansätze lassen einige auch von einem „liberal imperialism“ sprechen. Neokoloniale Diskursformationen lassen sich nicht von der Hand weisen, denn Eingriffe in die Souveränität der „Anderen“ werden mit deren „Korruptheit“ und Ihrer Definition als „Schurkenstaaten“ legitimiert, wozu auch militärische Gewalt gehört. Gegenstand eines postkolonial rechtstheoretischen Handlungsfeldes könnte demnach sein, die Funktion des Rechts, in seiner Verschiebung als Effektivierungsinstrument der Global Governance, hin zur Ermöglichung seiner egalitären und emanzipativen Veränderung zu sehen. Durchaus als Dekolonialisierungsinstrumente begreifbaren Rechtsprinzipien, wie die Souveränität der Staaten und das Recht auf Selbstbestimmung könnten dabei eine wichtige Bedeutung zukommen. Insbesondere gilt es dabei, wie hier geschehen, die Ausgangsbedingungen der Kooperation der Staaten ebenso zur Disposition stellen zu dürfen, wie die demokratische Legitimation anderer Akteure. Als zentrales, diskursives Instrumentarium könnte dabei die Umkehrung und Anwendung des Rule of Law Prinzips, auf die Handlungen der Akteure des globalen Nordens dienen. Ganz im Sinne von Dipesh Chakrabarty also, Europa bzw. den Westen zu „Provinzialisieren“, in seinen Facetten der „rückständigen“ Rechtlosigkeit und ausbeuterischen Machtorientierung zu enttarnen. In diesem Sinne kann auch eine völlige Neuausgestaltung der „Verhandlungspositionen“ erreicht werden. Nämlich infolge der relativierten Rechtfertigungsnarrativen für die bestehende Dominanz des globalen Nordens. Zielsetzung dabei sollte meiner Ansicht nach sein, die Ausgestaltung einer Definition dessen, was unter neutralem und objektivem Recht zu verstehen wäre, herauszuarbeiten; eine tatsächliche ‚Neutralisierung des Rechts‘. Unter neutralem und objektivem Recht könnte dabei, grob gesagt, verstanden werden wenn das Recht als Ausgleichsmechanismus für die Interessen tatsächlich aller beteiligten Akteure dienen würde. Neben den in gewisser Weise geradezu offenkundig als ideologisch und nicht universell und neutral anzusehenden und vergleichsweise hohen Stellenwert zukommenden Eigentumsrechten oder aber beispielsweise Regelungen der WTO, gilt es dabei in einem zweiten Schritt, auch wesentlich differenziertere Interessenlagen zu analysieren. Dieses ‚Prinzip des Austarierens‘ wäre es würdig universalistisch betrachtet zu werden. Dabei stellt der Aspekt der Analyse der Interessen und der Feststellung der Sprecher für die Akteure der Subalternen, im Zusammenhang mit den Widerständen der Dominanzmächte, die einer Transformation entgegenstehen, die wesentliche Herausforderung dar. Denn gerade auch von der Perspektive derjenigen betrachtet läuft dieses Unterfangen Gefahr erfolglos zu bleiben, die sich auf dem Pfad für eine solche, „gerechte“ Weltordnung zu wissen meinen, da sie das Erfordernis einer Einbeziehung der Interessen der Subalternen erkannt hätten. In einem Anfall der eigenen Selbstbeweihräucherung für die Erlangung dieser Erkenntnis und der Hervorhebung des eigenen, edlen Motivs, kann schnell außer Acht gelassen werden, dass es schlicht koloniale Attitüden tradieren würde, dieses Anliegen nicht zwingend in Zusammenarbeit mit der - zugegeben komplex festzustellenden – Subalternen selbst zu bestreiten. Hierbei ist im nächsten Schritt die Gefahr groß, lediglich mit Masken von subalternen Anliegen, Interessen und Menschen zusammenzuarbeiten. In Anbetracht dieses Vorhabens würde die Ausgestaltung und Beratung im Rahmen einer „Verrechtlichtung“ der Global Governance, auch aus postkolonialer Perspektive fruchtbar sein.

15:00
Rule of Law, Access to Justice und Legal Empowerment of the Poor: Zum Inklusionsdefizit neoinstitutionalistischer rechtsbasierter Entwicklungspolitiken aus praxistheoretischer Perspektive

ABSTRACT. Seit den späten 1980er Jahren steht das Recht im Zentrum internationaler Entwicklungsbemühungen. Die Rule of Law wurde von den Washingtoner Entwicklungsbanken zum Paradigma sozioökonomischen Fortschritts erhoben. Eine Vielzahl von Akteur_innen der juridischen, politischen, wissenschaftlichen und entwicklungspolitischen Felder ist auf den Zug aufgesprungen und hat der „Law & Development“-Bewegung eine Renaissance verliehen. Die Forderung nach Rechtsstaatlichkeit oder Rule of Law an sich kennt praktisch keine Gegner. Von der Forschung nicht unbemerkt geblieben ist allerdings die Tatsache, dass die massiven Investitionen in Rechtsstaatsprojekte im Irak oder Afghanistan, Teilen Osteuropas wie auch Afrikas nicht nur vielfach ohne messbare Fortschritte bleiben, sondern auch erhebliche Inklusionsdefizite aufweisen. Während die Verheißungen des Rechtsstaats gerade auch den exkludierten sozialen Klassen und Gruppen zugute kommen sollen, sind die diesbezüglichen praktischen Fortschritte dürftig. Seit den späten 1990er Jahren haben sich daher in der Literatur, zunehmend aber auch in der Praxis inklusionsorientierte Konzepte als Korrektive rechtsstaatlicher Entwicklung durchgesetzt. Nicht zuletzt im Kontext der „Globalisierungskritik“ haben Weltbank, UNDP und andere Entwicklungsorganisationen der sozialen Flankierung der Rule of Law eine wesentliche Bedeutung eingeräumt. Die wichtigsten rechtsbasierten Inklusionskonzepte firmieren unter „Access to Justice“ und „Legal Empowerment of the Poor“, wobei jeweils sehr unterschiedliche Vorstellungen unter dem jeweils gleichen Namen entwickelt wurden. Dem hegemonialen Verständnis der Rule of Law und des Legal Empowerment of the Poor liegt in theoretischer Hinsicht allerdings gleichermaßen der ökonomische Neoinstitutionalismus zugrunde. Der ökonomische Neoinstitutionalismus ist im Wesentlichen staats- und marktzentriert und baut auf das liberale Paradigma auf. Soziale Institutionen, insbesondere Rechtsnormen, -prozeduren und staatliche Einheiten der Pflege und Durchsetzung des Rechts, sollen zwecks Abbaus von Transaktionskosten gefestigt und gestärkt werden. Die neue soziale Ausrichtung flankiert diese Zielsetzungen: Verbesserung des Zugangs zum Rechtsstaat soll die Institutionen stärken. Die Legalisierung extralegaler Praktiken, beispielsweise durch Legalisierung informeller Eigentums-, Arbeitsmarkt- und Wirtschaftsverhältnisse, soll in Markt und rechtsstaatliches Institutionengefüge inkludieren. Es ist konsequent, dass diese Maßnahmen im Mittelpunkt des neoinstitutionalistisch ausgerichteten Legal Empowerment of the Poor der UNDP stehen. Die beabsichtigte Inklusionswirkung stellt sich dabei trotz dieser vielfach durchaus gut gemeinten Ansätze vielfach nicht ein. Ziel des Papers und Referats ist, auf praxistheoretischer (Bourdieuscher) Grundlage die entwicklungspolitische Schwäche des ökonomischen Neoinstitutionalismus offenzulegen und zugleich eine auch an institutionalistische Theoriebildung anschlussfähige Alternative zu skizzieren. Anhand lateinamerikanischer Beispiele soll der Frage nachgegangen werden, inwiefern die Habitus-Feld-Logik des im Globalen Norden verankerten sozialen Feldes „Law & Development“ eine Erfassung der Rationalitäten und Potentiale subalterner Klassen im Globalen Süden erschwert. Dabei ist nicht zuletzt zu prüfen, ob „Law & Development“ das Akteur_innenpotential für eine inklusionsorientierte Institutionenbildung zutreffend erfasst. Nachgegangen wird der Hypothese, ob nicht die Inklusionsschwäche von „Law & Development“ bereits in der Beschränkung auf Institutionen des administrativen, juridischen und ökonomischen Feldes angelegt ist, womit das Potential einer rechtsgeförderten Bildung neuer sozialer Felder bereits theoretisch nicht erfasst werden kann.

15:15
Kommentar

ABSTRACT. Kommentar

16:00-16:30Kaffeepause
16:30-18:00 Session 3A: Perspektiven der Soziologie der Verfassung

Track "General Papers". Organisiert von Matthias Mahlmann.

