BERLIN2015: DIE VERSPRECHUNGEN DES RECHTS DRITTER KONGRESS DER DEUTSCHSPRACHIGEN RECHTSSOZIOLOGIE-VEREINIGUNGEN, 9.-11. SEPTEMBER 2015, HUMBOLDT-UNIVERSITäT ZU BERLIN
PROGRAM FOR THURSDAY, SEPTEMBER 10TH
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09:30-11:00 Session 5A: Das Recht auf Barrierefreiheit

Track "Inklusion und Rechtliche Stellvertretung". Organisiert von Felix Welti.

Location: Seminarraum 1.608, Universitätsgebäude am Hegelplatz, Dorotheenstr. 24, 6. OG
09:30
Barrierefreiheit in Behindertenrechtskonvention und Behindertengleichstellungsgesetz des Bundes
SPEAKER: Felix Welti

ABSTRACT. Barrierefreiheit wurde als Rechtsbegriff in Deutschland 2002 mit dem Behindertengleichstellungsgesetz des Bundes (BGG) eingeführt und definiert. In allen 16 Ländern wurden entsprechende Gesetze zwischen 1999 (Berlin) und 2008 (Niedersachsen) eingeführt. Die BGG binden jeweils nur die öffentliche Verwaltung und dies nur partiell, so im baulichen Bereich nur für große Um- und Neubauten (§ 8 BGG). Der ursprüngliche Impuls des Forums behinderter Juristinnen und Juristen, ein auch die Privatwirtschaft bindendes umfassendes Antidiskriminierungsgesetz zu schaffen, wurde nicht aufgeriffen. Das BGG setzt mit den Zielvereinbarungen (§ 5 BGG) auf (scheinbar) freiwillige Lösungen. Insofern bleibt Barrierefreiheit hier vor allem eine Versprechung des Rechts. Das Problem wurde nicht aufgegriffen, als 2006 unter dem Druck des Europäischen Unionsrechts das auch private Anbieter von Gütern und Leistungen bindende AGG geschaffen wurde. Eine systematische Verknüpfung des individuellen Rechts, nicht benachteiligt zu werden, mit der strukturellen Vorkehrung Barrierefreiheit wurde bislang kaum vorgenommen. Die 2009 für die Bundesrepublik Deutschland verbindlich in Kraft getretene UN-Behindertenrechtskonvention enthält ein Diskriminierungsverbot, das auch angemessene Vorkehrungen (reasonable accommodation) zur Sicherung gleicher Rechte umfasst (Art. 5 UN-BRK) und das Prinzip der Zugänglichkeit (Art. 9 UN-BRK), durch das die Erfassung und Beseitigung von Barrieren im öffentlichen wie im privaten Sektor gefordert wird. Die UN-BRK hat das Versprechen auf eine barrierefreie Gesellschaft erneuert und ihm in Politik und Recht neue Verbindlichkeit gegeben. So wurde im Nationalen Aktionsplan (NAP) der Bundesregierung zur UN-BRK von 2012 eine Evaluation des BGG vorgesehen, deren Ergebnisse 2014 präsentiert wurden. Auch in den Ländern sind Diskussionen in Gang gekommen. Für die Verbindlichkeit und Durchsetzung der Rechte auf Barrierefreiheit können in der Gesellschaft hemmende und fördernde Faktoren beobachtet werden, die sich zum Teil auch in der Systematik und Dogmatik des Rechts rekonstruieren lassen. Hierzu gehören die Differenzierung zwischen individuellen Rechten und strukturellen Vorkehrungen, die Diffusion von Verantwortung in politischen und rechtlichen Mehr-Ebenen-Systemen, die Verwurzelung eines medizinisch orientierten Behinderungsbegriffs in Gesellschaft und Rechtswesen – trotz veränderter Rechtsgrundlagen – und ein Rechtsschutzdefizit für nicht unmittelbar individuelle Anliegen, das auch mit dem Verbandsklagerecht in § 13 BGG noch nicht überwunden werden konnte. In der Auseinandersetzung des Ausschusses der Vereinten Nationen von Menschen mit Behinderungen ist die (Nicht-)Umsetzung von Art. 9 UN-BRK im Frühjahr 2015 aufgegriffen worden. Die darauf folgende Diskussion wird zeigen, welchen weiteren Beitrag internationales Recht zur Materialisierung des Versprechens auf Barrierefreiheit leisten kann.

09:45
Barrierefreiheit und Rechtsmobilisierung

ABSTRACT. Inklusion bedeutet zunächst nur das Einbezogensein in verschiedene Gesellschaftsbereiche. Hinzukommen muss die Möglichkeit zur Teilhabe vor allem in Gestalt der Inanspruchnahme von Rechten (vgl. Wansing 2005). Nach der International Classification of Functioning, Disability and Health (ICF) kann Rechtsmobilisierung als „Aktivität“ angesehen werden, die von personbezogenen und Umweltfaktoren beeinflusst wird (vgl. WHO 2005). Barrieren im juristischen oder bürokratischen Feld können den Kapitalerwerb als Voraussetzung für und die Mobilisierung von Recht an sich verhindern (vgl. Bourdieu 1987 u. 2006, vgl. Baer 2015, vgl. Kocher 2013). Behinderte Menschen sind ungleich häufiger als nicht behinderte Menschen darauf angewiesen, ihre Rechte zu mobilisieren, z. B. im Sozialrecht. Teilhabeleistungen werden nur auf Antrag und häufig erst in Folge einer Klage bewilligt. Zunächst muss das Individuum Kenntnis darüber erlangen, dass eine beantragte Leistung nicht bewilligt wurde. Es muss des Weiteren durch den Abbau von Barrieren in die Lage versetzt werden, selbstbestimmt zu entscheiden, wie es darauf reagieren und welche weiteren Schritte es einleiten möchte. Diese Aufgabe liegt im Zuständigkeitsbereich der Behörden. Behinderte Menschen gehen eine dauerhafte „Beziehung“ zu Behörden ein. Der Abbruch von Beziehungen erzeugt soziale Kosten. Menschen in dauerhaften sozialen Beziehungen neigen deshalb nicht dazu, rechtliche Schritte gegen den „Beziehungspartner“ einzuleiten (vgl. Blankenburg 1980). Behinderte Menschen können sich nicht einfach vom Sozialhilfeträger oder der Krankenkasse lossagen, weil sie sich in einem Abhängigkeitsverhältnis befinden. Darüber hinaus können Menschen durch verhinderte Teilhabe in anderen Lebensbereichen in ihrer Rechtskompetenz eingeschränkt sein, was sie innerhalb eines sozial selektiven Rechtssystems erneut benachteiligt. Dies trifft besonders häufig auf Menschen mit einer Beeinträchtigung zu (vgl. BMAS 2013). Durch bestehende Barrieren und die Art der Beziehung zu Behörden erhöhen sich die Kosten für die Mobilisierung von Recht für behinderte Menschen erheblich. Das Behindertengleichstellungsgesetz (BGG) von 2002 verfolgt mehrere Ziele (§ 1 BGG): a. die Beseitigung und Verhinderung von Benachteiligungen aufgrund einer Behinderung, b. die gleichberechtigte Teilhabe am Leben in der Gesellschaft und c. eine selbstbestimmte Lebensführung. Mit der Formulierung dieser Ziele wurde behinderten Menschen nichts weniger als eine umfassende Gleichstellung in allen Lebensbereichen „versprochen“. 2009 wurde die Behindertenrechtskonvention der Vereinten Nationen (BRK) von der Bundesrepublik Deutschland ratifiziert. Art. 19 BRK normiert das Recht auf soziale Teilhabe und Selbstbestimmung. Diese Rechte hat der deutsche Gesetzgeber als seine Ziele anerkannt. Um sie zu erreichen, muss behinderten Menschen u. a. der Zugang zu öffentlichen Einrichtungen und Diensten ermöglicht werden. Der Gesetzgeber verpflichtete Bundesbehörden bzw. Bundesrecht ausführende Behörden 2002 bereits zur Herstellung von Barrierefreiheit (§§ 4, 7 BGG). Auch private Unternehmen werden aufgefordert, mit Verbänden behinderter Menschen Zielvereinbarungen abzuschließen (§ 5 BGG), die eine Verpflichtung zur Herstellung von Barrierefreiheit enthalten sollen. Die Einlösung dieses Versprechens hätte einen positiven Effekt auf die Rechtsmobilisierungschancen behinderter Menschen. Was ist aus dem Versprechen geworden? Mit dieser Frage beschäftigen sich Gesetzesevaluationen. Die Bundesregierung nahm sich im Nationalen Aktionsplan zur Umsetzung der BRK u. a. die Evaluation des BGG vor (vgl. BMAS 2011). Ausgewählte Ergebnisse dieser Evaluation (vgl. Welti et al. 2014) werden im Rahmen der Session „Recht auf Barrierefreiheit“ präsentiert.

10:00
Rechtliche Aussagen und empirische Ergebnisse zur Barrierefreiheit im Gesundheitswesen
SPEAKER: Diana Ramm

ABSTRACT. Sowohl das Behindertengleichstellungsgesetz des Bundes (BGG) als auch die UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) haben zum Ziel, behinderten Menschen die gleichberechtigte Teilhabe am Leben in der Gesellschaft zu ermöglichen und jegliche behinderungsbedingte Benachteiligungen zu beseitigen und zu verhindern. Gesellschaftliche Teilhabe umfasst auch den gleichberechtigten Zugang zum Gesundheitswesen (Art. 25, 26 UN-BRK i. V. m. Art. 9 UN-BRK). Wesentlich hierfür ist die barrierefreie Gestaltung der Umwelt (§ 4 BGG). Umfasst ist dabei nicht nur die räumliche Zugänglichkeit, sondern beispielsweise auch die Zugänglichkeit von Informationsquellen und Dokumenten. Die Herstellung von Barrierefreiheit im Gesundheitswesen ist Aufgabe verschiedener Akteure. Hierzu zählen in erster Linie die Sozialleistungsträger/Rehabilitationsträger sowie die Dienste und Einrichtungen. Eine tragende Rolle kommt dabei den Krankenkassen zu. Die bundesunmittelbaren Krankenkassen sind ohne Einschränkungen an das BGG gebunden und müssen darauf hinwirken, dass Sozialleistungen in barrierefreien Räumen und Anlagen ausgeführt werden. Hierzu sind sie auch nach § 17 Abs. 1 Nr. 4 SGB I verpflichtet. Dienste und Einrichtungen der gesundheitlichen Versorgung und der Rehabilitation können durch Versorgungsverträge mit den Leistungsträgern und zivilrechtlich zur Barrierefreiheit verpflichtet sein. Ärzte und andere Leistungserbringer dürfen zudem nach dem Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz (AGG, § 4 Abs. 1 lit. e UN-BRK i. V. m. § 2 Abs. 1 Nr. 5, 8 AGG) behinderte Patientinnen und Patienten bzw. Rehabilitandinnen und Rehabilitanden beim Vertragsschluss nicht benachteiligen. Laut der Evaluation des BGG (2014) gibt es Hinweise darauf, dass noch erheblicher Verbesserungsbedarf besteht, um das deutsche Gesundheitswesen benachteiligungs- und barrierefrei zu gestalten. Nur defizitär scheinen Schulungsbedarfe ermittelt und Schulungsangebote zum BGG und dessen Verordnungen von den verantwortlichen Stellen vorgehalten zu werden. Die Evaluation zeigt weiterhin, dass viele Bereiche noch immer nicht ausreichend barrierefrei gestaltet sind, jedoch einzelne Bereiche durch die Verbände und Vereine behinderter Menschen dahingehend schon positiv bewertet wurden. Weiter zeigte sich, dass der Mehrheit der befragten Krankenkassenbeschäftigten nach eigenen Angaben keine bzw. kaum Informationen über die Barrierefreiheit von Arztpraxen und Rehabilitationseinrichtungen bekannt sind. Fehlende Barrierefreiheit im Gesundheitswesen stellt insgesamt eine erhebliche Benachteiligung behinderter Menschen dar und hat weitreichende Konsequenzen. Problematisch ist dies auch, weil davon auszugehen ist, dass insbesondere behinderte Menschen vermehrt medizinische und rehabilitative Einrichtungen aufsuchen müssen. Stehen diese nicht im ausreichenden Maß (barrierefrei) zur Verfügung, birgt dies die Gefahr der Unterversorgung, da möglicherweise die notwendige medizinische Versorgung wegen des hohen Aufwands nicht in Anspruch genommen wird. Zudem läuft die fehlende Barrierefreiheit im Gesundheitswesen mit dem Ergebnis, dass behinderte Menschen nicht im selben Maße Zugang zu Gesundheitseinrichtungen haben wie nicht behinderte Menschen, dem Ziel der Inklusion zuwider. Gleichzeitig schränkt dieser Umstand behinderte Menschen in ihrem Wunsch- und Wahlrecht (§ 9 SGB IX) sowie in ihrem Recht auf eine freie Arztwahl (§ 76 SGB V) erheblich ein. Es ist nicht zuletzt in diesem Zusammenhang zu hinterfragen, wie die geplanten Maßnahmen im Entwurf eines Gesetzes zur Stärkung der Versorgung in der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV-Versorgungsstärkungsgesetz – GKV-VSG) für die Verbesserung der Inanspruchnahme medizinischer Leistungen für Menschen mit Behinderungen wirken können.