Das Thema wird aus unterschiedlichen Perspektiven und Schwerpunkten, aber gemeinsamen Erkenntnisinteressen beleuchtet. Zu folgenden Themen soll diskutiert werden:

- Internetverfassung

- Verfassung der Biopolitik

- Verfassung grundrechtlich gebundener Demokratie

Location: Seminarraum 1.608, Universitätsgebäude am Hegelplatz, Dorotheenstr. 24, 6. OG
16:30
Die (Rechts-)Verfassung der biomedizinischen Forschung
SPEAKER: Vaios Karavas

ABSTRACT. Das gesellschaftliche Organisationsprinzip, welches Bruno Latour bekanntlich als „Zweikammer-System von Natur und Kultur“ bezeichnet, bestimmt auch die Verfassung der biomedizinischen Forschung. Die Folge davon ist, dass biotechnologische Artefakte lediglich als Produkte von Arbeitsleistungen seitens der Forschenden (d.h. also als Teil der Kultur) qualifiziert und sodann nur diesen eigentumsrechtlich zugeordnet werden. Nach einer kritischen Auseinandersetzung mit dieser These will der Beitrag zudem die normativen Implikationen einer solchen Sichtweise von biotechnologischen Artefakten hinterfragen bzw. für ein Alternativverständnis plädieren, welches als Grundlage für die Entwicklung einer inklusiven Verfassung der biomedizinischen Forschung dienen könnte.

16:45
Regulation durch Recht – Regulation durch Technologie: Verfassungsdenken im Internet

ABSTRACT. Als Folge technologiebedingter Veränderungen im Bereich der Internetwirtschaft ringen Gerichte und Regulatoren weltweit um den Ausgleich zwischen fundamentalen gesellschaftlichen und rechtlichen Werten und Interessen im Spannungsfeld von Immaterialgüterschutz, offenen Märkten, Datenschutz und Kommunikationsfreiheit. Gibt es hier Anzeichen für die Emergenz von Zivilverfassungen, wie dies von Rechtssoziologien behauptet, von Verfassungsjuristen dagegen vehement bestritten wird? Welche theoretischen Ansätze stehen zur Verfügung, um den Begriff der Verfassung im Internet zu definieren? Wie kann regulatorischen Wirkungen, die gewisse Technologien im Internet entfalten, theoretisch Rechnung getragen werden? Der Beitrag informiert über ein neues Forschungsprojekt, das solche Fragen genauer zu analysieren bezweckt und darüber hinaus das Verhältnis zwischen Verfassungssoziologie und Verfassungsrecht reflektiert.

17:00
Perspektiven und Probleme der Verfassungssoziologie

ABSTRACT. Der Beitrag wirft einen kritischen Blick auf die gegenwärtige internationale Verfassungssoziologie. Es geht dabei um die theoretische Konzipierung von Verfassung und Staat und ihre Leitannahmen, die internationale Konstitutionalisierungsdebatte, ihre empirische Fundierung und die normativen Problemen, die sich aus einer soziologischen Analyse von Verfassungsfragen der Gegenwart ergeben. Eine Grundfrage lautet dabei: Was sind die gesellschaftlichen und rechtskulturellen Voraussetzungen des Gelingens verfassungsbewirkter, normativ zivilisiert ausgerichteter politischer Integration im Staat und in transnationalen Ordnungen?

16:30-18:00 Session 3B: Transnationale Wirtschaftskriminalität und die Versprechungen des Strafrechts

Track "Wirtschaftskriminalität". Organisiert von Tobias Singelnstein, Jens Puschke und Lars Ostermeier.

Das vornehmlich national geprägte Strafrecht steht vor dem Hintergrund global agierender Wirtschaftsunternehmen zunehmend unter Druck, sich auch der transnationalen Wirtschaftskriminalität anzunehmen. Wirtschaftliche Verflechtung über die Grenzen der Nationalstaaten hinaus erhöhen die Komplexität der Abläufe und können nicht-gesetzeskonformes Verhalten begünstigen und Kontrolle erschweren. Das Panel wird anhand der Bereiche Geldwäsche, Wirtschaftskriminalität im Lebensmittelbereich sowie Menschenrechtsverletzungen durch Unternehmen die mit dem Strafrecht verbundenen Erwartungen und ihre Umsetzung analysieren. Dabei stellt sich die Frage, ob das (Straf-)Recht globale Wirtschaftsstrukturen überhaupt erfassen kann und inwieweit Kontrollansprüche, Opferinteressen und rechtsstaatliche Prinzipien auch bei der Verfolgung transnationaler Wirtschaftskriminalität hinreichend berücksichtigt werden können.

Location: Seminarraum 1.404, Universitätsgebäude am Hegelplatz, Dorotheenstr. 24, 4. OG
16:30
Kann (Straf-)recht globale Wirtschaftsstrukturen erfassen? Erfahrungen in der Vertretung von Betroffeneninteressen in transnationalen Strafverfahren gegen Unternehmen wegen Menschenrechtsverletzungen

ABSTRACT. Deutsche und europäische Unternehmen sind global tätig. Dabei agieren sie gerade auch in Regionen mit schwachen Institutionen und fragwürdigen rechtsstaatlichen Strukturen. Im Zusammenspiel mit lokalen Akteuren sind daher Manager europäischer Unternehmen immer wieder an Menschenrechtsverletzungen beteiligt. Zum Teil verursachen auch die wirtschaftlichen Aktivitäten direkt Menschenrechtsverletzungen etwa durch zwangsweise Vertreibungen infolge von Landnahmen und Infrastrukturprojketen. Zudem sind globale Wirtschaftsbeziehungen durch ein hohes Maß an Flexibilität und Unverbindlichkeit gekennzeichnet. Auch wenn hohe wirtschaftliche Profite erwirtschaftet werden, sind die Beziehungen zwischen den Akteuren oft flüchtig und vermittelt, und damit auch die Verbindung des europäischen Managements zu den Menschenrechtsverletzungen vor Ort. Die Betroffenen von Menschenrechtsverletzungen, in die europäische Unternehmen verwickelt sind, treffen auf erhebliche Schwierigkeiten, wenn sie strafrechtliche Ermittlungsverfahren wegen des erlittenen Unrechts in Deutschland in Gang bringen wollen.

Häufig scheitern die (straf-)rechtlichen Verfahren am Nachweis des subjektiven Tatbestandes auf Seiten der Beschuldigten und der Frage, welchen Einfluss die Beschuldigten auf das Tatgeschehen hatten. Die bestehenden (straf-)rechtlichen Haftungskonzepte gehen von Lebenssachverhalten aus, die gerade nicht globale Wirtschaftsbeziehungen wiederspiegeln. Diskutiert werden soll, ob (straf-)rechtliche Haftungskonzepte die Verteilung von Verantwortung im Rahmen globale Wirtschaftsbeziehungen einfach nicht erfassen können, oder ob bestehende soziale Bilder über Unternehmen und deren Führungspersonal die Auslegung subjektiver Tatbestandsmerkmale und die Subsumtion des Sachverhaltes zu Gunsten der Beschuldigten beeinflussen.

Die Referenten wollen anhand konkreter Fallbeispiele, in denen sie Betroffeneninteressen vertreten, diskutieren, ob rechtliche Vorgehen gegen Manager europäischer Unternehmen den Interessen der Betroffenen, die nicht selten ihre Lebensgrundlage verloren haben, gerecht werden kann. Kann (Straf-)recht auf den Unrechtsgehalt globalen Wirtschaftens reagieren, ohne fundamentale freiheitliche Prinzipien aufzugeben? Müssen die nationalen Rechtsordnung vor der globalen Wirtschaft kapitulieren?

16:45
Wirtschaftskriminalität im Lebensmittelbereich - Globalisierung, Recht und Kontrolle am Beispiel belasteter Futtermittel

ABSTRACT. Gegenstand kriminologischer Forschungen sind bislang in erster Linie Gewalt- oder Eigentumsdelikte gewesen, während der Bereich der Wirtschaftskriminalität nur wenig empirisch erforscht wurde. Eine Besonderheit stellen dabei Delikte im Zusammenhang mit Lebensmitteln dar. Am Beispiel eines Lebensmittelskandals aus dem Jahr 2013 wird exemplarisch aufgezeigt, wie trotz der strengen EU-Gesetze aflatoxinbelastetes Futtermittel aus einem Nicht-EU-Land, nämlich Serbien, in die Bundesrepublik Deutschland importiert und in Verkehr gebracht werden konnte. Aflatoxin ist ein hochgiftiger, weltweit natürlich vorkommender karzinogener Schimmelpilz, der z.B. über Futtermittel in die Milch übergehen kann, die dadurch belastet ist. Diese belastete Milch sowie die daraus weiterverarbeiteten Produkte können dann insbesondere für Babys und Kleinkinder eine ernstzunehmende, im schlimmsten Fall tödliche Gesundheitsgefährdung darstellen. Aufgrund extremer Wetterbedingungen zur Erntezeit im Jahr 2012 und fehlender Trocknungsanlagen war serbischer Futtermais stark von dem Schimmelpilz befallen und hätte nicht in Mitgliedsländer der EU exportiert werden dürfen, da die dort geltenden Höchstwerte um ein Vielfaches überschritten wurden. In der EU existiert für derartige Probleme im Zusammenhang mit Lebens- oder Futtermitteln ein gut funktionierendes Schnellwarnsystem. Somit ist davon auszugehen, dass, obwohl alle Beteiligten frühzeitig über die Kontamination mit Aflatoxin und die in der EU geltenden Grenzwerte informiert gewesen sein müssen, das belastete Futtermittel wissentlich in Umlauf gebracht wurde. D.h., die Akteure werden sich nach entsprechender Risikokalkulation auf Grund des erwarteten wirtschaftlichen Nutzens bewusst dazu entschieden haben. Illegale Praktiken im Lebens- und Futtermittelbereich sind zwar kein neues Phänomen, jedoch begünstigen die im Zusammenhang mit der Globalisierung immer unüberschaubareren internationalen Warenströme nicht rechtskonforme Wirtschaftsaktivitäten gerade auch bei Lebensmitteln. Es wird angenommen, dass die typischen Motive im Bereich von White-collar Crime im Allgemeinen, nämlich finanzieller Gewinn bzw. die Vermeidung wirtschaftlicher Verluste, denen im Bereich der Lebensmittelkriminalität gleichen und somit nicht das Ergebnis unglücklicher Umstände sind. Am Beispiel dieses Skandals lässt sich zeigen, dass die in der EU bestehenden Gesetze zwar ausreichend sind, nicht aber die Kontrollen. Somit sind Lebensmittelskandale weder als ein individuelles oder nationales, sondern ein über Grenzen hinausgehendes und damit auch weltweites Problem anzusehen. Ziel soll es dabei nicht sein zu kriminalisieren, sondern das Rechtsbewusstsein zu fördern, um damit auch den Verbraucherschutz zu stärken und Verbraucherverunsicherungen entgegenzuwirken.

17:00
Die Versprechungen des Strafrechts am Beispiel der Geldwäschegesetzgebung
SPEAKER: Verena Zoppei

ABSTRACT. Der Beitrag befasst sich mit dem Thema der Versprechungen des Strafrechts am Beispiel der Geldwäschegesetzgebung, insbesondere des Straftatbestandes der Geldwäsche. Dieser Straftatbestand wird hier als wirtschaftsstrafrechtliches Versprechen, das Finanzsystem von der Bedrohung „schwarzes Geldes“ zu schützen, kritisch thematisiert.

Nach einem Überblick über sowohl den internationalen als auch nationalen Entscheidungsprozess mit dem Fokus auf die Erweiterung des Straftatbestandes der Geldwäsche, wird die Diskussion der Rechtslehre vorgestellt, die die Unwirksamkeit des Gesetzes zum Thema hat. Abschließend präsentiere ich eine Hypothese zur symbolischen Effektivität der Geldwäschegesetzgebung.

Obwohl der Straftatbestand der Geldwäsche relativ jung ist, wurde er sehr häufig geändert um eine effektiver Bekämpfung der Geldwäsche zu schaffen. Insbesondere wurde der Anwendungsbereich, der am Anfang (Wiener-Übereinkommen von 1988) auf Drogendelikten begrenzt war, durch das Hinzufügen neuer Vortaten erweitert um immer neuen Bedrohungen entgegenzutreten. Der „war on drugs“ war in den 80er Jahren eine Priorität der USA; stattdessen haben die EU und die FATF (Financial Action Task Force) den Fokus auf den Schutz jeweils des Inneren Markts und des globalen Finanzsystems von „schmutzigem Geld“ gelegt. Um dem Potential entgegenzuwirken, dass die Erträge aus Straftaten immer mehr die legale Wirtschaft negativ beeinflussen, wurden immer neue Tatbestände in den Vortatenkatalog miteinbezogen (z. B. Terrorismus, Korruption, Steuerhinterziehung, Unweltdelikte).

Dennoch wird die Geldwäschegesetzgebung von der Rechtslehre sehr kritisiert. Ein erheblicher Anteil in der Literatur stimmt zu, dass die Geldwäsche Policy bis heute unfähig war die erklärten Ziele zu erfüllen (Sieh z. B. Arzt et Al., 2015: §29 Rn.7, 8; Arzt, 1997: 37; Bosworth-Davies, 2008; Pieth and Aiolfi, 2004; Naylor, 2002; Sharman, 2011). Durch die Erweiterung des Straftatbestandes wurden die geschützten Rechtsgüter „banalisiert“, sodass der Straftatbestand ein uferloses und daher gefährliches Instrument in den Händen der Strafverfolgung geworden ist. Trotz der hohen sozialen Kosten, der Belastungen für den Privatsektor und für die Strafverfolgung und der weitergehenden Ausdehnung des Anwendungsbereichs der Geldwäschegesetzgebung, ist es, laut einem vor kurzem veröffentlichten Buch über die Effektivität der EU Geldwäsche Policy, unmöglich die Vorteile der Geldwäsche Policy empirisch zu schätzen (Unger et al., 2014: 218). So bleiben von der Geldwäschegesetzgebung bislang nur leere Versprechungen.

Der Beitrag stellt zum Schluss eine Hypothese vor, die die Unwirksamkeit des Gesetzes als absichtliches Phänomen sieht. Der Straftatbestand der Geldwäsche hier wird als Beispiel symbolischer Gesetzgebung analysiert. Sie stellt nämlich ein Gesetz dar, das vom Gesetzgeber erlassen wurde, nur um ein Engagement gegen die Wirtschaftskriminalität zu zeigen, jedoch ohne den Anspruch die erklärten instrumentellen Ziele zu erfüllen. Es wird argumentiert, dass illegale Finanzströme als Nebenwirkung eines deregulierten Finanzsystems akzeptiert wurden (Tsingou, 2010), und dass die internationale Geldwäschegesetzgebung eine reine symbolische Effektivität hat, weil die internationale Gemeinschaft nicht bereit ist, das aktuelle Finanzsystem zu ändern.

Dies bleibt aber nicht ohne Konsequenzen. Dieses Gesetz täuscht die Öffentlichkeit, dass die Angelegenheit geregelt wurde. Somit werden deren Ansprüche an das Gesetz nur symbolisch erfüllt und damit einer weiteren Mobilisierung der Öffentlichkeit vorgebeugt.

16:30-18:00 Session 3D: Urheberrecht, Technologie und künstlerische Produktion

Track "General Papers". Organisiert von Henrike Maier, Holger Schwetter und Georg Fischer.

Das Panel möchte die Versprechungen des Urheberrechts in den Blick nehmen und die Wechselwirkungen von Urheberrecht, technologischen Innovationen und künstlerischen Praktiken genauer beleuchten. Für ein solches Unterfangen bietet es sich an, sozialwissenschaftlich-empirische und rechtswissenschaftliche Forschung zusammen zu bringen und aus der jeweiligen Perspektive zur Diskussion aufzufordern. Die Vorträge sollen sich dabei an Bereichen künstlerischer Produktion orientieren, in denen urheberrechtliche Verwicklungen und ihre Auswirkungen auf kreatives Schaffen sichtbar werden.

Das Urheberrecht enthält vielfältige Versprechungen für verschiedene Akteure (Urheber, Verwerter, Nutzer). Durch die permanente Entwicklung neuer Kultur- und Produktionstechniken steht es zugleich unter beständigem Reformdruck. Für die wissenschaftliche Auseinandersetzung ist es produktiv, das Urheberrecht als historisch gewachsenes und sozial ausgehandeltes Regelsystem zu verstehen, das mannigfaltige Interessen, Wünsche und Befürchtungen widerspiegelt (vgl. Dommann 2014). Aus dieser Perspektive können einzelne technologische Innovationen, künstlerische Praktiken, kulturelle Entwicklungen und wirtschaftliche Verwertungsmöglichkeiten beispielhaft in den Blick genommen werden.

Um die Wechselwirkungen zwischen Technologie, künstlerischen Praktiken und den Versprechungen des Urheberrechts genauer zu betrachten, bieten sich Musik und Film als Untersuchungsfelder an. Ihre Produktion, Distribution, Vermarktung und Verwertung berühren viele Regelungen des Urheberrechts und sind darüber hinaus seit einigen Jahren mit neuen Praktiken verbunden, die geltendes Recht herausfordern und vielfältige Debatten in den Wirtschafts-, Sozial- und Kulturwissenschaften anstoßen. So sind beispielsweise künstlerische Versionierungs- und Verweisungspraktiken wie Remixes, Coverversionen, Parodien oder Zitate in Youtube-Videos oder Popmusik gang und gäbe (vgl. Döhl/Wöhrer 2014), befinden sich teilweise aber in komplizierten urheberrechtlichen Gefilden oder sind gar ganz verboten (vgl. Djordjevic/Dobusch 2014). Die Praxis der illegalen Weitergabe von Musik- und Filmdateien wird mit Konzepten einer Kultur oder auch Ökonomie des Teilens verbunden und in lizenzrechtliche Werkzeuge wie Creative Commons überführt. Daneben scheinen sich neue, technisch gestützte Systeme zur Rechteklärung und Abrechnung künstlerischer Werke zu etablieren, die bestimmte urheberrechtliche Probleme erleichtern und "Versprechungen" erfüllen können oder aber neue Probleme produzieren (vgl. Tushnet 2014).