10:15
Gleichstellungsrecht in Deutschland und Polen

ABSTRACT. Das Gleichstellungsrecht ist ein besonderes Gebiet der Rechtswissenschaft. Es muss sich mit schwierigen und komplexen Fragestellungen der Soziologie, Philosophie und des Rechts auseinandersetzen. Diesem Rechtsgebiet liegt die Frage zugrunde, wie bestimmte Personengruppen behandelt werden müssen, um ihnen Gleichbehandlung gewähren zu können. Im engeren Sinne besteht dann das Gleichstellungsrecht aus solchen Regelungen, die eine bestimmte Personengruppe fördern soll, um eine Chancengleichheit herzustellen. Im weiteren Sinne umfasst das Gleichstellungsrecht auch das Antidiskriminierungsrecht, das heißt solche Rechtsvorschriften, die den Schutz vor Diskriminierung (die nicht gerechtfertigt sind) zum Ziel haben. Ein großer Teil des heutigen Gleichstellungsrechts gehört zum Recht der Europäischen Union bzw. hat dort seine Wurzeln. Es muss aber betont werden, dass sowohl das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland als auch die Verfassung der Republik Polen entsprechende Antidiskriminierungs- bzw. Gleichstellungsprinzipien äußern. Die verfassungsrechtlichen Normen, obwohl sie grundsätzlich direkt angewandt werden müssen, bedürfen zumeist einer Konkretisierung in einem Gesetz. Im deutschen und polnischen Recht gelten mehrere Gesetze, die die Gleichbehandlung bestimmter Personengruppen gewährleisten sollten (z. B. Behindertengleichstellungsgesetz des Bundes). Neben den speziellen Gesetzen existieren noch Sonderregelungen in verschiedenen Gesetzen (z. B. im Baurecht). In Bezug auf das Thema der Session „Recht auf Barrierefreiheit“ hat dieser Beitrag zum Ziel, eine Auswahl sowohl deutscher als auch polnischer Rechtsregelungen, die durch Umsetzung der Barrierefreiheit die Gleichbehandlung der behinderten Menschen verwirklichen sollen, darzustellen. Diese Präsentation beinhaltet aber nicht nur die bloße Darstellung der Rechtsvorschriften, sondern soll Anreize bieten zu überlegen, ob die Versprechungen des Rechts, die Gleichstellung behinderter Menschen im Kontext von Barrierefreiheit erfüllt werden kann.

09:30-11:00 Session 5C: Recht, Umweltgerechtigkeit, Soziale Bewegungen

Track "Soziale Ungleichheit". Organisiert von Sergio Costa und Kolja Möller.

Location: Seminarraum 1.308, Universitätsgebäude am Hegelplatz, Dorotheenstr. 24, 3. OG
09:30
Widersprüchliche internationale Rechtsnormen und lokale Aushandlungsprozesse – Das Beispiel der Lizenzgebühren auf transgenes Saatgut in Argentinien

ABSTRACT. Internationale Verträge und Regelwerke wie TRIPS werden kritisiert, da diese Konzerne des Nordens gegenüber Akteuren des Südens wie bei der Patentierung des Saatguts bevorzugen. Dadurch wurden Abhängigkeiten und soziale Ungleichheiten zwischen Saatgut- und Pestizidkonzernen des globalen Nordens und Bauern im globalen Süden generiert oder verstärkt. In diesem Paper verdeutliche ich die Rolle des internationalen Rechts in lokalen Aushandlungsprozessen. Dazu arbeite ich widersprüchliche Rechtsnormen im internationalen Recht heraus, die in nationales Recht übernommen wurden. Ich gehe der Frage nach, wie die Konfliktparteien diese gegensätzlichen Rechtsnormen als Machtinstrument nutzen. Ich untersuche den Fall der Auseinandersetzung um die Lizenzgebühren auf transgenes Saatgut in Argentinien. Ich zeige auf, dass dieser Konflikt auf den Widerspruch in den internationalen Verträgen TRIPS und UPOV 1978 und 1991 in Bezug auf das farmers' privilege zurückging. Das farmers' privilege bezeichnet das Recht der Bauern bei der Ernte Saatgut für den eigenen Gebrauch bei der nächsten Aussaat zurückzubehalten. Der Widerspruch im internationalen Recht wurde ins argentinische Saatgutgesetz und Patentgesetz übernommen. Ich rekonstruiere den Konflikt zwischen den Saatgutkonzernen maßgeblich Monsanto, den argentinischen Bauern und der argentinischen Regierung seit 1997. Ich verdeutliche, wie die Konfliktakteure versuchten der Rechtsnorm zu ihren Gunsten mittels anderer Machtressourcen (Demonstrationen, Einfluss auf die argentinische Regierung, Marktmacht, Einflussnahme der US-Regierung) Geltung zu verschaffen und das nationale Recht zu ihren Gunsten zu verändern. Zur Einflussnahme nutzten die Interessengruppen unterschiedliche Arenen wie auch den Europäischen Gerichtshof. Zudem wurden Vorschriften des internationalen Vertrags UPOV 1991 als Diskussionsgrundlage verwendet, obwohl Argentinien diesem gar nicht beigetreten war. Das heißt, das internationale und nationale Recht steht erstmal nur auf dem Papier, aber vermittelt durch andere Machtressourcen entwickeln sich die Rechtsnormen selbst zu Machtinstrumenten auch außerhalb ihres Wirkungsbereiches. Dies trifft besonders im Fall widersprüchlicher internationaler und auch nationaler Rechtsnormen zu.

09:45
Die Rolle des Rechts in der sozialen Mobilisierung gegen genveränderte Pflanzen
SPEAKER: Renata Motta

ABSTRACT. Dieses Papier untersucht, unter welchen Bedingungen der Rückgriff auf das Recht Vorteile für soziale Bewegungen in ihren Kampf gegen gentechnisch veränderte Pflanzen (GVP) in Brasilien und Argentinien bringt. Die Einführung der Biotechnologie ist Teil eines globalen Strukturwandels in der Landwirtschaft, der unter anderem einen beschleunigten Prozess der Kommodifizierung von Saatgut und Boden, eine verstärkte Integration von globalen Rohstoffketten, sowie eine zunehmende Unternehmenskontrolle in der Nahrungskette umfasst. Dieses materielle Grundlage der heutigen globalen Agrarmärkte erhält symbolische Unterstützung in der Aushandlung internationaler Rechtsinstrumente, in denen Wissenschaft und Risiko als Kriterien für die Entscheidungsfindung gelten. Diese globale Strukturierung der Agrarmärkte vertieft die Kluft zwischen zwei Modellen der landwirtschaftlichen Entwicklung: (1) Export-orientierte Agrarindustrie und (2) kleinbäuerliche landwirtschaftliche Produktion von Nahrungsmitteln für die lokalen und regionalen Verbrauch. Während der Staat die erste subventioniert und unterstützt, wird die letztere sich selbst überlassen. Das bedeutet eine asymmetrische Verteilung von Einkommen, Rechten und Risiken, die wiederum neue Ungleichheiten schaffen. Die politische Entscheidung für die Förderung von Agrarbiotechnologie reproduziert die sozioökonomische Ungleichheiten eines kapitalintensiven Technologiepakets, das eine großflächige Produktion verlangt, um Gewinne zu erzielen und Kapitalerträge zu konzentrieren. Diese Einkommensunterschiede werden in das politische System übertragen, welches die Interessen der kapitalistischen Landwirtschaft besser repräsentiert. Die Zulassung von GV-Pflanzen beruht auf Asymmetrien des Wissens in ihrer Regulierung, die die damit verbundenen Risiken herunterspielen und mit einer asymmetrischen Verteilung von Gesundheits- und Umweltrisiken verbunden sind. Die arme Landbevölkerung in Exportländern trägt die größte Last der negativen Folgen einer expansiven, profitablen und chemie-intensiven Produktion von commodities: Ihr Recht auf Land, auf ihre kulturellen Traditionen und auf eine gesunde Umwelt und ein gesundes Leben werden verletzt. Brasilien und Argentinien sind der zweit- und der drittgrößte Hersteller von gentechnisch veränderten Pflanzen. Auf der Grundlage meiner Forschung zur sozialen Mobilisierung in diesen politisch asymmetrischen Konflikten, werde ich meine Erkenntnisse über die Rolle der Mobilisierung des Rechts (Hilson, 2002; McCann, 2006) präsentieren. In Brasilien war der Einsatz von Rechtsmitteln als Instrument zur Durchsetzung der Forderungen der sozialen Bewegungen, dass Prozesse der Politikformulierung und -umsetzung alle rechtlichen Verfahren, einschließlich der Bestimmungen der Transparenz und des Zugangs der Öffentlichkeit folgen. Als Konsequenz hatten die sozialen Bewegungen Zugang zu den institutionellen Kanälen des policy cycle und erlangten Druckmittel gegen dominanten Gruppen oder waren zumindest in der Lage, Entscheidungen zu hinterfragen. Doch im Hinblick auf die substantiven Ansprüche, war der Einfluss weniger bedeutend, da die Gerichte nur selten in der Lage waren, Entscheidungen gegen unkooperative Regierungen und Eliten durchzusetzen. Für soziale Bewegungen in Argentinien, wo die politische Landschaft für ihre Forderungen geschlossen war, war der Einsatz von Rechtsmitteln gegen Pestizidbelastung ein Mittel um Öffentlichkeit zu generieren, indem sie neue Arenen für die Debatte über Rechte schafften. In allen Fällen hat die Mobilisierung des Rechts Resonanz in den Medien gefunden, die die Sichtbarkeit und den Druck der sozialen Bewegungen erhöhten. Diese Tatsache unterstützt die Feststellung, dass es nicht die Mobilisierung des Rechts allein war, sondern ihre Kombination mit Protestmobilisierung, gezielten Medienkampagnen und Lobbying-Aktivitäten, die positive Ergebnisse erzielten.

10:00
Umweltgerechtigkeit durch Immissionsschutzrecht?
SPEAKER: Lucia Scharpf

ABSTRACT. Der Einfluss des Immissionsschutzrechts auf die sozial-räumliche Verteilung verkehrsbedingter Umweltbelastungen

Dieser Vortrag untersucht die Auswirkungen des Straßenverkehrs auf die menschliche Gesundheit unter dem Gesichtspunkt der Umweltgerechtigkeit. Er geht der Frage nach, welchen Beitrag das Immissionsschutzrecht zur gerechten sozial-räumlichen Verteilung von Lärm und Luftschadstoffen in Deutschland leisten kann.

Unter „Umweltgerechtigkeit“ wird die Forderung nach angemessener Teilhabe an Vor- und Nachteilen verstanden, die aus der Nutzung von Umweltmedien resultieren.1 Dem Vortrag liegt die Annahme zugrunde, dass die Verteilung von Umweltbelastungen in einem bestimmten räumlichen Bereich dann „gerecht“ ist, wenn sie Gruppen mit geringem sozio-ökonomischem Status nicht stärker als andere betrifft.

Ausgehend von der Beobachtung, dass diese Annahme für straßenverkehrsbedingte Lärm- und Luftbelastungen in Deutschland nicht zutrifft,2 will ich folgende These begründen: Das Ziel einer materiell gleichen Verteilung von Umweltbelastungen auf alle sozio-ökonomischen Schichten wird durch das Immissionsschutzrecht nicht gefördert.

Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG, Art. 3 Abs. 1 GG und das Sozialstaatsprinzip begründen das Versprechen, anlässlich der Planung und Genehmigung von Infrastrukturmaßnahmen deren sozial-räumliche Auswirkungen zu berücksichtigen. Die Wahl bestimmter inhaltlicher Verteilungskonzepte bleibt jedoch Gesetzgeber und Verwaltung überlassen. Dies ist auf das liberale Grundrechtsverständnis des Grundgesetzes zurückzuführen, dem zufolge insbesondere Art. 3 Abs. 1 GG nicht materielle Gleichheit, sondern willkürfreies Recht fordert. Eine an sachgerechten Kriterien orientierte Mehrbelastung durch Planungsmaßnahmen ist daher verfassungsrechtlich zulässig.

Das einfache Recht strebt keine Gleichverteilung verkehrsbedingter Immissionen an. Planung und Genehmigung von Verkehrswegen werden maßgeblich durch die Grenzwerte der 16. und 39. BImSchV bestimmt. Sie definieren einen Mindeststandard, der nicht unterschritten werden darf, bieten aber keine Grundlage dafür, die Verteilung von Gesundheitsbelastungen unterhalb der Gefahrenschwelle zu berücksichtigen. Vielmehr können Vorschriften wie das Trennungsgebot des § 50 S. 2 BImSchG zur Intensivierung bestehender Belastungsschwerpunkte beitragen.

Darüber hinaus entfaltet das Planungsrecht nur begrenzte Wirkkraft in der sozialen Realität. Vor dem Bau einer Straße kann die bestehende Sozialstruktur eines Siedlungsgebiets im Planfeststellungsverfahren berücksichtigt werden; nach der Genehmigung können verwaltungsrechtliche Instrumente jedoch kaum verhindern, dass fallende Miet- und Grundstückspreise die Ansiedlung finanziell schlechter gestellter Bevölkerungsgruppen begünstigen.

1 Vgl. Kloepfer, Michael, Umweltgerechtigkeit, 2006; Maschewsky, Werner, Umweltgerechtigkeit, Public Health und soziale Stadt, 2001.

2 Vgl. nur Köckler, Heike; et al., Umweltbezogene Gerechtigkeit und Immissionsbelastungen am Beispiel der Stadt Kassel, 2008; Bolte, Gabriele; et al., Soziale Ungleichheit bei der Belastung mit verkehrsabhängigen Luftschadstoffen, in: Bolte, Gabriele; Mielck, Andreas (Hrsg.), Umweltgerechtigkeit, 2004, S. 175 ff.

09:30-11:00 Session 5D: Kopftuchdebatte, Islam und Recht - sind die bisherigen Antworten noch gültig?

Track "Recht und Religion". Organisiert von Julika Rosenstock.