Für eine interdisziplinäre Diskussion sind dabei u. a. folgende Fragen interessant:

- Was genau sind die Versprechungen des Urheberrechts und welche Interessen werden durch sie - implizit oder explizit - abgedeckt? Welche Rolle spielt der Ausgleich der einzelnen Interessen und in welcher Weise wird dies erreicht?

- In welcher Weise wirken sich die Versprechungen des Urheberrechts auf die Produktion, Distribution und Rezeption von künstlerischen Werken aus?

- Welche Rolle spielen technologische Entwicklungen für die Versprechungen des Urheberrechts? Inwieweit verändern sie die Rechtsdurchsetzung? Können sie den angestrebten Interessenausgleich im Urheberrecht beeinflussen?

Chair:
Location: Seminarraum 1.502, Universitätsgebäude am Hegelplatz, Dorotheenstr. 24, 5. OG
16:30
Urheberrecht und Technik am Beispiel von Hosting-Plattformen
SPEAKER: Henrike Maier

ABSTRACT. Der Beitrag geht (aus juristischer Perspektive) der Frage nach, in welcher Beziehung technische Standards zu den Versprechungen des Urheberrechts stehen. Zu diesem Zweck wird der Einfluss von technischen Neuerungen auf Schrankenregelungen und den angestrebten Interessenausgleich im Urheberrecht am Beispiel von CopyrightMatch/ContentID Systemen analysiert.

Die Versprechungen des Urheberrechts richten sich an Akteure mit z.T. gegenläufigen Interessen. Eine der übergreifenden Versprechungen des Urheberrechts ist daher, einen angemessenen Ausgleich der verschiedenen Interessen zu schaffen (vgl. Geiger 2004, S. 816). Für diese Aufgabe kommt es jedoch nicht nur auf die einzelnen festgeschriebenen Regelungen des Urheberrechts an, die Interessen schützen oder in Ausgleich bringen sollen (Urhebervertragsrecht, Schrankenregelungen etc.). Vielmehr wird durch technische Innovationen und Standards diese Balance mit geprägt.

Die Idee, dass Technologie Verhalten steuern kann und ihr dadurch regelnde Wirkung zu kommt, ist nicht neu (vgl. Leenes 2010, S. 114). Zwar erleichtert Technik einerseits urheberrechtlich relevante Vervielfältigungen, gleichzeitig ist aber heute z.B. durch Endbenutzer-Lizenzverträge, deren Inhalte auch technisch in Programme bzw. Plattformen eingebaut sind, eine größere Kontrolle über Inhalte möglich. Wie wirken sich technische Gegebenheiten auf die Funktionsweise und Auslegung urheberrechtlicher Schranken aus? Was bedeutet dies für kreativ Schaffende wie Remix- und Videokünstler im Internet?

Diese Fragen sollen untersucht werden am Beispiel von Systemen, die Inhalte auf Hosting-Plattformen automatisiert abgleichen. Diese technischen Entwicklungen bieten Möglichkeiten, um Rechteinhaber und Nutzer leichter zusammenzuführen und ersteren durch Monetarisierung oder Sperren verstärkte Kontrolle über die Nutzung ihrer Werke zu geben. Ist dies, wie von der letzten EU Kommission im geleakten Entwurf des White Papers angedeutet, die Lösung für Rechtsunsicherheiten (vgl. Aufderheide/Jaszi 2007), die z.B. bei user generated content bestehen? Da der technische Abgleich von Werken nicht berücksichtigen kann, ob z.B. ein Remix unter Schranken des Urheberrechts fällt, kann es durchaus zu sog. overblocking kommen, d.h. dass dem Rechteinhaber auch über Nutzungen, die unter das Zitatrecht oder die freie Benutzung fallen, zunächst Kontrolle ermöglicht wird (vgl. Tushnet 2014, S. 1416 für die amerikanische fair use Schranke). Der Vortrag geht daher auch den Fragen nach, ob technische Standards die Bedeutung von private ordering (vgl. dazu Rothman 2015, Elkin-Koren 2008, S. 318) gegenüber urheberrechtlichen Schranken verstärken und welche Implikationen dies z.B. für kreativ schaffende Nutzer mit sich bringen könnte.

Literatur: Aufderheide, Patricia/Jaszi, Peter (2007): The Good, the Bad, and the Confusing: User-Generated Video Creators on Copyright. Elkin-Koren, Niva (2009): Governing Access to User-Generated-Content: The Changing Nature of Private Ordering in Digital Networks, in: Brousseau, Eric / Marzouki, Meryem / Meadel, Cécile (eds.): Governance, Regulation and Powers on the Internet, 318-343. Geiger, Christophe (2004): Der urheberrechtliche Interessenausgleich in der Informationsgesellschaft - Zur Rechtsnatur der Beschränkungen des Urheberrechts, GRUR Int 2004, 815-821. Leenes, Ronald (2012): Framing Techno-Regulation: an Exploration of State and Non-state Regulation by Technology, Tilburg Law School Legal Studies Research Paper Series No. 10, 143-169. Rothman, Jennifer E. (2015): Copyright's Private Ordering and the "Next Great Copyright Act", 29 Berkley Tech. 1596-1650. Tushnet, Rebecca (2014): All of This Has Happened Before and All of This Will Happen Again: Innovation in Copyright Licensing, 29 Berkley Tech. 1447-1488.

16:45
Jenseits des Urheberrechts: Zur Figur des Produzenten am Beispiel des Mashup-Genres

ABSTRACT. Es gibt musikalischen Milieus, Genres und Praktiken, in denen ist der Komponist in dem klassischen Tätigkeitsbild, welches das Urheberrecht leitet, nicht der ästhetisch entscheidende Akteur. Das gilt bekanntlich z.B. für Improvisationspraktiken auf Basis von Fremdkompositionen, wie sie weite Teile des Jazz prägen. Das gilt z.B. für Bearbeitungskulturen wie die Barbershop Harmony oder den Blues, in denen alles auf das Arrangement und die stilideale Interpretation ankommt.

In den vergangenen Jahren ist hierneben in Teilen der Populärmusik der Produzent als Akteur auffallend in den Vordergrund getreten. Produktionen werden inzwischen maßgeblich damit beworben und im Hinblick darauf rezensiert, ob ein Produzent vom Renommee eines Brian Eno, Brian Burton, Rick Rubin oder Timbaland beteiligt war. Diese Produzenten sind Akteure, die nicht im eigentlichen Sinne die Kompositionsarbeit leisten. Ihre Funktion ist es, Auswahlentscheidungen zu treffen, durch geschickte Personenführungen erstrebte Resultate zu erwirken, Gesamtrichtungen für Produktionen vorzugeben usw.

Das ist dem Grund nach keine neue Entwicklung. Viele Praktiken in der Popularmusik verlaufen in dieser Weise arbeitsteilig. Das gilt z.B. schon für die Operette, wenn der Produzent Erik Charell bestimmt, welche Musik im Weißen Rößl verwendet wird und wie. Wir sehen es als Konstellation im Bereich des Film- und Bühnenmusicals mit Figuren wie Arthur Freed, Jack Cummings, Joe Pasternak, George Abbott, Harold Prince oder Cameron Mackintosh. Und es ist auch schon früher in der Popmusik aufgetreten mit Akteuren wie George Martin oder Quincy Jones. Doch die Intensität der Aufmerksamkeit, die heutzutage Produzenten entgegengebracht wird, ist auffallend gestiegen. Sie sind hochbezahlt, berühmt, haben bei den maßgeblichen Preisen eigene Kategorien usw.

Aber das Urheberrecht als der institutionalisierte rechtliche Weg, auch auf lange Sicht mit musikalischen Entitäten Einnahmen zu erzielen, scheint ihnen versperrt, sofern sie nicht erwirken, in die Komponistencredits von Songs aufgenommen zu werden – was als Strategie zur Problemlösung durchaus zu beobachten ist, aber weder ihrem eigentlichen Beitrag entspricht noch immer durchsetzbar ist. Hersteller der Tonträger ist der künstlerische Produzent im Sinne jener Akteure, die in diesem Beitrag interessieren, ebenfalls regelmäßig nicht. Interpret oder Bearbeiter strenggenommen aber gleichfalls nicht. Das System, das in der Auseinandersetzung mit der klassischen Musik und den dort prägenden Kategorien des 19. Jahrhunderts konzipiert wurde, hat für den Produzenten keinen rechten Platz, weil es ihn in der Weise nicht gab.

Der Beitrag wird die rechtliche Situation am Extrembeispiel des Mashup-Genres erläutern, indem Produzenten ausschließlich mit Fremdmaterial arbeiten. Hier lässt sich die kreative Leistung des Auswählens und Anordnens von Leistungen Dritter, um die es allzu meist geht, besonders pointiert erläutern. Hiervon ausgehend werden die allgemeinen Fragen des Panels bezogen auf den Produzenten behandelt und mögliche Lösungsvorschläge zur Diskussion gestellt.

Der Beitrag basiert auf Gedanken, die ich in meiner Habilitationsschrift „Mashup. Fremdreferenzielles Komponieren und Urheberrecht“ und mehreren begleitenden Publikationen entwickelt habe. Sie speisen sich zugleich aus dieser Forschungstätigkeit mit entsprechend umfassender Analyse des einschlägigen musikwissenschaftlichen und rechtswissenschaftlichen Schrifttums wie meinen Erfahrungen in der Beratung von Künstlern, der ich neben meiner Hochschultätigkeit seit 2004 in einer Berliner Rechtsanwaltskanzlei nachgehe.

17:00
Musik, Verwertung, Gesellschaft - Digitale Musikproduktion zwischen Remix, Rechteklärung und referentieller Kreativität
SPEAKER: Georg Fischer

ABSTRACT. Der Beitrag fußt auf der Forschung, die ich derzeit im Rahmen meiner Dissertation zum Verhältnis von Urheberrecht und Kreativität in der Musikproduktion durchführe. Referentielle Produktionspraktiken wie Sampling und Covering stehen dabei im Fokus. Beim Sampling werden kurze Ausschnitte ("Samples") aus existierenden Musikstücken oder anderen Klängen entnommen, digital verarbeitet und zu neuer Musik zusammengefügt. Dieses "Cut-and-Paste"-Verfahren bildet die Grundlage für sog. "Remixes". Beim Covering wird die Komposition eines Stückes neu eingespielt und dabei absolut originaltreu behandelt: Melodie, Rhythmus, Arrangement und Text werden komplett übernommen; es wird lediglich eine neue Instrumentierung der Komposition angefertigt. Das deutsche Urheberrecht behandelt beide Praktiken allerdings sehr unterschiedlich: Coverversionen können via GEMA angemeldet und abgerechnet werden, auch gegen den Willen des Rechteinhabers. Dagegen sind beim Sampling bereits kürzeste Klangausschnitte durch das Leistungsschutzrecht des Tonträgerherstellers geschützt: Samples dürfen nicht ohne Genehmigung benutzt werden (Bundesgerichtshof 2012). Eine Lizenzierung durch "Sample-Clearing" allerdings ist meist kompliziert, kosten- und zeitintensiv, da die Rechteinhaber oftmals nicht eindeutig ermittelt oder Lizenzen einfach abgelehnt werden können (McLeod/DiCola 2011). Die Übernahme einer kompletten Komposition erscheint damit aus rechtlicher und finanzieller Perspektive attraktiver als die Übernahme eines egal wie kurzen Fragments. Dies hat zur Folge, dass viele Remixes und Sample-basierte Stücke illegal sind, auf keinem ordentlichen Label erscheinen oder nur im "Underground" zirkulieren können. Damit befindet sich auch die mit diesen Praktiken verbundene Kreativität in einer prekären urheberrechtlichen Situation zwischen Anreiz und Hemmnis (vgl. Woodmansee 2006). Jene "Remix-Kreativität" hat nicht die Herstellung eines selbständigen Werks mit eigener Schöpfungshöhe zum Ziel wie in UrhG §24 gefordert. Vielmehr zeichnet sich ein Remix durch die gelungene Re-Kontextualisierung, Referentialisierung und die in ihm entstandende Spannung zwischen Neu und Alt aus (Fischer 2014). In dieser besonderen urheberrechtlichen Situation werden oftmals Umgehungsstrategien bemüht, die verschiedene Stationen in der Herstellungskette eines Musikstücks berühren (Arrangement, Produktion, Lizenzierung, Marketing, Aufführung, Veröffentlichung, Distribution). Dabei kommen verschiedene Techniken der Verfremdung, Verschleierung oder Tarnung von Veröffentlichungen und Samples zum Einsatz. Vor diesem Hintergrund stellt das Projekt die Frage, wie signifikant "Copyright-Management" (Morey 2012) und Umgehungsstrategien in der Kultur der Musikproduktion verbreitet sind und sich auf die Klangästhetik auswirken.

Literatur: Bundesgerichtshof (2012): Urteil I ZR 182/11 vom 13.12.2012. Fischer, G. (2014): Von Jägern und Samplern. Eine kurze Geschichte des Remix' in der Musik, in: Djordjevic, V./Dobusch, L. (Hg.) (2014): Generation Remix. Zwischen Popkultur und Kunst. McLeod, K./DiCola, P. (2011): Creative License. The Law and Culture of Digital Sampling. Morey, J. (2012): Copyright Management and its Effect on the Sampling Practices of UK Dance Music Producers, Journal for the International Association for the Study of Popular Music, 3(2), 48-62. Woodmansee, M. (2006): Das Urheberrecht als Anreiz/Hemmnis für die schöpferische Produktion, in: Reulecke, A. (Hg.): Fälschungen. Zu Autorschaft und Beweis in Wissenschaft und Künsten.

17:15
Vom pragmatischen Umgang unabhängiger Musiker mit dem Urheberrecht

ABSTRACT. Seit einigen Jahren werden am Gegenstand der Musikdistribution teilweise vehemente Debatten um die "richtige" Weiterentwicklung des Urheberrechts für das digitale Zeitalter geführt. Dabei geben Vertreter der Musikindustrie und der Verwertungsgesellschaften häufig vor, für die Interessen aller Musiker zu handeln. Zur Praxis der Musiker im Umgang mit dem Urheberrecht liegen hingegen kaum empirische Daten vor. Im Rahmen einer Studie zu kostenloser Musikverteilung, Urheberrecht und (digitalem) Selbstmanagement von Musikern werden Strategien von unabhängigen Musikern im Umgang mit dem Urheberrecht in der BRD und den USA untersucht. Der Fokus liegt hierbei zunächst auf Creative-Commons-Lizenzen. Diese stellen lizenzrechtliche Werkzeuge dar, die mit dem Versprechen geschaffen wurden, einfachere, gerechtere und freiere Umgangsformen mit dem geltenden Urheberrecht zu ermöglichen. Sie können von Musikern ihren Werken bei deren Veröffentlichung als AGB mitgegeben werden. Um die Strategien von Creative-Commons-Musikern interpretieren und vergleichen zu können, wurden auch Musiker befragt, die andere Lizenzmodelle (z.B. "klassische" all-rights-reserved Lizenzen verbunden mit der Mitgliedschaft in einer Verwertungsgesellschaft) benutzen. Der Musikmarkt und seine Teilmärkte (Onlinevertrieb, Tonträger, Lizenzierungen für Film/TV/Werbung, Verwertungsgesellschaften etc.) sowie die damit verbundenen rechtlichen Konstruktionen sind äußerst komplex. Wie gehen Musiker aus der alltäglichen praktischen Perspektive mit den Lizenzrechten um, während sie das Ziel verfolgen, ihre Musik möglichst weit zu verbreiten und/oder gewinnbringend zu vermarkten? Inwiefern ermöglichen oder begrenzen urheberrechtliche Regelungen in der Praxis ihre Handlungsspielräume? Im Vortrag werden Erkenntnisse der qualitativen Studie zum Umgang einer zahlenmäßig großen Gruppe von Teilnehmern am Musikmarkt, den selbständig und ohne große Partner agierenden Musikern, zum Umgang mit dem Urheberrecht vorgestellt. Es stellt sich heraus, dass lizenzrechtliche Beschränkungen besonders in Bezug auf die Verwertungsgesellschaften die Praxis von Musikern in Deutschland stärker einschränken als in den USA. Bei der digitalen Musikdistribution ist zudem keine verbesserte Position der Musiker festzustellen. Sie stehen den AGB der großen Plattformen ohne Verhandlungsmacht gegenüber. Aufgrund ihrer marginalen Position bringt ein pragmatischer Umgang mit dem Urheberrecht die größten Vorteile für Musiker mit sich, auch wenn dies bedeutet, einen Umgang mit Lizenzierungsmöglichkeiten zu pflegen, der rechtlich inkonsistent ist. Mangelndes Wissen und unklare Vorstellungen über Urheberrechte können sich dabei ebenso als hinderlich wie durchaus als förderlich für die Entwicklung effektiver Handlungsstrategien erweisen. Die praktische Bedeutung des Urheberrechts für das Selbstmanagement von unabhängigen Musikern in der frühen Karrierephase wird insgesamt überschätzt.

16:30-18:00 Session 3E: Roundtable: Geschlechterleben zwischen Anerkennung und Erwartung

Track "Lebensformen und Identitäten". Organisiert von Elisabeth Holzleithner and Laura Adamietz.

Die Session befasst sich mit der Frage nach einer angemessenen Fassung der Kategorie Geschlecht im Rechtsdiskurs - unabhängig von biologischen Festlegungen. Geplant ist ein moderiertes Gespräch der beiden Protagonistinnen - Laura Adamietz und Elisabeth Holzleithner - über ihre jeweiligen Konzeptionen.