Location: Seminarraum 1.502, Universitätsgebäude am Hegelplatz, Dorotheenstr. 24, 5. OG
09:30
Rückblick auf zwölf Jahre Kopftuchverbote für Lehrerinnen: Politische Profilierungsversuche von Landespolitikern und ausbleibender Rechtsschutz durch die Gerichte

ABSTRACT. Durch die Entscheidung des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts vom 27. Januar 2015 wurde die Möglichkeit landesgesetzlicher pauschaler Kopftuchverbote für Lehrerinnen aufgrund einer lediglich „abstrakten“ Gefahr für die staatliche Neutralität und den Schulfrieden aufgehoben. Die inkonsistente Kompromisslösung des Zweiten Senats von 2003 gilt nicht mehr, rechtsstaatlich-liberale Normalität könnte wiedereinkehren. Notwendig ist nun eine Einzelfallabwägung zwischen dem individuellen Grundrecht der Betroffenen und einer „konkreten“ Gefahr. Zur Umsetzung des neuen BVerfG-Beschlusses ist jedoch erforderlich, dass auch die landespolitisch Beteiligten und die Fachgerichte ein Einsehen haben, was angesichts der ideologischen Streitbefangenheit der Kopftuchmaterie nicht selbstverständlich ist. Ob und wie eine Normalisierung auf der Grundlage der neuen Entscheidung zu erwarten ist, kann möglicherweise anhand eines Rückblicks auf die vergangenen zwölf Jahre beurteilt werden. Betrachtet man die Resultate und Dynamiken der Landespolitik in acht deutschen Bundesländern und der Fachgerichte zur Kopftuchfrage, so lässt sich die Wahrscheinlichkeit einer angemessenen „Befriedung“ der Konflikte um das Kopftuch von Lehrpersonen vielleicht beurteilen.

09:45
Gerechtigkeit und gutes Leben in der Kopftuchdebatte
SPEAKER: Felix Ekardt

ABSTRACT. Diese Session untersucht die rechtssoziologischen, rechtstheoretischen und rechtsphilosophischen Implikationen der Multikulturalismus-Debatte am Beispiel (primär) der Kopftuchdebatte und fragt danach, inwieweit die teils zugespitzten Debatten rund um den Islam seit der ursprünglichen Kopftuchdebatte vor gut zehn Jahren nunmehr neue Einschätzungen nahelegen. Die Kopftuchdebatte führt zu der für liberal-demokratische Grundordnungen zentralen Unterscheidung von Gerechtigkeit und gutem Leben, also der Frage nach den Grenzen staatlicher Zuständigkeit, was freilich selten klar gesehen wird. Anhand dessen lässt sich erläutern, inwieweit die Versprechungen des Rechts hinsichtlich klarer Grenzziehungen und der Befriedung schwieriger, pluralismusbedingter Konflikte real werden können oder nicht. Dabei steht auch die Position des Rechts bzw. der Rechtswissenschaft zu bestimmten Grundkonzepten aus anderen Sozialwissenschaften zur Debatte, etwa zum Kulturrelativismus einerseits und dem drohenden Paternalismus einer Leitkulturkonzeption andererseits. Ferner hat das Kopftuchthema einen starken Gender-Bezug. Der Vortrag erörtert schwerpunktmäßig die Scheidung von Gerechtigkeit und gutem Leben im Umgang mit religiösen Konflikten wie dem Kopftuch.

10:00
Lehrerinnen mit Kopftuch: Vorgaben für Auflösung möglicher Konflikte an Schulen
SPEAKER: Kirsten Wiese

ABSTRACT. Im Januar 2015 entschied das Bundesverfassungsgericht, dass Pädagoginnen und Pädagogen in öffentlichen Schulen nicht pauschal verboten werden könne, ein Kopftuch oder andere religiöse Symbole zu tragen (1 BvR 471/10; 1 BvR 1181/10). Ein solches pauschales Verbot stimme nicht mit deren Religionsfreiheit überein. Das Tragen des Kopftuches könne aber verboten werden, wenn dadurch der Schulfrieden oder die staatliche Neutralität „hinreichend konkret“ beeinträchtigt werden. In der Kritik an diesem Beschluss wurde erstens angemerkt, dass durch den Bezug auf den Schulfrieden die Zulässigkeit des Kopftuchtragens vom Willen der Eltern abhängig gemacht werde und zweitens durch Bezug auf den konkreten Einzelfall, Schulen zu viel Konfliktlösung aufgebürdet werde. Diesen beiden Kritikpunkten soll in diesem Vortrag nachgegangen werden. Untersucht werden soll zunächst, wie Schulfrieden (verfassungs-) rechtlich ausgestaltet ist und welche Gefährdungen des Schulfriedens grundsätzlich und vor allem „durch“ Lehrerinnen mit Kopftuch denkbar sind. Sodann soll betrachtet werden, welche kulturell und/oder religiös motivierten Konflikte an Schulen in Deutschland existieren und welche Lösungsmechanismen in Schulgesetzen dafür vorgeschlagen sowie tatsächlich an Schulen praktiziert werden. In diese Betrachtungen sollen rechts- sowie erziehungswissenschaftliche, theoretische wie empirische, Erkenntnisse einbezogen werden. Im Ergebnis soll bewertet werden, ob der Vorschlag des Bundesverfassungsgerichts für den gesetzgeberischen Umgang mit dem Kopftuch einer Lehrerin den Erwartungen des Rechts insoweit genügt, als er sowohl einen gerechten Ausgleich kollidierender Rechte als einen praktikablen Umgang mit „dem Kopftuch“ an öffentlichen Schulen ermöglicht.

09:30-11:00 Session 5E: Rechtliche Bevölkerungs-, Familien- und Biopolitik

Track "Lebensformen und Identitäten". Organisiert von Michelle Cottier und Elisabeth Holzleithner.

Location: Seminarraum 1.601, Universitätsgebäude am Hegelplatz, Dorotheenstr. 24, 6. OG
09:30
Familienduell – Die politisch-rechtliche Regulierung von Familie in Deutschland

ABSTRACT. In den letzten Jahren konnten in Deutschland nicht nur Veränderungen in den familiären Lebensformen beobachtet werden, wovon etwa der Diskurs um ‚Regenbogenfamilien’, Alleinerziehende oder ‚Patchworkfamilien’ zeugt. Auch in der politischen – und damit rechtlichen – Regulierung von Familie sind tiefgreifende Transformationen auszumachen. Zu den wichtigsten Veränderung zählen etwa u.a. die Einführung der Lebenspartnerschaft, die Elterngeldreform, der programmatische Ausbau der öffentlichen Kindertagesbetreuung und die Reformen im Zuge der deutschen Krisenpolitik, die nach einer Phase der Umsetzung teils progressiver Politiken wiederum tendenziell auf das scheinbar überholte Modell des männlichen Familienernährers setzen. ‚Familie’ ist daher nicht als transhistorische Universalie zu sehen, sondern als politisches Konstrukt, kontingentes Ergebnis von sozialen Kämpfen und Einsatzpunkt unterschiedlichster sozialer Identitäten und Interessen. Als solches nimmt es nicht zuletzt auch eine zentrale Rolle in der Regulierung privatisierter Reproduktionsarbeit ein.

Ausgehend von den oben genannten Entwicklungen geht dieser Beitrag der Frage nach, wie Familie gegenwärtig in Deutschland reguliert wird: Welches Bild von Familie liegt dem politischen Diskurs, auf dem dieser Wandel des Rechts basiert, zugrunde? Welche neuen gesellschaftlichen (und reproduktiven) Aufgaben und Zuständigkeitsbereiche werden Familie zugesprochen und welche neuen Subjektivitäten, wie etwa Mütter- und Väterbilder, sind Teil von Familie?

Basierend auf meinem Dissertationsprojekt möchte ich in einem ersten Schritt daher auf die Gouvernementalitätstheorie Michel Foucaults rekurrieren, die es analytisch erlaubt, die politisch-rechtliche Regulierung von Familie als Teil von Biopolitik und damit von Bevölkerungspolitik zu fassen. Da darüber jedoch die Dimensionen der Trennung von öffentlich und privat sowie der Geschlechterverhältnisse, die historisch eng mit der Regulierung von Familie verbunden sind, nicht berücksichtigt werden, muss der konzeptionelle Teil notwendig um feministische und geschlechterkritische Debatten zur Familie und sozialer Reproduktion ergänzt werden. Dies wird in einem zweiten Schritt geleistet. Schließlich werde ich zur Beantwortung der oben aufgeworfenen Frage nach der gegenwärtigen politisch-rechtlichen Regulierung von Familie erste Ergebnisse einer Diskursanalyse von entsprechenden Parlamentsdebatten im Deutschen Bundestag präsentieren.

09:45
Reproduktive Rechte und biopolitische Kontinuitäten

ABSTRACT. Durch die Einführung der „Reproduktiven Rechte“ an der UN-Weltbevölkerungskonferenz von Kairo 1994 wurde ein internationaler Paradigmenwechsel vollzogen: Im Vordergrund stand von nun an nicht mehr die bevölkerungspolitische Kontrolle der Fortpflanzung, sondern die Selbstbestimmung der Frauen über ihre reproduktive und sexuelle Gesundheit. Damit waren bevölkerungspolitische Zwangsmaßnahmen offiziell abgeschafft – und Fortpflanzung und Sexualität auf die Basis der Menschenrechte und der Gesundheitsförderung gestellt. Allerdings haben sich – das zeigen verschiedene Studien – unter der Chiffre der Gesundheit und der Rechte neue biopolitische Regulierungsweisen etabliert: Die ‚neomalthusianische’ Direktive, Geburten zu steuern, wurde mit den Prämissen der Selbstbestimmung, Wahlfreiheit (‚Choice’) und Eigenverantwortung nicht aufgegeben. Vielmehr wurden sie in die Individuen hineinverlagert. Frauen sollen nun zwar frei, aber doch auf eine bestimmte Art und Weise Kinder bekommen. Sie sollen ‚selbst bestimmt’ zum Beispiel weniger, mehr, später, früher, gesunde usw. Kinder bekommen. Der Vortrag diskutiert am Beispiel der Weltgesundheitsorganisation (WHO) die ambivalenten Effekte der „reproduktiven Rechte“ in internationalen Gesundheitspolitiken. Dabei geht es erstens um die Frage, auf welche Weise reproduktive Rechte und reproduktive Gesundheit diskursiv zusammenwirken, und dabei normative reproduktive Subjektivierungsweisen zugrunde legen: Nahegelegt werden bestimmte reproduktive Verhaltensweisen, wie zum Beispiel präventive Risikominimierung oder Verhütungsmittel-Nutzung im Sinne eines richtigen Timings von Geburten (‚Birth Spacing’). Dieser Fokus auf Verhaltensweisen und Wahlfreiheit hat einen stark individualisierenden Bias, gleichzeitig ist dieser – wie dargelegt werden soll – gerade anschlussfähig für makropolitische anti- oder pronatalistische Ziele. Die Programme verweisen auf eine ambivalente Mischung aus Frauenrechten/Selbstbestimmung und einem Imperativ des Risikomanagements, der Individuen dazu bringen soll, ihr Fortpflanzungsverhalten eigenverantwortlich und im Sinne eines Bevölkerungs-Solls zu optimieren. Dabei wird im Vortrag aufgezeigt, wie sich der Fokus in den WHO-Programmen je nach Weltregion unterscheidet: Während das reproduktive (weibliche) Subjekt in der so genannten ‚Dritten Welt’ angerufen wird, zu verhüten und Schwangerschaften zu ‚verhindern’, ist in den europäischen Programmatiken eine pronatalistische Chiffre der ‚Wunschkinderfüllung’ vorherrschend. Zweitens und eng damit zusammenhängend sollen die internationalen Programmatiken der reproduktiven Gesundheit und Rechte auch als globale (völker)rechtliche Instrumente und Normen befragt werden. Inwieweit sind ‚Rechte’ in der Post-Kairo-Ära noch relevant? Wie kommen diese zur Anwendung – oder auch nicht? Welche Grenzen und Fallstricke weisen die reproduktiven Rechte auf? Welche Probleme birgt die Gleichzeitigkeit von Universal- und Individualrecht, von Zugangsrecht und Abwehrrecht? Waren die ‚reproduktiven Rechte’ einst vor allem als Abwehrrechte gegen einen repressiven/diskriminierenden Staat konzipiert, hat sich der Schwerpunkt zunehmend auf Zugangsrechte verlagert (unter anderem kommt dies zum Ausdruck in der individualisierenden Verschiebung zu Gesundheitsfragen). Stand bei ersteren die Politisierung der Reproduktionsverhältnisse im Vordergrund, reduziert sich die Umsetzung der Zugangsrechte in positives Recht auf eine zunehmende Politik der Individualisierung und Liberalisierung der Anwendung bestimmter Methoden/Technologien. Dabei wird – so die zu diskutierende These – das Verhältnis zwischen makropolitischen biopolitischen Strategien und dem Prinzip der Entscheidungsfreiheit als unproblematisch konzipiert. Biopolitische Implikationen werden dadurch unsichtbar, aber auch der aktuelle Abbau von Gesundheitsversorgung gerät politisch in den Hintergrund.

10:00
Die instrumentalisierte Frau: Rechtliche Konstruktionen der Leihmutterschaft

ABSTRACT. Das Bild der instrumentalisierten Frau, der Leihmutter aus dem globalen Süden, deren Armut und schlechte Bildung durch strukturell überlegene Wunscheltern aus dem globalen Norden ausgenützt wird, prägt derzeit die Diskussion um die rechtliche Regelung der Leihmutterschaft in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Ganz anders die Repräsentationen in Ländern, die Leihmutterschaft erlauben: Das etwa in Grossbritannien anzutreffende Regelungsmodell geht vom Idealbild der altruistisch handelnden Mutter aus, die in einem Akt der Grosszügigkeit und unter Verzicht auf eine finanzielle Entschädigung einer anderen Frau die Erfüllung ihres Kinderwunsches ermöglicht. Ein weiteres Modell, anzutreffen bspw. in gewissen US-amerikanischen Bundesstaaten, betrachtet die Leihmutter als Erbringerin einer Dienstleistung, die in einem umfassenden Vertragsverhältnis zu den Wunscheltern steht und entsprechend auch für ihre Dienste entschädigt wird. Der Beitrag untersucht Gesetzgebung(smaterialien), Gerichtsentscheidungen und Rechtsliteratur mittels vergleichender Diskursanalyse und fragt danach, welches Bild sich das Recht in unterschiedlichen Kontexten von der Schwangerschaft für Dritte macht, wie Konstruktionen der Leihmutterschaft zur Abstützung unterschiedlicher Regelungsmodelle verwendet werden, und welche Versprechungen das Recht gegenüber den verschiedenen am Leihmutterschaftsverhältnis Beteiligten (Leihmutter, Wunscheltern, Kind) bereit hält.