Adamietz hat in Anknüpfung an Autorinnen wie Butler (Geschlecht als Performativität) und Maihofer (Geschlecht als Existenzweise) die deutsche Judikatur zu Geschlechtsidentität und sexueller Orientierung untersucht und ist dabei zu der Erkenntnis gekommen, dass der Rechtsbegriff des Geschlechts als "Erwartung" interpretiert werden sollte. Dies ist insbesondere im Bereich des Diskriminierungsrecht von Bedeutung: denn es ist dann unerheblich, ob Geschlecht eine biologische Kategorie oder eine soziale Konstruktion ist: eine Anknüpfung an mit dem Geschlecht verbundene konventionelle Rollenerwartungen oder Erwartungen einer bestimmten körperlichen Ausstattung ist dann eben als diskriminierend zu qualifizieren. Holzleithner fokussiert in ihrer Konzeption des Geschlechts als Anerkennungsverhältnis auf die normative Dimension der wechselseitigen Anerkennung im Identifikations- und Performancegeschlecht. Sie wird die Tiefendimensionen der philosophischen Figur der Anerkennung ausloten.

Ziel der Session ist es, die unterschiedlichen Blickweisen auf den Rechtsbegriff des Geschlechts miteinander zu kontrastieren und Gemeinsamkeiten und Unterschiede herauszuarbeiten. Dabei könnte sich herausstellen, dass die beiden Herangehensweisen wie zwei Seiten einer Medaille wirken, die freilich unterschiedliche Akzente setzen. Dies soll sich in der Anwendung an diversen Beispielen aus der österreichischen und deutschen Judikatur erweisen.

Location: Seminarraum 1.601, Universitätsgebäude am Hegelplatz, Dorotheenstr. 24, 6. OG
16:30
Eingangsstatement

ABSTRACT. Eingangsstatement

16:45
Eingangsstatement

ABSTRACT. Eingangsstatement

17:00
Kommentar

ABSTRACT. Kommentar

16:30-18:00 Session 3F: Über die Verfahrenswirklichkeit von Vermittlungen

Track "Vermittlung im Konflikt". Organisiert von Alfons Bora, Justus Heck und Fritz Jost.

Chair:
Location: Seminarraum 1.405, Universitätsgebäude am Hegelplatz, Dorotheenstr. 24, 4. OG
16:30
Das Wissen der Mediation: Zur Rekonstruktion der Mikroprozesse wissensbasierter Verfahrenskommunkation
SPEAKER: Peter Münte

ABSTRACT. Die Mediation stellt sich als Alternative zum Recht dar. Die Bearbeitung des Konfliktes soll nicht im Gerichtsverfahren erfolgen, in dem zu klären ist, wer Recht hat. Vielmehr sollen die Parteien befähigt werden, selbst zu einer Lösung zu gelangen. Die Mediation schließt so an eine den Zeitgeist seit den 1970er Jahren prägenden Kritik an der expertenförmigen Bearbeitung praktischer Probleme an. Ihr Versprechen zielt so betrachtet auf Empowerment.

Zugleich legt der Vergleich von Gerichts- und Mediationsverfahren nahe, in einer umfassenden Betrachtung die verschiedenen Formen der Bearbeitung von Konflikten durch Dritte in den Blick zu nehmen. Recht und Mediation wären dann in einen entsprechenden Formenkreis einzuordnen, und dabei wäre zu klären, was rechtsprechendes Handeln bzw. Vermittlungshandeln jeweils auszeichnet.

Wenn man eine solche allgemeine Perspektive einnimmt und danach fragt, was genuines Vermittlungshandeln ausmacht, bietet die Betrachtung von Dokumenten aus der Praxis der Mediation ein irritierendes Bild. Wie verschiedene Untersuchungen zeigen, bleibt in der Mediation die Position des vermittelnden Dritten merkwürdig unausgefüllt. (S. die Materialrekonstruktionen zur mediatorischen Berufspraxis sowohl von Maiwald als auch von Münte.) Geht man von diesem Befund aus, ist erklären, warum in einer Berufspraxis, die unter dem Begriff der Mediation firmiert und sich so vom Gerichtverfahren abgrenzt, ein genuines Vermittlungshandeln kaum auffindbar erscheint.

Maiwald erklärt diesen Befund, indem er die Institutionalisierung des mediatorischen Berufshandels auf ihren historischen Kontext bezieht und sie als paradoxes Professionalisierungsprojekt auffaßt. Im Zeichen einer den Zeitgeist bestimmenden Expertokratiekritik verweigert sich die Mediation, so seine Vermutung, einer gültigen Professionalisierung des Vermittlungshandelns und delegiert das Problem der Konfliktlösung an die Konfliktparteien zurück.

Im vorgeschlagenen Beitrag soll eine alternative Erklärung entfaltet werden, bei der das Wissen der Mediation in das Zentrum rückt. Diese Erklärung geht von der Annahme aus, daß dieses Wissen vor allem Techniken des Konfliktmanagements umfaßt. Entsprechend läßt sich die Mediation in den Zusammenhang einer als Managerialisierung bezeichneten Entwicklung stellen. Faßt man diese als das Ergebnis eines wachsenden Wissensbestandes an standardisierten Problemlösungen auf, das den Umgang mit allen nur erdenklichen Problemen des menschlichen Lebens anleitet, so ergibt sich eine alternative Erklärung dafür, warum in der Mediation die Position des vermittelnden Dritten unausgefüllt bleibt. Als die Anwendung eines fallunspezifischen Problemlösungswissens wäre das mediatorische Handeln als eine Form technischen Handelns zu bestimmen und die Mediation in den Zusammenhang einer fortschreitenden Technisierung des Sozialen zu stellen.

In dem Beitrag soll, dem Vorschlag der Veranstalter des Tracks folgend, die Verfahrenswirklichkeit der Mediation in den Blick genommen werden. Ein interaktionsstrukturierendes Dokument aus einem Mediationsverfahren soll in einer detaillierten Sequenzanalyse daraufhin untersucht werden, inwiefern es Anhaltspunkte für die zuvor umrissene Modellbildung bietet. Die Leitfrage der Analyse lautet, inwiefern sich die empirischen Erscheinungsformen der Verfahrenskommunikation erklären lassen, wenn man sie als das Ergebnis der Anwendung eines Wissens standardisierter Kommunikationstechniken auffaßt, und inwiefern umgekehrt die Anwendung eines solchen Wissens zwingend eine spezifische Verfahrensinteraktion in Gang setzt.

16:45
Neutralität als Berufsnorm und ihr Verlust in der Mediation
SPEAKER: Justus Heck

ABSTRACT. Neutralität, Unparteilichkeit, Unbefangenheit und Objektivität walten zu lassen, sind Normen, die sich an Berufe richten, die Konflikte zum Gegenstand haben. Sie betreffen Mediatoren oder Richter genauso wie Sozialwissenschaftler und Journalisten (u.a.). Auf diese Weise erhalten sie den Status eines Dritten im Streit, den die Parteien beargwöhnen und welcher sich in der Berufsausübung bewähren muss. Die Neutralität wird durch Kontaktzersplitterung (Luhmann 2008: 80f.), Ausbildung, organisationale Einbettung, professionelle Kontrollen und Berufsethos gestützt und symbolisiert, ist aber gleichzeitig gerade für Vermittler im Streit, Richter oder Paartherapeuten ein Verhaltensproblem in Situationen von Angesicht zu Angesicht. Ich vergleiche die Bedingungen, unter denen diese Berufe Neutralität praktizieren, insb. unter dem Aspekt, wie sie das in der Neutralität steckende Darstellungsproblem lösen oder eben daran mit gewissen Folgen für das berufliche Handeln scheitern. Dass Neutralität ein Darstellungsproblem ist, ergibt sich schon aus der Tatsache, dass diese Berufe Programme in Anschlag bringen, die beiden Parteien taktlos erscheinen und deshalb in die Nähe dessen rücken, was der Gegner für gewöhnlich tut. Typische Probleme und damit Vergleichsdimensionen, die während der Arbeit mit Konfliktdyaden anfallen, sind das Problem der Übertragung und Gegenübertragung, der Instrumentalisierung des Dritten, der eigenen Agenda des Dritten, der moralischen Bewertung durch den Dritten, der spezifischen Konflikttransformation und der Machtasymmetrie der Parteien.

In der Mediationsforschung ist das Neutralitätspostulat des Vermittlers umstritten (Cobb/Rifkin 1991). Dabei weisen die Skeptiker entweder auf die psychischen Bias eines Vermittlers zu Gunsten einer Partei hin oder darauf, dass die Vermittler Einfluss ausüben und deshalb nicht neutral seien. Gegen die Skepsis, reine Neutralität gar nicht möglich ist, möchte ich Neutralität und Einfluss als kombinierbare Begriffe handhaben, denn eine einflusslose Intervention eines Mediators ist ohnehin unvorstellbar. Neutralität dokumentiert sich generell in universalistischen und sachlich begründbaren Verfahrensvorschriften, Vorenthalten der eigenen Meinung (footing) und detachment (Clayman 2001; Jacobs 2002). Von hier aus lässt sich ermitteln, wie der Vermittler und was sein „face“ gefährdet (Goffman 1989). Dabei analysiere ich diese Probleme als Über- oder Unterinvolviertheit des Vermittlers im Mediationsverfahren, welche etwa durch zu großen und falschen Druck auf die Parteien im Nachhinein Vergleichsreue erzeugen oder durch Passivität einer falsch spielenden Partei einen Vorteil verschafft. Es geht nicht darum, ob der Vermittler mit Absicht nicht neutral war, vielmehr ist der Anschluss einer Partei an potentiell die Neutralität beschädigende Akte ausschlaggebend. Gefahrenquellen für Neutralitätsverlust sind etwa in Kontakten zwischen einer Partei und dem Mediator außerhalb der Vermittlung, beim Trösten und bei Schmeicheleien seitens einer Partei zu suchen.