10:15
„Warum soll ich meine Pflicht als Frau erfüllen?“ : Emanzipatorisches Potential von Fortpflanzungsmedizin?
SPEAKER: unknown

ABSTRACT. Die rechtliche Regulierung der Fortpflanzungsmedizin (FMed) hat in Österreich im Jahr 2015 einen enormen Liberalisierungsschub erfahren (FMedRÄG 2015, BGBl I 2015/35). Die zulässigen FMed-Maßnahmen sind nunmehr für gleich- wie verschiedengeschlechtliche Paare zugänglich und die Eizellspende sowie die Präimplantationsdiagnostik grundsätzlich erlaubt. Diese Liberalisierung resultiert hauptsächlich aus Bestrebungen, die davor bestehende EMRK-widrige Rechtslage zu sanieren. Die Notwendigkeit ergab sich daraus, da die EMRK in Österreich in Verfassungsrang steht (BGBl 1964/59). Die Rechtsprechung des EGMR ist damit für Österreich überindividuell relevant. In Bezug auf FMed betrifft dies hauptsächlich die Rspr zur in Art 8 EMRK umfassten „Reproduktionsautonomie“.

Doch auch für diese Autonomie gilt zu fragen, inwieweit gesellschaftliche Erwartungen, die auf Einzelpersonen als Träger_innen von bestimmten zugeschriebenen oder erreichten Rollen (Vgl Linton, The Study of Man (1936) 113-132; Maine, Ancient Law (1986) 141) im Sozialsystem treffen, autonomes Entscheiden überhaupt zulassen. Die Liberalisierung von FMed – etwa in Form der Öffnung für gleichgeschlechtliche Paare – erscheint zunächst als emanzipatorischer Erfolg, geht doch Liberalisierung bereits begrifflich mit Erweiterung von Handlungsspielräumen einher. Doch gilt es, die Gefahr zu bedenken, dass mit liberaleren Regelungssystemen potentiell die herrschenden Normvorstellungen gefestigt werden. Relevante Normvorstellungen im Bereich der FMed sind etwa die heterosexuelle Matrix iS Butlers (Das Unbehagen der Geschlechter (1991), Körper von Gewicht (1995)) sowie die kapitalistische Wirtschaftsordnung.

Ziel unseres Beitrags ist es vor dem kurz skizzierten Hintergrund die einzelnen Regelungen, die im Zusammenhang mit FMed relevant sind, auf ihr emanzipatorisches Potential hin zu überprüfen. Dabei gilt es, zu analysieren, welche Handlungsspielräume wie durch die Neuregelungen betroffen sind und zu überlegen, ob sich etwa lediglich „die Abweichenden“ oder „abweichenden Lebensstile“ verringern, also „Normalisierung“ stattfindet oder inwieweit Anerkennung von „Abweichendem“ durch Rechtsnormen ausgerückt wird. Welches Potential kommt den Regulierungen im Hinblick auf das Aufbrechen von traditionellen Geschlechter- und Familienbildern zu? Wo können jedoch auch Gefahren liegen, die traditionelle Rollenvorstellungen über „richtige Frauen“, „richtige Männer“ oder „richtige Familien“ zu restabilisieren? Besonders relevante Regelungsbereiche umfassen: • Voraussetzungen heterologer Methoden • Anforderungen an die betroffenen Personengruppen (Alter, Gesundheitszustand, Familienstand, sexuelle Orientierung ...) • Bestimmung von Mutter-, Vater-, Elternschaft • Rechte auf Kenntnis der genetischer Abstammung

Wir ziehen dabei Vergleiche zum verwandten Diskurs über emanzipatorische Potentiale der Anti-Baby-Pille.

09:30-11:00 Session 5F: Strategien justizieller Akteure mit politischer Wirkung im NSU-Verfahren

Track "Die Versprechungen des Strafprozesses". Organisiert von Alexander Klose und Doris Liebscher.

Location: Seminarraum 1.405, Universitätsgebäude am Hegelplatz, Dorotheenstr. 24, 4. OG
09:30
Die Rolle der Nebenklage im NSU-Prozess
SPEAKER: Carsten Ilius

ABSTRACT. Die Rolle und zugeschriebene Position der Nebenklage im NSU-Prozess wie sie sich u.a. am Beispiel der Beweiserhebung zu dem Anschlag in der Keupstraße zeigt und die verschiedenen Versuche zur Durchbrechung dieser Rolle und der Verfahrensrealität durch Nebenkläger und Nebenklagevertreter.

09:45
Die Rolle der Bundesanwaltschaft im NSU-Verfahren und ihr Verhältnis zur Nebenklage. Nebenklage als Fremdkörper in Verfahren um rechten Terror und Aufklärung möglicher staatlicher Verstrickung?

ABSTRACT. Es gibt ein strukturelles Problem für Verletzte in Strafverfahren gegen rechte „Einzeltäter“, bei denen der Umfang des Wissens, des Billigens und der Unterstützung durch Sicherheitsorgane nicht bekannt ist, aber vermutet werden muss.

Im NSU-Komplex zeigt sich - wie auch in ähnlichen Verfahren in anderen Ländern oder beim Oktoberfestattentat –, dass die Sicherheitsbehörden strukturell wiederkehrende „Abwehrmechanismen“ entwickelt haben, wie z.B. die Informationskontrolle und Informationsvernichtung, die auch zu einer Verschiebung der Machtpositionen im Strafverfahren führen.

Ist das Interesse der Nebenkläger darauf gerichtet, die möglichen staatlichen Verstrickungen zu erhellen und aufzuklären, sind die Möglichkeiten der Durchsetzung dieser Interessen sehr beschränkt, da das Konzept der Nebenklage in der StPO schreibt den Nebenkläger/innen ihr in dem Verfahren zu verfolgendes Interesse vor. Am Beispiel des NSU-Verfahrens kann gezeigt werden, dass das Verfolgen von Aufklärung zu einem Interessengegensatz von Nebenlage und Bundesanwaltschaft führt, die versucht Verfahrenshoheit durch Informationskontrolle zu behalten.

10:00
Strategien justizieller Akteure mit politischer Wirkung am Beispiel NSU-Verfahren – Inhalte und Umsetzung
SPEAKER: Anna Luczak

ABSTRACT. Der bisherige Ablauf des NSU-Verfahrens macht deutlich, wie ein mit den gesetzlichen Vorgaben der StPO konformes Vorgehen von Gericht und Staatsanwaltschaft die politische Dimension einer politischen Mord- und Anschlagsserie ausblenden kann. Ganz anders als im Frankfurter Auschwitz-Prozess, in dem von Seiten der Staatsanwaltschaft ein Aufklärungsinteresse im doppelten Sinne verfolgt wurde (Aufklärung der Taten genauso wie Aufklärung der Bevölkerung über die Taten) und das Gericht dem nachging, ist das NSU-Verfahren davon geprägt, dass durch verschiedene einzelne Vorgehensweisen von Gericht und Staatsanwaltschaft ein allgemeines gesellschaftliches Interesse an den Taten und der Bedeutung der dahinter stehenden Struktur gelähmt und der Blick auf das Wesentliche verstellt wird. Im Einzelnen geht es dabei um die Gestaltung der Beweisaufnahme („Mosaik-Stein“-These), die selbst auferlegte Beschränkung auf die mit der Anklage mitgeteilten Erkenntnisse von Seiten des Beweis erhebenden Gerichts und die selbst auferlegte Beschränkung von Seiten Bundesanwaltschaft, keine darüber hinaus gehenden weiteren Erkenntnisse mitzuteilen, oder die besondere „Technik“ des Gerichts, für Unbeteiligte nicht nachvollziehbar einzelne Akteninhalte statt zusammenhängender Erläuterungen abzufragen.

09:30-11:00 Session 5G: Verfassungsgerichte und andere nicht-majoritäre Institutionen in Re-Autokratisierungsprozessen

Track "Recht, Expertenherrschaft, Demokratie". Organisiert von Michael Hein und Silvia von Steinsdorff

Verfassungsgerichte und andere nonmajoritarian institutions - wie unabhängige Zentralbanken und sonstige „independent regulatory bodies“ (Stone Sweet/Thatcher 2002) - sind aus demokratietheoretischer Perspektive in doppelter Hinsicht interessant: Einerseits wird immer wieder auf die contermajoritarian difficulty verwiesen. Dabei wird die Kontrolle demokratisch getroffener Mehrheitsentscheidungen durch Institutionen in Frage stellt, die selbst nicht oder nur indirekt durch Mehrheitswahl legitimiert sind. Andererseits betonen viele Beobachter die zentrale Rolle, die diesen Institutionen bei der Sicherung demokratischer Herrschaftssysteme zukam und -kommt. Sie gelten als wichtige (zusätzliche) Instanzen der Gewaltenteilung und –kontrolle, die die accountability gewählter Verfassungsorgane zwischen den Wahlen sichern und eine „Tyrannei der Mehrheit“ verhindern.

Besondere Relevanz erlangt die Frage nach der demokratiesichernden oder -hemmenden Funktionslogik von Verfassungsgerichten und anderen nicht-majoritären Institutionen in politischen Transformationsphasen. Das gilt sowohl für die Etablierung neuer demokratischer Institutionensysteme, als auch für Fälle, in denen die begonnene Demokratisierung zum Stillstand kam bzw. Re-Autokratisierungsprozesse zu beobachten sind. Die komplexe Rolle von Verfassungsgerichten und anderen nicht-majoritären Instanzen im Verlauf der Demokratisierung politischer Regime hat in den vergangenen Jahrzehnten breite wissenschaftliche Aufmerksamkeit erfahren. Die Frage, ob und mit welchen Erfolgsaussichten nicht-majoritäre Institutionen, die zum Zweck der zusätzlichen Gewaltenkontrolle und (im Falle von Verfassungsgerichten) des individuellen Grundrechtsschutzes geschaffen wurden, Tendenzen der Entdemokratisierung entgegenwirken können, ist hingegen bislang kaum systematisch erforscht worden. Allenfalls einige neuere Untersuchungen zur Rolle von (Verfassungs-)Gerichten in autoritären Systemen bieten hier erste Anhaltspunkte (z.B. Ginsburg/Moustafa 2008). Allerdings steht hier der mögliche Beitrag zur Legitimierung etablierter autokratischer Herrschaftsverhältnisse im Zentrum des Interesses. In Transformationsstaaten, die den Pfad der Demokratisierung verlassen, stellt sich hingegen in erster Linie die Frage, ob und wie die nicht-majoritären Institutionen ihre (noch) vorhandene Unabhängigkeit bewahren können bzw. inwiefern sie ihre Funktionslogik den veränderten Rahmenbedingungen anpassen (müssen). Das Panel, das im Rahmen des größeren Kongress-Tracks „Recht, Expertenherrschaft, Demokratie: (Verfassungs-)gerichte und andere non-majoritarian-institutions" stattfinden wird, widmet sich dieser bislang kaum systematisch analysierten Frage. Hierzu sind sowohl Länderstudien als auch (interregional?) vergleichende Beiträge erwünscht, die entweder einzelne Institutionen in den Blick nehmen oder auch ein breiteres Spektrum nicht-majoritärer Instanzen – neben den bislang am meisten erforschten Verfassungsgerichten und Zentralbanken ist auch an Rechnungshöfe, Ombudspersonen oder von der Regierung institutionalisierte Expertenkommissionen zu denken - innerhalb eines politischen Systems beleuchten.

Location: Seminarraum 1.406, Universitätsgebäude am Hegelplatz, Dorotheenstr. 24, 4. OG
09:30
Das türkische Verfassungsgericht: Ein legitimitätsgefährdender Akteur oder Schützer der verfassten Demokratie?

ABSTRACT. Die in der amerikanischen wissenschaftlichen Literatur mehrfach thematisierte Problematik des „demokratischen Paradoxes“ in Beziehung auf die Rolle des Supreme Court im Verfassungssystem überträgt sich auf das Kontinentaleuropa hauptsächlich als die Diskussion über die (fehlende) demokratische Legitimation der verfassungsrechtlich beuftragten Verfassungsgerichte. Auch wenn diese Gegenüberstellung von Parlamenten und Verfassungsgerichten hinsichtlich eines wahlorientierten Demokratieverständnisses schnell einzuleuchten vermag, sollte die politische Legitimationsfrage nicht so einfach als gelöst betrachtet werden. Schon 1929 wies Hans Kelsen als Positivist auf der Tagung der Deutschen Staatsrechtslehrer auf den „politischen“ Aspekt jeglicher gerichtlicher Entscheidungsmacht hin, die nicht nur auf die Verfassungsgerichte beschränkt werden dürfte. Die Annahme in etablierten Demokratien, dass die Parlamente aufgrund ihrer demokratischen Legitimation im Rahmen der Verfassung handeln und die Grundsätze des Verfassungssystems weder in Frage stellen noch sie zu durchbrechen versuchen, wird selten hinterfragt. Dieser Fakt mag mit den entschärften und verrechtlichten Konfliktlinien in der Politik erklärt werden. Doch in vielen fragilen Demokratien trifft diese Annahme nicht zu und die Funktion der Verfassungsgerichte rückt in solchen politischen Systemen in ein anderes Blickfeld. In fragilen Demokratien stellt sich hauptsächlich die Frage, ob Verfassungsgerichte mit ihrem Widerspruch gegenüber dem Willen der Parlamente die demokratische Legitimation aushöhlen oder aber, ob sie die demokratisch legitimierte Institution am Überschreiten ihrer Grenzen verhindern. Am Fallbeispiel des türkischen Verfassungsgerichts wird anhand ausgewählter Entscheidungen zu unterschiedlichen Kompetenzbereichen des Gerichts (konkrete und abstrakte Normkontrolle, Verfassungsbeschwerde, Verbot von politischen Parteien) der Frage nachgegangen, wie das Parlament seine Kompetenzen wahrnimmt bzw. unterläßt sie auszuüben, und das Verfassungsgericht das verfassungsrechtliche System auslegend zu formen versucht. Dabei wird auf die Interaktion zwischen den beiden Institutionen fokussiert und nicht nur auf das Handeln des Verfassungsgerichts als sog. Schützer der Verfassung abgestellt.

09:45
Die Rolle des ägyptischen Verfassungsgerichts nach Mubarak
SPEAKER: Maria Haimerl

ABSTRACT. Im Februar 2011, nach tagelangen Massenprotesten in Kairo und anderen Städten Ägyptens, gab der ägyptische Vizepräsident Omar Suleiman den Rücktritt des Präsidenten Husni Mubarak, der Ägypten über 30 Jahre lang regiert hatte, bekannt. Der Oberste Militärrat (Supreme Council of the Armed Forces, SCAF) übernahm die Macht und setzte die Verfassung außer Kraft. In den Monaten nach dem Abgang Mubaraks rangen verschiedene Kräfte um die Ausgestaltung der gesellschaftlichen und politischen Ordnung, die im Juli 2013 in der erneuten Machtübernahme des ägyptischen Militärs mündete. In diesen Auseinandersetzungen war ein Organ der suspendierten Verfassung von 1971, das ägyptische Verfassungsgericht (Supreme Constitutional Court, SCC), ein bedeutender Akteur. Es war vom Militärrat im Gegensatz zu den beiden Parlamentskammern nicht aufgelöst worden und hat seine wichtigste Funktion der Normenkontrolle trotz der Außer-Kraft-Setzung der Verfassung weiterhin ausgeübt. Das Paper widmet sich dem ägyptischen Verfassungsgericht nach dem Sturz Husni Mubaraks und damit einem Fall, der für die Frage nach der Rolle von Verfassungsgerichten in Re-Autokratisierungsprozessen von besonderem Interesse ist. Eingerichtet mit der Verfassung von 1971 unter Anwar al-Sadat war das Gericht stets regimeloyal und tastete die Kerninteressen des Regimes nicht an. Zugleich erklärte das Gericht in den 1990er Jahren, die als „goldene Ära“ des Gerichts bezeichnet werden, eine Vielzahl an Gesetzen für verfassungswidrig und fungierte als gewisses institutionelles Gegengewicht gegenüber der Exekutive. Hinsichtlich dieses ambivalenten, institutionellen Erbes unterscheidet sich das Gericht von der Vielzahl an Verfassungsgerichten, die nach dem Zweiten Weltkrieg in vielen Transformationsstaaten neu eingerichtet wurden. In dem Paper werden zwei zentrale Entscheidungen des Gerichts in ihrem politischen Kontext analysiert: die Urteile zum Parlamentswahlgesetz und dem Lustrationsgesetz vom Juni 2012. Anhand der empirischen Analyse der verfassungsgerichtlichen Texte verdeutlicht das Paper das Dilemma der Richter_innen, mit dem sie in dieser Transformationsphase konfrontiert waren. In den beiden Entscheidungen lässt sich auf der einen Seite das Interesse der Richterschaft an der Geltung des Rechts aufzeigen, das vor dem Hintergrund der besonderen Logik verfassungsrichterlicher Autorität und ihrem professionellen Selbstverständnis bedeutsam ist. Auf der anderen Seite spiegeln sich in den Entscheidungen, die die Auflösung des Parlaments und die Teilnahme an der Präsidentschaftswahl eines Mitglieds des alten Regimes zur Folge haben, klare politische Intentionen des SCC und seiner Richter_innen. Unter Berücksichtigung der früheren Rechtsprechung, des institutionellen Selbstverständnisses des Gerichts und des Amtsverständnisses der Richter_innen wird nachvollziehbar, weshalb sich die Richter_innen durch die im islamistisch dominierten Parlament diskutierten Gesetzesentwürfe über einschneidende Kompetenzänderungen und später auch den Verfassungsentwurf der islamistisch geprägten Verfassunggebenden Versammlung gefährdet sahen. So wird schließlich juristische Argumentation eingesetzt, um bestimmte politische Ziele zu erreichen bzw. zu verhindern. Um die eigene Position im System zu wahren geht die Richterschaft eine Allianz mit dem Militärrat ein - eine Übereinkunft, die sich nach der Absetzung des gewählten Präsidenten Muhamed Mursi im Juli 2013 symbolisch in der Interimspräsidentschaft des Verfassungsgerichtspräsidenten Adli Mansur zeigt.

10:00
Kommentar
SPEAKER: Michael Hein

ABSTRACT. Kommentar

09:30-11:00 Session 5H: No Law, Soft Law, Hard Law in Legal Develoment
Location: Seminarraum 1.501, Universitätsgebäude am Hegelplatz, Dorotheenstr. 24, 5. OG
09:30
Multiple Modernities as Orientalism: Persons, institutions, rights in legal development in early Soviet Tajikistan

ABSTRACT. The idea of multiple modernities has been crucial for the current debates over the nature of the Soviet regime. Some describe the Soviet state as essentially modern, some see it as a “neo-traditional” or pre-modern order with a claim to modernity. The first group argues that modernities can be multiple and should not be based on West European concepts and values: since the Soviet regime claimed to be modern and used modern tools, it should be understood as a version of modernity. The second group says that since the Soviet leaders failed the basic structural modernization – the transition from personal to institutional power - and functioned on pre-modern institutions, it cannot be called modern and in practice did not differ from traditional states. Both of these approaches agree that the Soviet regime did not turn to West European modern state system and rather produced an order that is challenging to describe. The difference between these interpretations lies in the analysis of that difference.

In my paper, I would like to scrutinize the “multiple modernities” interpretation, which claims a more diverse, even “politically correct,” non-Eurocentric lens for our understanding of the nature of the Soviet regime. While those who propagate the “neo-traditional” approach suggest that the Soviet development was different from the modern West European one, the “multiple modernities” approach entail that since groups/nations are different, their modernities can also be different. While the first interpretation highlights agency (choices and actions), the second bases its claim on the assumption of differences in cultural and mental characteristics. That second interpretation, interestingly, strongly resembles the practices of orientalism, the construction and projection of otherness and essential difference.

The fine and essential differences in interpretations I would like to discuss in the context of early Soviet legal institutionalization in Tajikistan. In my work, I investigated, among other things, Soviet judicial workers in peripheral Tajikistan. Rather than producing an alternative “Soviet” law and alternative Soviet modernity, the peripheral legal officials argued for a legal order that reflected the same rights, institutions and values as in Western European thought and practice. These officials did not study in Europe, many did not study in Russia and were trained only in Soviet law or none at all. However, they produced the same understanding of the modern state as European enlightenment thinkers. For them, this was not Western modernity, but rather the basis of a functioning state. Opposed to the Soviet “a”legal order that did not secure the primacy of law and immunity of judges, they turned away from their profession.

The experiences of legal officials can help shed light on the meta-narratives about the nature of the Soviet regime. Assumptions about “otherness” are often top-down gazes that ignore local micro-practices and localized understandings. Top-down practices that one utilizes for interpreting “culture” often do not reflect local aspirations and interpretations and can result in essentialist productions of “otherness”, hence orientalism in an alternative vocabulary.

09:45
Soft Law in Practice – National Activists as Intermediates: Business and Human Rights in Colombia

ABSTRACT. The Colombian mining industry is rapidly expanding under increasing European investment. Colombian economic policy bases heavily upon the extractive industry and has defined this sector as one of the major locomotives for economic growth. The ongoing internal conflict, the unresolved land question, human rights abuses and forced displacements present difficult challenges to multinational companies operating in Colombia. Multiple reports of national and international non-governmental organisations document various involvements of multinational corporations with human rights abuses and the ongoing violent conflict. Despite the characterization of multinational companies as powerful international actors no coherent policy exists on an international level towards a regulation of business and their impact upon human rights. Various international soft law instruments attempt to fill this legal gap. This research identifies the UN Guiding Principles on Business and Human Rights, the OECD Guidelines for Multinational Enterprises and the Voluntary Principles on Security and Human Rights as the most relevant ones in the field of multinational companies and human rights in Colombia and focuses on these soft law instruments.

While these soft law instruments are located on an international level, the human and labour rights challenges evolve on a local level where the mining companies operate. It is unclear if, how and in which contexts the mentioned international soft law instruments are used by key actors in their human rights advocacy work against harmful practices of multinational companies. Therefore, this paper investigates the practical application and the associated practical relevance of soft law instruments on the ground within the realms of multinational companies and human rights.

The paper initiates with a theoretical discussion about the legal nature of the examined soft law instruments and questions the benefits of the generally recognized distinction between hard binding and soft non-binding law within the realms of multinational companies and human rights. Thereafter, the paper analyses the diffusion of knowledge about these soft law instruments from an international to a national and local level. Within this process of knowledge diffusion particular attention is given to the national layer and the role national non-governmental organisations play as intermediates and translators of an international and cosmopolitan understanding of business and human rights into local settings. Further, this research investigates the use and the practical implication of the mentioned soft law by key actors on an international, national and local level. To systematically analyse these processes of knowledge diffusion and use of the soft law instruments in question this paper draws on the concept of vernacularization introduced into the field of legal anthropology by Sally Engle Merry.

Qualitative and ethnographic methods such as interviews and participant observation have been used to investigate the posed research questions. The field research was undertaken in Colombia by the accompaniment of several non-governmental organisations which work in the field of multinational companies and human rights. Interviews were conducted with representatives of non-governmental organisations, multinational companies, communities and with diplomats of the home countries of the multinational companies operating in Colombia.

10:00
Kommentar
SPEAKER: Philipp Dann

ABSTRACT. Kommentar

11:00-11:30Kaffeepause
11:30-13:00 Session 6A: Inklusion und Einbeziehung – zwischen Anspruch und Wirklichkeit

Track "Inklusion und Rechtliche Stellvertretung". Organisiert von Josef Estermann und Walter Fuchs.

Die UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderung verspricht, beeinträchtigte Personen in sämtliche gesellschaftliche Sphären gleichberechtigt miteinzubeziehen. Behinderte Menschen sollen ihr Leben überdies möglichst selbstbestimmt und frei von Bevormundung führen können. Dabei wird ein liberaler Menschenrechtsansatz mit umfassenden sozialen Leistungsrechten verbunden. Gerade letztere werden in der Praxis allerdings unweigerlich mit Fragen der Durchsetzbarkeit konfrontiert. Indessen garantieren auch gesetzlich festgelegte staatliche Leistungen allein noch kein befriedigendes Ausmaß an Inklusion. Empirisches Wissen, das Aussagen über den Erfolg inkludierender Maßnahmen erlauben würde, fehlt schließlich vielfach noch. Die Beiträge der Session untersuchen anhand unterschiedlicher Bereiche (Inklusion in den Arbeitsmarkt, Inklusion hörgeschädigter Menschen, Selbstvertretung von Menschen mit Behinderung im Rahmen von Gesetzgebungsprozessen sowie unterstützte Entscheidungsfindung), wie die gesellschaftliche Einbeziehung beeinträchtigter Menschen mit Mitteln des Rechts praktisch möglich ist.

Location: Seminarraum 1.608, Universitätsgebäude am Hegelplatz, Dorotheenstr. 24, 6. OG
11:30
‘Gleiches Recht auf Arbeit’ vs. ‘gleiche Arbeit’ – Möglichkeiten und Grenzen der Inklusion von Menschen mit Behinderungen auf dem Arbeitsmarkt mit den Mitteln des Rechts

ABSTRACT. Das ‚Recht auf Arbeit‘ hat in der Menschenrechtsgeschichte einen problematischen Stand. So gilt es seit jeher einerseits als Vehikel faktischer sozialer Gleichstellung, das geeignet ist, die bloß formalistische Gleichheit eines normativen Egalitarismus zu flankieren oder zu überwinden; andererseits gilt es als bloße Programmformel, als sozialistische Verheißung, als ‚systemwidrig‘ oder zumindest schwer zu verwirklichen – zumal in einer wettbewerblich organisierten Arbeitswelt.

Das Übereinkommen der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (UN-BRK) vom 3. Mai 2008 sieht in seinem Art. 27 explizit ein anerkennungstheoretisch begründetes „gleiche[s] Recht von Menschen mit Behinderungen auf Arbeit“ vor (Abs. 1). In meinem Beitrag rekonstruiere ich in einem ersten Schritt Begriff und theoretische Grundlagen dieses besonderen ‚Rechts auf Arbeit‘; in einem zweiten Schritt widme ich mich den Umsetzungsmöglichkeiten mit den Mitteln des Rechts und insbesondere den praktischen Problemen, ein ‚gleiches Recht auf Arbeit‘ zu realisieren. Ich komme vor dem Hintergrund der Rahmenbedingungen des deutschen Arbeits- und Sozialrechts zu dem Schluss, dass viele der gut gemeinten Eingliederungs-, Förderungs- und Unterstützungsmaßnahmen in ihrer gegenwärtigen Form ihren Endzweck der langfristigen und stabilen Inklusion von Menschen mit Beeinträchtigungen oder Behinderungen auf dem – ersten bzw. allgemeinen – Arbeitsmarkt verfehlen. Dazu gehören beispielsweise befristete Lohnkostenzuschüsse, die umstrittene Ausgleichsabgabe nach § 77 Sozialgesetzbuch IX oder die durch deren Aufkommen finanzierten sogenannten Integrationsprojekte. Die Versprechungen des Rechts werden in diesem Bereich – derzeit – nicht eingelöst.