Clayman, Steven (2001): Footing in the Achievement of Neutrality. The Case of News Interview Discourse. In: Paul Drew (Hg.): Talk at work. Interaction in institutional settings. Transferred to digital printing. Cambridge: Cambridge Univ. Press (8), S. 163–198. Cobb, Sara; Rifkin, Janet (1991): Practice and Paradox. Deconstructing Neutrality in Mediation. In: Law and Social Inquiry 16 (1), S. 35–62. Goffman, Erving (1989[1967]): On Face-Work. In: Erving Goffman (Hg.): Interaction Ritual. Essays on face-to-face behavior. Chicago: Pantheon Books, S. 5–45. Jacobs, Scott (2002): Maintaining neutrality in dispute mediation. Managing disagreement while managing not to disagree. In: Journal of Pragmatics 34, S. 1403–1426. Luhmann, Niklas (2008[1969]): Legitimation durch Verfahren. 1. Aufl. Frankfurt am Main: Suhrkamp (443).

17:00
Der Täter-Opfer-Ausgleich als Vermittlungsverfahren

ABSTRACT. Der Täter-Opfer-Ausgleich (TOA) bietet eine Möglichkeit für die Opfer und Täter eines Vergehens, sich untereinander auszutauschen und zu einer Lösung der bestehenden Probleme, meist in Form einer Entschuldigung und/oder Kompensation, zu kommen. Dazu gehört üblicherweise auch ein Dritter, der das Verfahren leitet und laut Selbstbeschreibung auch neutral sein soll. Im Vergleich zu anderen Vermittlungsverfahren wie der Mediation besteht im TOA jedoch eine Asymmetrie der Verhandlungspositionen. Es ist von vorneherein einigermaßen gesichert, wer schuldig ist und die Kompensation leisten muss. Vom Opfer wird die Annahme der Entschuldigung und der Kompensation erwartet. Meine Frage ist also, ob der TOA unter einen allgemeinen Begriff eines Vermittlungsverfahren fällt oder nicht. Meine These ist, dass er sehr wohl unter den Vermittlungsverfahren subsumiert werden kann, denn einerseits ist in den Abläufen des TOA die Neutralität von ähnlicher Bedeutung wie in den anderen Verfahren und andererseits findet sozialer Tausch statt. Erstens könnte die neutrale Haltung des Vermittlers in einem solchen Verfahren sogar noch bedeutsamer sein, da ein Gelingen des TOAs unweigerlich mit einer Freiwilligkeit und Freiheit für nicht erwartbare Handlungen einhergehen muss, da Reue sonst nur schwer aufrichtig darstellbar wäre. Zu diskutieren ist, ob im TOA „Neutralitätsverhalten“ genauso findet wie in symmetrisch gelagerten Vermittlungen. Zweitens besteht auch im TOA ein (soziales) Tauschverhältnis zwischen den beteiligten Parteien. Der eine gibt dabei seine Schuld zu und versucht eine Kompensation des entstandenen Schadens zu erzielen, die andere Partei vergibt dafür im Gegenzug dem Täter und verzichtet auf weitere Sanktionen durch ein Gericht. Der Täter tauscht jedoch nicht nur mit dem Opfer, gleichzeitig tauscht er mit dem Staat, da er so Straferlass oder die Einstellung des Verfahrens erwirken kann. Dieses Tauschverhältnis unterscheidet den TOA von einer herkömmlichen Familien- oder Wirtschaftsmediation.

17:15
Täter-Opfer-Ausgleich bei Gewaltdelikten als Chance für die Opfer

ABSTRACT. Der Beitrag befasst sich mit der Position von Opfern als Verfahrensbeteiligte in einem Täter-Opfer-Ausgleich. Es wird darum gehen, mit welchen Ängsten, Bedürfnissen und Erwartungen sich Opfer von Gewaltdelikten in das Verfahren begeben und wie diesen in den unterschiedlichen Verfahrensphasen Rechnung getragen werden kann. Dabei wird davon ausgegangen, dass die im Rahmen der Opferwerdung gemachten Erfahrungen einen Einfluss auf die Bewertung der eigenen Handlungsfähigkeit und die Bewertung zukünftiger Situationen und somit auf das zukünftige Verhalten haben. Der Täter-Opfer-Ausgleich ermöglicht neue Erfahrungen und setzt so kognitiv ein Gegengewicht zu dem Erlebten. Damit dies gelingt müssen durch die Konfliktvermittler und Konfliktvermittlerinnen die Motive und Bedürfnisse der Opfer berücksichtigt werden, die wiederum eng mit dem Erleben der Tatsituation zusammenhängen. Die Perspektive der Täter wir im Beitrag bewusst außer Acht lassen. Die empirische Basis entstammt einem Forschungsprojekt, welches durch die Europäische Union im Rahmen des Programms „Criminal Justice“ gefördert wurde. In Deutschland wurden insgesamt 26 Fälle analysiert. Hierfür wurden qualitative Interviews mit Opfern von Gewaltdelikten, mit Konfliktvermittlern und Konfliktvermittlerinnen sowie teilnehmende Beobachtungen durchgeführt.

16:30-18:00 Session 3G: (Verfassungs-)gerichte und andere non-majoritarian institutions II: Empirische Studien zu Deutschland, Ungarn und den USA
Discussant:
Location: Seminarraum 1.406, Universitätsgebäude am Hegelplatz, Dorotheenstr. 24, 4. OG
16:30
Beschränkung des legislativen Spielraumes in Ungarn: die Stärke der verfassungsgerichtlichen Entscheidungen und ihre Folgen

ABSTRACT. Es ist eine wohlbekannte Tatsache, dass der ungarische Verfassungsgerichtshof am Anfang der 90er Jahre eine der mächtigsten Verfassungsgerichthöfe der Welt war. Obwohl diese institutionelle-juristische Beschreibung der Stärke des ungarischen Verfassungsgerichtshofes ohne Zweifel stichhaltig ist, bislang wurden keine empirische Forschungen durchgeführt, die die konkrete Wahrnehmung dieses Machtpotenzials nach dem Transformationsprozesses systematisch dargelegt hätten. Im Mittelpunkt des Problems des Funktionsmechanismus der Verfassungsrechtsprechung steht die Frage, inwieweit der Verfassungsgerichtshof den regulativen Spielraum der Gesetzgebung beschränken kann. Verfassungsgerichtshöfe haben verschiedene Möglichkeiten, wenn sie ein Gesetz annullieren wollen. Die Stärke einer Entscheidung hängt von verschiedenen Faktoren ab, jedoch bestimmen den Charakter der Entscheidung maßgebend die folgenden Indikatoren: formale oder materielle Verfassungswidrigkeit; verfassungswidrige Versäumnis einer Gesetzgebungspflicht oder Verfassungswidrigkeit einer neulich verabschiedeten Rechtsnorm; partielle oder komplette Annullierung der Rechtsnorm; ex tunc, ex nunc oder pro futuro Annullierung der Rechtsnorm; breite oder enge/begrenzte Rechtsfolge; breite oder begrenzte Begründung. Je nachdem was für ein Cocktail aus diesen Möglichkeiten zusammengestellt wird, gilt eine Entscheidung auf einer Skala als stark beschränkend oder leicht beschränkend im Hinblick auf den regulativen Spielraum der Gesetzgebung. Der Vortrag will die Methodologie, das Forschungsdesign sowie die erste Ergebnisse des Pilot Projektes einer empirischen Untersuchung darlegen, welche die jeweilige Wahrnehmung des Machtpotenzials des ungarischen Verfassungsgerichtshofes auf Grund der obigen Skalenwert einer Entscheidung misst, und die Folgen der wechselnden Intensität der Beschränkungsaktivität des Verfassungsgerichtshofes darstellt.