Die Inklusion im Bereich der Arbeitswelt, die Teilhabe am Arbeitsmarkt hinkt der Entwicklung in anderen Lebensbereichen von Menschen mit Beeinträchtigungen oder Behinderungen deutlich hinterher. So mangelt es bereits an der für eine sinnvolle und wirksame Umsetzung des ‚Rechts auf Arbeit‘ erforderlichen empirischen Wissensbasis. Diese epistemischen Defizite konzediert sogar der letzte (und zugleich erste) Teilhabebericht der deutschen Bundesregierung. Auf S. 129 wird eingeräumt: „Zentrale Aspekte der gleichberechtigten Teilhabe am Arbeitsmarkt bleiben mit den nutzbaren Indikatoren derzeit noch unberücksichtigt. Beispielsweise fehlen präzise Abfragen zum Ausmaß und zur Art von Behinderungen in der Arbeitswelt von Menschen mit unterschiedlichen Beeinträchtigungsarten sowie zum konkreten Unterstützungsbedarf.“ (Teilhabebericht der Bundesregierung über die Lebenslagen von Menschen mit Beeinträchtigungen vom 31.07.2013; http://www.bmas.de/DE/Themen/Teilhabe-behinderter-Menschen/Meldungen/teilhabebericht-2013.html).

Zwischen Anspruch und Praxis klafft eine große Lücke, die die Frage aufwirft, ob sich die Inklusionsdefizite auf dem Arbeitsmarkt beseitigen lassen, indem die Datenlage und die Anzahl und Art der rechtlichen Instrumente zur arbeitsweltlichen Eingliederung von Menschen mit Beeinträchtigungen und Behinderungen verbessert werden, ob mithin nur Forschungsdesiderate und rechtspolitische Forderungen, oder nicht doch grundlegendere Probleme eines ‚gleichen Rechts auf Arbeit‘ bestehen. Dies erscheint plausibel, da ‚gleiches Recht auf Arbeit‘ mangels faktischer Gleichheit nicht ‚Recht auf gleiche Arbeit‘ implizieren kann. Dies gilt jedenfalls dann, wenn man die marktförmige Organisation der Arbeitswelt nicht in Frage stellt und – wie Art. 27 UN-BRK – die Teilhabe am ‚allgemeinen‘ Arbeitsmarkt als erstrebenswerte Zieldimension von Inklusion voraussetzt und beabsichtigt, „die Anerkennung der Fertigkeiten, Verdienste und Fähigkeiten von Menschen mit Behinderungen und ihres Beitrags zur Arbeitswelt und zum Arbeitsmarkt zu fördern […]“ (Art. 8 Abs. 2 lit. a Ziffer iii UN-BRK). Um dieses Ziel zu erreichen, so die Quintessenz meiner Untersuchung, bedarf es mehr bzw. anderer Mittel als der des Rechts.

11:45
Wie kommt Recht zu hörgeschädigten Menschen?
SPEAKER: Andreas Weber

ABSTRACT. Das Projekt „Gesetzeswirkungen bei der beruflichen Integration schwerhöriger, ertaubter und gehörloser Menschen durch Kommunikation und Organisation (GINKO)“ (Projektförderung: BMAS), welches gemeinsam mit den Selbsthilfeverbänden Deutscher Gehörlosen-Bund (DGB) e.V., Deutscher Schwerhörigenbund (DSB) e.V. und der Forschungsstelle zur Rehabilitation von Menschen mit kommunikativer Behinderung (FST) e.V. an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg durchgeführt wurde, befragte mit einem standardisierten Fragebogen berufstätige Menschen mit einer Hörschädigung zu verschiedenen Aspekten der Umsetzung bestehender rechtlicher Regelungen des SGB IX oder der UN-BRK an ihrem Arbeitsplatz. Da in Deutschland entgegen den Anforderungen in Art. 31 UN-BRK sowie §§ 66, 160 SGB IX keine genauen Zahlen zur Prävalenz von Hörschädigung im Allgemeinen und keine zur Beschäftigungsquote von schwerbehinderten Menschen mit einer Hörschädigung im Besonderen zur verfügbar sind, sollten die Ergebnisse nur auf die GINKO-Stichprobe bezogen werden. An der Studie beteiligten sich 3.189 Personen, die angaben, auf Grund ihrer Behinderung über einen Schwerbehindertenausweis zu verfügen, hörgeschädigt und berufstätig zu sein.

Eine zentrale Fragestellung der GINKO-Studie war zunächst, ob den Teilnehmern die für sie relevanten gesetzlichen Regelungen bekannt sind. Deshalb wurden die Teilnehmenden gefragt, ob sie die folgenden wichtigsten Regelungen kennen: 1. des SGB IX (Sozialgesetzbuch IX) (2001), 2. der UN-Konvention (Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen, kurz: Behindertenrechtskonvention) (2009), 3. des BGG (Gesetz zur Gleichstellung behinderter Menschen) (2002), 4. des AGG (Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz) (2006), 5. der SchwbAV (Schwerbehinderten-Ausgleichsabgabeverordnung) (1988, zuletzt geändert 2008), 6. der KHV (Kommunikationshilfeverordnung) (2002).

Es zeigte sich, dass bei den Antwortenden am bekanntesten mit 59,7% das SGB IX, gefolgt von der Schwerbehinderten-Ausgleichsabgabeverordnung mit 37,1% und dem Gesetz zur Gleichstellung behinderter Menschen (BGG) mit 35,7% war. Etwa jede(r) Fünfte (23,4%) gab an, die wichtigsten Regelungen der UN-Behindertenrechtskonvention zu kennen.

Die sich daran anschließende Fragestellung lautete, von wem die berufstätigen Teilnehmenden Informationen zu den sie betreffenden gesetzlichen Regelungen erhalten haben. Ihre Informationen über die Rechte als Menschen mit Behinderung haben die Teilnehmenden am häufigsten von Freunden und Bekannten erhalten (51,7%), darauf folgen der Integrationsfachdienst (37,2%), der entsprechende Selbsthilfeverband (28.0%) und die Arbeitsstelle (22,2%). Keine Informationen erhalten zu haben geben 12,6% der Befragten an.

Eine weitere Fragestellung war die Umsetzung der rechtlichen Rahmenbedingungen gem. § 81 Abs. 4 SGB IX. Aus Sicht der Betroffenen werden die gesetzlich vorgesehenen Maßnahmen zur hörgeschädigtengerechten Ausstattung von Arbeitsplätzen und hörgeschädigtengerechten Gestaltung der Arbeitsorganisation sehr unterschiedlich umgesetzt. So befindet etwa ein Drittel (32,6%) der Teilnehmenden, dass ihr Arbeitsplatz mit den erforderlichen technischen Hilfsmitteln ausgestattet ist und fast ebenso viele (30,1%), dass ihr Arbeitsplatz hörgeschädigtengerecht ist. Organisatorische Maßnahmen fallen demgegenüber vergleichsweise ab, denn nur 22,6% beurteilen ihre Arbeitszeit, 18,5% die Arbeitsorganisation und 17,2% ihr Arbeitsumfeld als hörgeschädigtengerecht.

Die Ergebnissen der GINKO-Studie, die auch auf einer weitgehend barrierefreien Seite (http://ginko.fakten-zur-teilhabe.de/TXT/index.html) dargestellt werden, liefern so auch eine Grundlage für zukünftige rechtssoziologische Analysen und einen Beitrag zur Präzisierung der Instrumente der Rechtswirkungsforschung.

12:00
Gesetzgebungsprozesse beobachtet: Implementierung der UNCRPD

ABSTRACT. I. Überblick: Am Institut für Zivilrecht der Universität Innsbruck wird derzeit das Forschungsprojekt Gesetzgebungsprozesse beobachten: Implementierung der UNCRPD durchgeführt. Auf dem Kongress soll das Projekt in seinen Grundzügen präsentiert und das bisherige Vorgehen skizziert bzw eventuell erste Ergebnisse präsentiert werden. Der Abschluss ist für Frühsommer 2016 geplant. Im Zentrum der Untersuchung steht eine spezielle Bestimmung der UNCRPD. Erstmals beinhaltet ein völkerrechtlicher Vertrag ausdrücklich eine Verpflichtung der unterzeichnenden Staaten, die betroffene Personengruppe (Menschen mit Behinderungen) und deren Vertretungsorganisationen in den Prozess der innerstaatlichen Umsetzung der Konvention aktiv einzubeziehen (Art 4 Abs 3 UNCRPD).

II. Inhalt des Projekts: Dieser Vorgang der Einbindung Betroffener in den Implementierungsprozess wird in vier verschiedenen Ländern (Österreich, Deutschland, Neuseeland, Australien) begleitet und mittels empirischer Methoden analysiert. Bereits die Unterschiede zwischen den rechtlichen und politischen Systemen sowie abweichende Praktiken bei Gestaltung der Gesetzgebungsverfahren stellen große Herausforderungen dar. In Österreich wird im Rahmen des Projekts die Arbeit einer interdisziplinären Arbeitsgruppe (AG) im Bundesministerium für Justiz verfolgt, die an einer Reform des Sachwalterrechts unter Berücksichtigung der UNCRPD-Vorgaben arbeitet. In dieser AG sind auch Menschen mit Behinderungen und deren Organisationen vertreten. Auch in Deutschland, Neuseeland und Australien wird das Vorgehen des jeweiligen Gesetzgebers in vergleichbaren legislativen Prozessen beobachtet.

III. Methoden: In Österreich wurde die AG zur Sachwalterrechts-Reform erfreulicherweise nahezu zeitgleich zum Forschungsprojekt gestartet. Daher kann hier der gesamte Prozess beobachtet werden. Dazu werden Fragebögen eingesetzt, die im Anschluss an die Treffen der AG an alle Teilnehmer verteilt werden. Darin werden Menschen mit Behinderungen aber auch alle anderen Anwesenden über ihre Eindrücke zur Sitzung befragt. Zusätzlich werden mit ausgewählten Selbstvertretern persönliche oder telefonische Interviews geführt. Darin sind nicht nur die Eindrücke und Erlebnisse während der Beteiligung am Gesetzgebungsprozess Thema, sondern auch mögliche Verbesserungsvorschläge werden angesprochen. In Deutschland, Neuseeland und Australien wird nicht ein konkreter Prozess beobachtet, vielmehr werden in zahlreichen formalisierten Interviews die Praktiken der Einbeziehung beeinträchtigter Menschen und deren Organisationen in Gesetzgebungsverfahren der letzten Jahre analysiert. Dabei werden sowohl die offizielle Seite (zuständiges Ministeriumspersonal) als auch Vertreter von NGOs und sonstigen Behindertenverbänden sowie die zuständigen Human Rights Commissioners (Neuseeland, Australien) befragt. Aus der Auswertung all dieser Erhebungen soll einerseits abgeleitet werden, auf welche Art und Weise in verschiedenen (Glied-)Staaten die Verpflichtung aus Art 4 Abs 3 UNCRPD seitens des Gesetzgebers „gelebt“ wird und andererseits soll der Grad der Zufriedenheit innerhalb der betroffenen Personengruppen mit diesem modus operandi herausgearbeitet werden.

IV. Ziele: Beabsichtigt ist nicht vorrangig eine rein theoretische und wissenschaftliche Aufbereitung unterschiedlicher Modelle. Vielmehr sollen die Ergebnisse der Untersuchung praktikable Standards für die Einbeziehung von Betroffenen hervorbringen, sodass diese in künftigen Gesetzgebungsprozessen verbessert werden kann.

12:15
Zur Rechtswirklichkeit unterstützter Entscheidungsfindung: Eine empirische Spurensuche

ABSTRACT. Unterstützte Entscheidungsfindung ist alles andere als ein klares, einheitliches Modell, vielmehr existieren in unterschiedlichen Ländern verschiedenartige Umsetzungsvarianten. Schweden und Kanada gelten dabei international als Vorreiter in Sachen unterstützter Entscheidungsfindung (vgl. u.a. WHO 2011: 138), die dort entwickelten und implementierten Modelle fehlen als Beispiele guter Praxis in kaum einem Artikel zum Thema (vgl. etwa Carney/Beaupert 2013; Devi/Bickenbach/Stucki 2011; Gooding 2013; Kohn/Blumenthal/Campbell 2013; Salzman 2010). Österreich hingegen ist gegenwärtig erst dabei, entsprechende Unterstützungsangebote zu entwickeln bzw. im Sinne unterstützter Entscheidungsfindung zu erschließen (vgl. Fritz 2014).

Das tatsächliche Wissen über die rechtliche und praktische Umsetzung solcher auf Selbstbestimmung und gesellschaftliche Teilhabe abzielenden Unterstützungsmodelle ist aber häufig begrenzt. Zusätzlich fehlt großteils durch empirische Studien abgesichertes Wissen darüber, wie unterstützte Entscheidungsfindung in der Praxis arbeitet und wirkt (vgl. Kohn et al. 2013: 1128f) – inwieweit und in welcher Weise diese Modelle also tatsächlich (rechtliche) Inklusion und persönliche Selbstbestimmung ermöglichen. Im Input sollen die wenigen auffindbaren empirischen Studienergebnisse zu Umsetzungsformen unterstützter Entscheidungsfindung in Kanada und Schweden auf Wirkungs-Hinweise hin befragt und um Eindrücke aus einer aktuell in Österreich vom Institut für Rechts- und Kriminalsoziologie durchgeführten Evaluationsstudie ergänzt werden.

11:30-13:00 Session 6B: Die Versprechungen der Versammlungsfreiheit

Track "Sicherheit". Organisiert von Hartmut Aden.

Die Versammlungsfreiheit hat sich international zu einem Grundrecht entwickelt, das im juristischen und politischen Diskurs einen hohen Stellenwert als Element demokratischer Systeme genießt. In Deutschland hat das Bundesverfassungsgericht die hohe Gewichtung der Versammlungsfreiheit gemäß Art. 8 GG in der Brokdorf-Entscheidung aus dem Jahr 1985 (BVerfGE 69, 315) und danach wiederholt explizit demokratietheoretisch begründet. Die Versammlungsfreiheit sei ein zentrales Funktionselement gerade einer repräsentativen Demokratie, da sie denjenigen Mitwirkungsmöglichkeiten eröffne, denen sonst nur periodisch Beteiligungsmöglichkeiten durch Wahlen gegeben seien. Im polizeilichen Diskurs wird dieses Versprechen seither regelmäßig dadurch aufgegriffen, dass das hohe Gewicht und die Schutzbedürftigkeit dieses Grundrechts betont werden. Allerdings ist das Spannungsfeld zwischen der Versammlungsfreiheit auf der einen und polizeilichen Sicherheits- und Kontrollbedürfnissen auf der anderen Seite damit nicht völlig überwunden. Das versammlungsrechtliche Instrumentarium (Bild- und Tonaufnahmen - dazu auch die folgende Session des Tracks -, Vermummungsverbot, präventive Verbote, beschränkende Verfügungen, Vorkontrollen etc.) spiegelt dieses Spannungsfeld ebenso wieder wie Schwierigkeiten von Versammlungsbehörden und Polizei, sich auf veränderte Protestformen (diffuse Protestbündnisse ohne personalisierbare Leitung, neue Ausdrucksformen etc.) einzustellen. In diesem und dem folgenden Panel sollen diese Entwicklungen unter der Leitfragestellung aufgearbeitet werden, inwieweit das Versprechen der Versammlungsfreiheit vor dem Hintergrund der genannten Spannungsfelder und Entwicklungen eingelöst wird.

Location: Seminarraum 1.404, Universitätsgebäude am Hegelplatz, Dorotheenstr. 24, 4. OG
11:30
Die Versprechungen der Versammlungsfreiheit und ihre tatsächlichen Grenzen - Ein Erfahrungsüberblick aus anwaltlicher Sicht
SPEAKER: Peer Stolle

ABSTRACT. Die Formen der Wahrnehmung des Grundrechts auf Versammlungsfreiheit haben sich in den letzten Jahren tiefgreifend verändert. Während früher der Streit noch darum ging, ob Sitzblockaden vor Kernkraftwerken oder Waffendepots den Schutz von Art. 8 GG genießen, geht es aktuell um Platzbesetzungen, Camps, Blockaden von Nazi-Aufmärschen, Rebel-Clowns-Army und ähnlichen Aktionsformen, die mit dem herkömmlichen Bild von einer Versammlung, wie sie dem Versammlungsgesetz zugrunde gelegen hat, wenig zu tun hat. Gleichzeitig können wir beobachten, wie Versammlungen nicht (mehr) als Wahrnehmungen eines der zentralen politischen Grundrechte angesehen werden, sondern als Störungen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung. Auf dieser Bewertung fußende polizeiliche Strategien sind von einem Präventionsbegriff geprägt, der in der Praxis zu einer unerträglichen Kontrolle und Überwachung potentieller VersammlungsteilnehmerInnen führt. Eine ausufernde Auflagenpraxis, umfassende Durchsuchung von VersammlungsteilnehmerInnen auf dem Weg zur Versammlung, videografische Überwachung und Aufzeichnung des Versammlungsgeschehens, Begleitung des Demonstrationsaufzuges im polizeilichen Spalier sind nur einige der Beispiele, wie in der polizeilichen Praxis der Charakter einer Staatsferne von Versammlungen konterkariert wird. In dem Beitrag soll anhand von den Erfahrungen eines Rechtsanwaltes, der VeranstalterInnen von Versammlungen vertritt und regelmäßig Versammlungen anwaltlich begleitet, die Aushöhlung der Versammlungsfreiheit durch die Praxis dargestellt und Gegenstrategien diskutiert werden.

11:45
Grundrechtsausübung als Wagnis - Inpflichtnahme von VersammlungsteilnehmerInnen für Ausschreitungen anderer?

ABSTRACT. Sowohl dem Versammlungsgesetz des Bundes von 1953 als auch den nach der Föderalismusreform 2006 erlassenen Landesversammlungsgesetzen liegt durchweg die Vorstellung einer straffen, quasi militärischen Hierarchie bei der Vorbereitung und Durchführung von Versammlungen bzw. Demonstrationen („Aufzügen“) zugrunde. Dies zeigen insbesondere die Bestimmungen über die Pflichten von Veranstaltern, Leitern und Ordnern. Die heutige Realität des Versammlungsgeschehens entspricht dieser Vorstellung indessen längst nicht mehr: Häufig beteiligt sich an Demonstrationen eine bunte Vielzahl unterschiedlicher Gruppen und Initiativen ohne festen organisatorischen Zusammenhalt, im Vorfeld kursieren im Internet Aufrufe mit durchaus divergierenden Zielsetzungen, und auch der Grad an Militanz der Teilnehmenden kann sich beträchtlich unterscheiden. Plastisches Anschauungsmaterial hierfür bieten zum Beispiel die verschiedenen Demonstrationen am 1. Mai oder der Blockupy-Protest am 18. März 2015 bei der EZB-Eröffnung in Frankfurt, als im Gegensatz zur sich friedlich verhaltenden Mehrheit eine Gruppe von Personen sich Straßenschlachten mit der Polizei lieferte und damit das mediale Erscheinungsbild der Veranstaltung dominierte.

Angesichts solcher Divergenzen stellt sich sowohl die Frage einer angemessenen Reaktion der Polizei als auch das Problem, ob und in welcher Weise sich friedlich Versammelnde das unfriedliche Verhalten anderer zurechnen lassen müssen. Kann die Gefahr von Ausschreitungen Einzelner bereits ein Verbot von bestimmten Versammlungen bzw. Demonstrationen rechtfertigen? Trift die Veranstalter, Leiter oder Teilnehmer von Versammlungen eine Pflicht zum Ergreifen von Gegenmaßnahmen bei gewalttätigem Verhalten Anderer? – In diesem Sinne verlangt z. B. Otto Depenheuer, die im angesehenen Grundgesetzkommentar „Maunz/Dürig“ das Grundrecht der Versammlungsfreiheit, Art. 8 GG, kommentiert, von den friedlichen Versammlungsteilnehmern nicht nur die Distanzierung von Gewalttätern, sondern auch die „Unterbindung der Gewalt bis hin zu vorläufiger Festnahme und Überstellung an die Ordnungskräfte.“ Dem gegenüber erteilte das Bundesverfassungsgericht bereits in seinem „Brokdorf-Beschluss“ vom 14. Mai 1985 einer „Kollektivhaftung“ aller Versammlungsteilnehmer für Ausschreitungen Einzelner eine Absage: Unfriedliches Verhalten Einzelner dürfe nicht zum Fortfall des Grundrechtsschutzes für die gesamte Veranstaltung führen. Anderenfalls könne „jede Großdemonstration verboten werden, da sich nahezu immer ‚Erkenntnisse’ über unfriedliche Absichten eines Teiles der Teilnehmer beibringen lassen.“ Tendenzen zur Konstruktion einer solchen „Kollektivhaftung“ aller sich Versammelnden für Ausschreitungen Einzelner lassen sich indessen sowohl bei manchen ein Versammlungsverbot bestätigenden Gerichtsentscheidungen als auch bei einigen Einsätzen der Polizei im Zuge des Versammlungsgeschehens ausmachen. Sollten diese Tendenzen für die Praxis bestimmend werden, bestünde die Gefahr, dass die im Einklang mit Art. 8 GG friedliche Wahrnehmung des Grundrechts der Versammlungsfreiheit mit einem kaum noch beherrschbaren Risiko behaftet wird.

12:00
Die Versprechungen der Versammlungsfreiheit
SPEAKER: Hartmut Aden

ABSTRACT. Die Versammlungsfreiheit (Artikel 8 GG) und das Versammlungsrecht sind in Deutschland durch eine eigentümliche Mischung aus Beharrlichkeit und Wandel gekennzeichnet. Obwohl die Gesetzgebungskompetenz für das Versammlungsrecht mit der Föderalismusreform 2006 auf die Länder übergegangen ist, ist die Praxis des Versammlungsrechts immer noch stärker durch Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts als durch klare gesetzliche Vorgaben geprägt. Die Brokdorf-Entscheidung aus dem Jahr 1985 (BVerfGE 69, 315) dürfte daher bis heute die in der Polizeipraxis bekannteste Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts sein. Kooperation statt Konfrontation zwischen Demonstrationsveranstaltern und Polizei gehört seither zu den zentralen Postulaten der Versammlungspraxis. Diese grundsätzlich positiv-ermöglichende Einstellung der polizeilichen Praxis gegenüber der Versammlungsfreiheit steht allerdings in Kontrast zu Misstrauen und Vorsicht, sobald vorherige Erfahrungen oder auch nur Klischeebilder eine schwierige Versammlungslage erwarten lassen, z. B. durch die Teilnahme von Personen, die der Polizei negativ gegenüberstehen (Autonome) oder durch eine zu erwartende Konfrontation von Versammlungen mit gegenläufigen Anliegen. Die Absicht, Gewalt gegenüber Einsatzkräften oder Dritten zu verhindern, führt zu Vorsichtsreaktionen, die notwendig in einem Spannungsfeld mit der grundrechtlich garantierten Versammlungsfreiheit stehen. Teils basieren diese Vorsichtsmaßnahmen auf rechtlichen Beschränkungen und Eingriffsbefugnissen, z. B. das Vermummungsverbot oder die Zulassung von Bild- und Tonaufnahmen. Teils basieren sie auf rechtlichen Hilfskonstruktionen, so insbesondere die Kontrolle von Personen auf dem Weg zu Versammlungen (Vorkontrollen) sowie die offene und verdeckte Informationsgewinnung. Neue Varianten von Protest führen auf polizeilicher Seite zu Verunsicherung und Abwehr, so z. B. die vor einigen Jahren auch in Deutschland aktive „Clowns-Armee“ oder die Praxis von Sitzblockaden zur Be- oder Verhinderung von Demonstrationen mit missliebigen Anliegen. Das Paper untersucht Wechselwirkungen zwischen Versammlungsrecht und politisch-sozialer Praxis sowie das daraus entstehende Spannungsverhältnis zwischen polizeilichem Handeln und der Verwirklichung des Grundrechts auf Versammlungsfreiheit.

11:30-13:00 Session 6C: Implementation of Indigenous Peoples´ Right to Prior Consultation in Latin America: Theoretical Considerations and Empirical Social Research Experience

Track "Soziale Ungleichheit". Organisiert von Jessika Eichler.

Contemporary manifestations of neo-colonialism in the form of liberal market fundamentalism have facilitated the expansion of multinational corporations and foreign investment. As a consequence of influential farming and forestry industries as well as extractive operations, indigenous peoples around the world have been dispossessed of their land, territories and natural resources. Resulting from long-lasting negotiations the UN Declaration on the Rights of Indigenous Peoples (UNDRIP) was adopted by the UN General Assembly in 2007. Apart from the affirmation of existing human rights the Declaration establishes a novel human rights regime that incorporates specific participatory rights in the form of prior consultation and ‘free, prior and informed consent’ (FPIC). A number of Latin-American States have increasingly adopted corresponding national legislation in order to adhere to these standards. However, recent studies reveal significant implementation gaps and ostensibly genuine forms of participation in consultation processes. The presentations are based on a legal analysis of relevant international and regional indigenous peoples’ rights standards. Theoretical considerations of indigenous peoples' regimes are discussed in the context of several Latin American contexts; Bolivia, Peru and Brazil in particular and the InterAmerican human rights systems. The presentations are complemented by comparative empirical analysis of relevant consultation cases in the named States. Empirical social research experience based on case-studies will thus enhance the interdisciplinary approach of the studies. Particularly, it is empirically analysed to what extent international legal standards on indigenous peoples are implemented in practice.

Location: Seminarraum 1.308, Universitätsgebäude am Hegelplatz, Dorotheenstr. 24, 3. OG
11:30
Free, Prior and Informed Consultation and the Latin American Experience: An Effective Tool for Indigenous Self-Determined Development?

ABSTRACT. The global boom in commodities prices and the need to finance social programmes and infrastructural projects has led Latin American governments to adopt exctractivist policies as a pillar of development. The new extractivism, road infrastructure and energetic mega projects like hydro-electric dams, provoke growing number of conflicts with indigenous communities over control of land and resources, often leading to serious human rights abuses. Such developmental policy is a threat to the well-being of indigenous peoples and their ability to defend their right to decide about their own model of development.

The self-determined indigenous development understood as non-imposed forms of development in accordance with indigenous aspirations and needs and in accordance with institutions, cultural identity and traditions of indigenous peoples is not possible without autonomous decision-making and in light of the United Nations Declaration of Rights of Indigenous Peoples, the indigenous right to freely pursue their economic, social and cultural development is inherent from their right to self-determination.

The international legal instruments of indigenous rights protection (ILO 169, UNDRIP) as well as many Latin American states have introduced the right to free, prior and informed consultation that can be considered a fundamental tool strengthening the indigenous self-determination regarding model of development and resource management. Notwithstanding important progress made in this matter, there is a pending question to what extent the existing international law and the actual state of implementation of consultation right in particular Latin American states permits the indigenous communities to effectively defend from extractive enterprises, resource plunder and state policy harmful to their interests.

This paper seeks to analyze the shortcomings and deficiencies of adopted consultation right framework in general Latin American perspective and using particular examples from the region. The paper includes the discussion of veto right and the problem of the very nature of Latin American states that can be seen as the most fundamental obstacle in implementing consultation right model favourable to indigenous peoples, especially in terms of political and legal culture, as well as historically developed state-society relations approach.