16:45
Ausmaß und Ursachen der Verrechtlichung von Politik in der Bundesrepublik Deutschland
SPEAKER: Sascha Kneip

ABSTRACT. Dass sich demokratische Politik einer zunehmenden Verrechtlichung gegenüber sieht, ist ein geläufiger Topos der politikwissenschaftlichen Debatte über das Verhältnis von Recht und Politik. Ihre demokratietheoretische Brisanz speist sich aus der Tatsache, dass sie häufig von nicht-majoritären Akteuren auszugehen scheint, deren demokratische accountability bestenfalls mittelmäßig ausgeprägt ist. Allerdings: So plausibel der Eindruck einer zunehmenden Verrechtlichung zunächst anmuten mag – bislang wissen wir vergleichsweise wenig über das empirische Ausmaß dieser Verrechtlichungstendenzen und ihre Ursachen. Hat Verrechtlichung über die Zeit zugenommen? Welches sind die treibenden Akteure und institutionellen Arrangements hinter dieser Entwicklung? Was sind die zentralen Ursachen, auf die diese (vermutete) Entwicklung zurückgeführt werden kann? Der vorgeschlagene Beitrag will sich diesen Fragen am Beispiel der Bundesrepublik Deutschland empirisch nähern. Dazu soll zum einen das Ausmaß der nationalstaatlichen Verrechtlichung und ihre Entwicklung über Zeit über das Agieren des Bundesverfassungsgerichts empirisch erfasst werden, zum anderen aber auch die europäische Ebene in den Blick genommen und danach gefragt werden, wie intensiv europäische Akteure (v.a. Kommission und EuGH) autonomes politisches Entscheiden in der Bundesrepublik beeinflussen und prägen. Die empirischen Ergebnisse der Untersuchung sollen dann an die Diskussion um die Ursachen von Verrechtlichung rückgebunden werden.

17:00
Verfassungsgerichte als Konfliktlöser - Ein rechtssoziologischer Vergleich des U.S. Supreme Court und des deutschen Bundesverfassungsgerichtes
SPEAKER: unknown

ABSTRACT. Das paper stellt den Beitrag der rechtssoziologischen Justizforschung für den Vergleich von "non-majoritarian institutions" und ihre gesellschaftliche Wirkung am Beispiel von Verfassungsgerichten vor. Es sieht Verfassungsgerichte als Konfliktlöser und widmet dabei der Bewältigung von Rountinefällen und deren gerichtlicher Bearbeitung besondere Aufmerksamkeit. Die Reichweite dieses methodischen Ansatzes wird am Beispiel des Vergleichs von U.S. Supreme Court und deutschem Bundesverfassungsgerichtes getestet.

Schwerpunkte einer justizsoziologischen Analyse sind das Management des Fallaufkommens, deren gerichtsförmige Bewältigung und die organisatorischen Strukturen sowie Arbeitsroutinen, die sich im Prozess der Entscheidungsfindung herausgebilden. Unser rechtssoziologischer Ansatz versteht Verfassungsgerichtsverfahren als eine Abfolge von Konfliktlösungsphasen. Wir unterscheiden die drei Phasen der Mobilisierung, Entscheidungsfindung und Implementation und benutzen diese analytische Differenzierung für den Vergleich der untersuchten Gerichte .

Entsprechend dieser Phasenunterscheidung diskutieren wir in einem ersten Teil Zugang, Erfolgsbarrieren und Fallselektion, indem wir die Mobilisierung der Fälle, Fragen der Verfahrensgestaltung und die Kontrolle des Fallaufkommens an den beidern Verfassungsgerichten gegenüberstellen. Der Vergleich demonstriert die unterschiedlichen Strategien bei der Bewältigung des hohen Fallaufkommens bei beiden Gerichten. Dem Umlaufverfahren des U.S.Supreme Court steht die dezernatsmäßige Bearbeitung durch Kammern im Bundesverfassungsgericht gegenüber.

Der zweite Teil analysiert die Arbeitsweise der Gerichte bei der Entscheidungsfindung im Hinblick auf die Rolle seines Personals. Besonderer Augenmerk gilt dem Beitrag der Wissenschaftlichen Mitarbeiter (beim Bundesverfassungsgericht) bzw. der law clerks (beim U.S. Supreme Court). Als wichtiges Unterscheidungsmerkmal der untersuchten Gerichte wird die konflikthafte Beratungspraxis und die hohe Zahl der dissenting opinions beim Supreme Court hervorgehoben, während beim Bundesverfassungsgericht ein eher konsensorietierter Entscheidungsstil dominiert.

Der dritte Teil vergleicht die Wirkung von Entscheidungen der Gerichte. Unterschieden werden die Untersuchungsperpektiven der Effektivität, der Implementation und der Evaluation. Wichtig für den Wirkungsvergleich ist, ob sie in gesetzgeberischen, administrativen oder gerichtlichen Arenen oder in der Öffentlichkeit analysiert werden. Ein Ergebnis des Vergleichs ist, dass Strategien der Nichtbeachrung oder des Widerstandes beim Supreme Court häufiger vorkommen als beim Bundesverfassungsgericht.

In einem abschließenden vierten Teil werden funktionale und historische Aspekte des U.S. Supreme Court und des Bundesverfassungsgerichtes verglichen. Das Paper kontrastiert Wege der Auswahl, Nominierung und Bestelllung der Verfassungsrichter. Insbesondere im Vergleich der Austauschprozesse mit dem politischen System wird deutlich, dass diese in den Vereinigten Staaten in höherem Maße politisiert sind als in Deutschland.

17:15
Kommentar

ABSTRACT. Kommentar

16:30-18:00 Session 3H: Praxis der Rechtsstaatsförderung und wissenschaftliche Kritik

Gemeinsame Veranstaltung der Tracks "Recht und Entwicklung" und "Rule of Law and Governance". Organisiert von Christian Boulanger und Matthias Kötter

Rechtsstaatsförderung bezeichnet eine Politik, die auf die Regierungs‐ und Verwaltungsstrukturen in einem anderen Land einwirkt, um sie im Hinblick auf einen universell verstandenen Standard von Rechtsstaatlichkeit zu verbessern. Die Rechtsstaatsförderung ist heute ein wichtiges Gestaltungsmittel der deutschen Außen- und Entwicklungspolitik. Dabei wird von einer besonderen Glaubwürdigkeit der deutschen Akteure in diesem Bereich ausgegangen, die sich aus der Geschichte der Bundesrepublik ableite, in der Freiheit und Wohlstand als aufs engste mit der Rechtstaatlichkeit des Grundgesetzes verknüpft seien. Der Blick in die Praxis der deutschen Rechsstaatsförderung offenbart allerings konzeptionelle Defizite, die auch daher rühren, dass eine Anbindung an einschlägige rechts- und sozialwissenschaftliche Forschung bislang nicht gelingt. Der Völkerrechtsblog (hier und hier) und der Blog des Berliner Arbeitskreises Rechtswirklichkeit (hier) eröffneten vor kurzem ein Gespräch zwischen Forschenden aus der Rechts- und Politikwissenschaft und der Ethnologie über Theorie, Praxis und Kritik der Rechts- bzw. Rechtsstaatsförderung. Der Roundtable setzt dieses Gespräch fort. Zusammen mit den für die Rechtsstaatsförderung zuständigen Referent/innen aus BMZ und AA und mit Vertretern deutscher Organisationen, die "vor Ort" Projekte Rechtsstaatsförderprojekte durchführen, sollen die Chancen und Schwierigkeiten diskutiert werden, die mit einer engeren wissenschaftlichen Begleitung dieses Politikbereichs verbunden wären, wobei insbesondere nach dem spezifischen Beitrag der Rechtswissenschaft und der Rechtssoziologie zu fragen sein wird.

Es diskutieren:

  • Susanne Jacobi, Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ)
  • Markus Weilenmann, Gründer und Leiter des “Büro für Konfliktforschung in Entwicklungsländern” (Schweiz)
  • Dirk Sander, Auswärtiges Amt
  • Stefan Pürner, Deutsche Stiftung für internationale rechtliche Zusammenarbeit (IRZ)
Moderation:
  • Mattias Kötter, WZB
  • Christian Boulanger, Forum Transregionale Studien
Location: Seminarraum 1.501, Universitätsgebäude am Hegelplatz, Dorotheenstr. 24, 5. OG
16:30
Eingangsstatement zum Roundtable "Praxis der Rechtsstaatsförderung und wissenschaftliche Kritik"

ABSTRACT. Eingangsstatement zum Roundtable "Praxis der Rechtsstaatsförderung und wissenschaftliche Kritik"

16:40
Eingangsstatement zum Roundtable "Praxis der Rechtsstaatsförderung und wissenschaftliche Kritik"

ABSTRACT. Eingangsstatement zum Roundtable "Praxis der Rechtsstaatsförderung und wissenschaftliche Kritik"

16:50
Kommentar zum Roundtable "Praxis der Rechtsstaatsförderung und wissenschaftliche Kritik"

ABSTRACT. Susanne Jacobi ist Projektkoordinatorin für das "GIZ Regional Program Good Governance Maghreb" bei der Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ).

17:00
Kommentar zum Roundtable "Praxis der Rechtsstaatsförderung und wissenschaftliche Kritik"

ABSTRACT. Markus Weilenmann ist Gründer und Leiter des “Büro für Konfliktforschung in Entwicklungsländern” (Schweiz)

18:30-20:00 Session 4: Eröffnungsvortrag mit Empfang

Eöffnungsvortrag mit Empfang

Location: Audimax, Hauptgebäude, Unter den Linden 6
18:30
Eröffnungsvortrag: Recht als Praxis. Zu den Herausforderungen der Rechtsforschung heute
SPEAKER: Susanne Baer

ABSTRACT. Eröffnungsvortrag von BVRin Prof. Dr. Dr. h.c. Susanne Baer

Im Anschluss findet ein Empfang statt.