11:45
The wrong kind of right? First state-led prior consultations in the Peruvian Amazon from the perspective of critical legal pluralism

ABSTRACT. Peru has recently adopted a national legislation on prior consultation. The Peruvian consultation law is internationally celebrated as a forerunner and neighboring countries as Bolivia and Colombia are elaborating similar legislation. While celebrated outside of Peru oftentimes it is forgotten that the tragic events of Bagua in 2009 were necessary to finally incorporate the right to prior consultation into the national agenda. Further, the implementation of the new legislation is still highly contested, especially in the extractive industries sectors.

Local indigenous communities demand prior consultations mainly in order to have a say in resource extraction projects affecting them. At the same time the Peruvian government presents prior consultation as a mechanism to resolve the country’s socio-environmental conflicts. The Peruvian legislation defines prior consultation as an “intercultural dialogue”. The concept of an “intercultural dialogue” represents an obstacle but also an opportunity for Peru. To date neither interculturality nor dialogue are practices the Peruvian state is used to. Furthermore, many consultation processes take place in indigenous territories where state structures are almost non-existent and/or the indigenous-state relation is marked by mutual distrust. On the one hand prior consultation can be an opportunity to improve the relations between state and indigenous peoples consulted but on the other hand they also bear risks. For example, it is crucial for the state to respect that indigenous territories are governed by own rules, especially with regard to resource management. In conclusion, this paper tries to look at a fact scholars in international norm research often neglect: law can work for but can intentionally or unintendedly also work against the rights of the groups it is meant to protect. Prior consultations should provide spaces to for cultural diversity and harmonize different visions of development. If this is not the case, instead of guaranteeing indigenous peoples the right to self-determination prior consultations converge to a juristic instrument of domination.

This article is based on rich empirical data from ethnographic field work carried out on first state-led prior consultations about hydrocarbon projects in the Peruvian Amazon (2013-2015). The paper focuses on the question if the mechanism of state-led prior consultation can provide spaces where indigenous peoples’ and the state’s perspectives on development can meet and be brought together. The theoretical framework is rooted in James Tully’s concept of the “accommodation of diversity” and critical legal pluralism.

12:00
The regulation of prior consultation in Brazil

ABSTRACT. Adopted in 1989, the Convention 169 of the International Labor Organization is the only internationally binding legal document that defines indigenous and tribal people’s rights, with a special focus on the right to consultation and participation in legislative and administrative measures that might affect territories of these people. The Convention today is ratified by 22 countries worldwide, 15 of them in Latin America. Having already ratified the Convention in 2002, the Brazilian government started the process of a national legal regulation officially in January 2012 with the creation of an Interministerial Working Group that was set up in order to prepare a law draft for prior consultation as defined in the ILO Convention 169. Internal governmental debates were accompanied by the attempt to consult the groups regarded as representatives of indigenous and tribal peoples as well as the broader civil society in Brazil on the form and content of the new norm. The regulation process was characterized by a vivid discussion about Brazil’s path to development and by strong (institutional) oppositions between environmental and Human Rights and the powerful agro-industrial sector. A complex play of power between governmental, civil, juridical and economic forces was enacted in the struggle to determine the prevailing understandings of prior consultation in the country. The negotiations dealt with the definitions of the attributes of free, prior, and informed consent in Brazil, as e.g. to what extent consultations can facilitate “free consent” without the right of the consulted groups to reject a project in the case that there is no consent? At what stage of the planning and gathering of information on the possible effects of a project can informed and prior decisions be made? What will be the relation of prior consultations towards the already existing instruments of environmental mitigation? Which state institution could be a legitimate head of these consultations? Which groups will be considered as falling under the category of “indigenous and tribal peoples”? This case study reveals the perspective of political representatives negotiating the legal framework for prior consultations in Brazil. It also intends to analyze the struggles to determine the prevailing understandings of the main precepts characterizing prior consultation in the context of the regulation of the ILO Convention 169 from the perspective of legal anthropology. The material presented results of three years of research on an administrative process and its embedding in current political processes in Brazil. Different from a classic case study on consultation of a contested mining project, road or power plant, its setting is the administrative center Brasília and processes of juridification as well as judicialization. By understanding the strategies, claims and expectations of the participants in the regulation process, important perspectives on the possibilities and limits of legal regulation of political conflicts can be gained, with specific regard to the problems of the national implementation of international law.

12:15
Implementation of Indigenous Peoples´ Right to Prior Consultation in Bolivia

ABSTRACT. This presentation focuses on two case-studies on the implementation of indigenous peoples' right to prior consultation in the Plurinational State of Bolivia. This includes theoretical considerations on international human rights standards at UN and Inter-American level as well as empirical social research findings on the implementation of the said right. The focus of the presentation lies on one fundamental weakness emerging in this new and contentious field of human rights, namely the inclusive character of prior consultation mechanisms. The selection of indigenous negotiators by companies and States as well as bribing practices violate indigenous consensual decision-making, their customs and traditions. States essentially violate non-discrimination provisions in consultation processes. Therefore, the position and degree of participation by vulnerable groups within indigenous communities will be explored in the context of decision-making in consultations. Women, youth and children, the elderly and people with disabilities will exemplify the target group. Similarly, other vulnerable groups and intersectionalities will be considered in the presentation.

The comparative empirical analysis of two relevant resource extraction cases in the Bolivian lowlands forms the basis of the present social research experience. The first case consists of a ʻclassicalʼ case of prior consultation regarding hydrocarbon activities undertaken by the Bolivian state-owned and run petrol company YPFB. Extractive activities affect local Guaraní communities, their territories, resources, environment and culture. The second case includes mining extractive operations in Chiquitano communities. The diversity of involved actors such as indigenous cooperative societies, private companies and the State-owned COMIBOL (Mining Corporation of Bolivia) complicate the picture. In both cases, the impact of international human rights standards and national legislation are observed from a social scientific perspective and closely ties to the field of law and society. Employed methods include observational methods, in-depth interviews and focus group analysis. The studies include ethnographic methods to ensure a rights-holder perspective.

11:30-13:00 Session 6D: Staatliche Neutralität und Glaubensfreiheit. Gilt das Versprechen noch?

Track "Recht und Religion". Organisiert von Julika Rosenstock.

Location: Seminarraum 1.502, Universitätsgebäude am Hegelplatz, Dorotheenstr. 24, 5. OG
11:30
Einige Anmerkungen zu den Garantien der Glaubensfreiheit
SPEAKER: unknown

ABSTRACT. In letzter Zeit wird in Polen das Urteil der Zivilkammer des Obersten Gerichts vom 20. September 2013 (Aktenzeichen II CSK 1/13) diskutiert. Das Urteil ist auf dem Hintergrund eines interessanten Sachverhalts gefallen. Der Kläger J. R. hat nämlich das Selbstständige Öffentliche Klinische Krankenhaus auf 90 000 PLN Schmerzensgeld verklagt, weil sein Persönlichkeitsrecht, d.h. die Gewissensfreiheit, dadurch verletzt wurde, dass man ihm das Sakrament der Krankensalbung gespendet hat, als er im vom Verklagten geleiteten Klinikum behandelt wurde. Das ist gegen den Willen des Klägers passiert, weil er nicht gläubig ist und ohne sein Wissen, denn er lag in Langzeitnarkose. Der Kläger behauptete, einen Schock und Nervenzusammenbruch erlitten zu haben, sein psychischer und körperlicher Zustand hätten sich verschlechtert und es habe ihm ein weiterer Herzinfarkt gedroht, nachdem er von der Sakramentenspendung erfahren hatte. Die Sakramentenspendung unter den o.g. Umständen erklärte der Verklagte damit, dass er im Lichte verfassungsrechtlicher Regelungen, die jedem die Gewissensfreiheit gewähren, nicht das Recht habe, Informationen über die Weltanschauung und Religion von Personen zu sammeln, die ärztlich behandelt werden. Der vom Verklagten angestellte Krankenhausseelsorger, der den Kläger in Langzeitkoma besuchte, hätte davon ausgehen können, dass er sich in einem lebensbedrohlichen Zustand befände und annehmen können, dass der Kläger Katholik war, wie die entschiedene Mehrheit der polnischen Bevölkerung. Der Seelsorger hätte somit davon ausgehen können, es müsse ein Sakrament gespendet werden, das der Lage entsprach, in der er sich befand. Das Oberste Gericht hat diese Umstände für wichtig gehalten, um die Absicht zu beurteilen, das Persönlichkeitsrecht der Gewissensfreiheit zu verletzen. Es hat jedoch die Meinung abgelehnt, dass sie bedeutend sind, um die Tatsache allein zu beurteilen, dass die Gewissensfreiheit verletzt wurde. Die Spendung des Sakraments der Krankensalbung wird in einem Rechtszustand als rechtswidrig anerkannt, in dem das Krankenhaus im Lichte verfassungsrechtlicher Regelungen, die jedem die Gewissensfreiheit gewähren, nicht befugt ist, Informationen über Weltanschauung und Religion von Personen zu sammeln. Darüber hinaus ist der Kläger nicht offiziell aus der Kirche ausgetreten und unterlag deswegen dem kanonischen Recht und der Seelsorger hat ihm die Krankensalbung nach diesem Recht gespendet. Die rechtliche Beurteilung gestaltet sich wegen des Art. 37 des polnischen Patientenrechtegesetzes umso schwieriger. Dieser besagt, dass der behandelnde Träger verpflichtet ist, dem Patienten Kontakt mit einem Geistlichen seiner Konfession zu ermöglichen, wenn sein Gesundheitszustand sich verschlechtert oder wenn er sich in einem lebensbedrohenden Zustand befindet. Der Autor stellt die Argumentation von Gerichten dar, die in dieser Sache entschieden haben. Sie haben keine Rechtsverletzungen erkannt und die Begründung der Klage verharmlost. Darüber hinaus stellt er die Reaktion der Gesellschaft und der Wissenschaft auf dieses Urteil dar. Trotz der verfassungs-, zivil- und strafrechtlichen Gewährleistung der Gewissensfreiheit, zeugt die gesellschaftliche und wissenschaftliche Rezeption der Argumentation des Obersten Gerichts von einer tiefen Diskrepanz zwischen Recht und Überzeugungen (darunter auch wissenschaftlichen!), die ihren Inhalt betreffen.

11:45
Kultur als Sündenfall für die Neutralitätsbeziehung von Religion und Recht

ABSTRACT. Religion ist, schreibt Roellecke, dem Neutralisierungsfaktor „Kultur“ anheimgefallen. Das umfassende wie relative Kulturkonzept sei für Religionen „zersetzend“: „[Es] lässt zwar alle religiösen Inhalte, Rituale und Texte unberührt, […] glaubt sie [aber] nicht.“ (Roellecke, 6). Diese Neutralisierung stelle, so Roellecke, eine Aggression gegenüber Religionsanhängern dar, zwinge sie zu Selbstvergewisserung und Wettbewerb (ebd., 11, zum Marktmodell von Religion s. z.B. Pickel, 198 ff.). Im Kontext der Multikulturalitätsdebatte begegnen sich Kultur und Religion in den viel beachteten gerichtlichen Auseinandersetzungen um religiöse Praktiken und Symbole. Neutralität ist hier das (normative) Gebot. Diesen Grundsatz bei Anwendung und Auslegung des Rechts einzuhalten, wird für JuristInnen, die über Religion und Religionsfreiheit verhandeln, aus kulturtheoretischer Perspektive zu einem Drahtseilakt.

Im Beitrag möchte ich insoweit zwei Schwierigkeiten thematisieren. Die erste bezieht sich auf die rhetorische Verbindung von Kultur, Religion und Recht in vielen dieser Rechtsstreitigkeiten. Die zu Wort kommenden Akteure bedienen sich häufig eines kulturalistischen Vokabulars (z.B. „Tradition“, „abendländische Werte“), das zwischen deskriptivem und normativem Gebrauch oszilliert und damit für eine juristische Argumentation prekär ist. So spricht z.B. der Consiglio di Stato im italienischen „Kruzifixstreit“ in deskriptivem Duktus von einem durch das Christentum geprägten, nationalkulturellen italienischen „way of life“ (EGMR, Lautsi and Others v. Italy, Nr. 30814/06, Zf. 16). Diese Redeweise ist nicht mit dem Grundkonsens aktueller wissenschaftlicher Kulturbegriffe vereinbar und versäumt es, ihre eigentliche - nämlich normative - Qualität transparent zu machen. Was stattfindet, ist eine Identitätskonstruktion mit Mitteln des Rechts, deren Neutralität zweifelhaft ist.

Die zweite Schwierigkeit ergibt sich aus einem kulturtheoretischen Blickwinkel auf Religion. Religion und Kultur sind, schreibt Willems, verfilzt, untrennbar miteinander verbunden (Willems, 28). Dann aber lässt sich erstens jede „weltliche“ kulturelle Praktik religiös aufladen, sodass sie in den Schutzbereich von Art. 4 GG fiele. Die Religionsfreiheit würde zu einer „zweiten allgemeinen Handlungsfreiheit“ (Britz, 122). Will man das vermeiden, muss man zweitens beantworten, nach welchen Kriterien man die religiöse Bedeutung einer Praktik oder eines Symbols ermitteln möchte. Im "Kruzifixbeschluss" nahmen insoweit Kirchenvertreter Stellung (wurden aber nicht als Zeugen gehört), man zitierte ein Kirchenlexikon (BVerfGE, 93, 1, 9 ff., 19). Im "Kopftuchstreit" berief sich die Senatsmehrheit auf eine Sachverständige, die sich auf eine nicht-repräsentative Umfrage stützte (BVerfGE, 108, 282, 304 f.), die Senatsminderheit zitierte (selektiv) wissenschaftliche Abhandlungen (ebd., 333). Nach welchen Maßstäben soll der individuelle „Sinnhorizont des Gläubigen“ (Morlok/Heinig, 779) als religiös – und nicht die Religionsfreiheit missbrauchend – plausibilisiert werden?

Wenn die soziale Wirklichkeit letztlich auf einer Vielzahl verschiedener individueller Aushandlungsprozesse beruht und jede kategorisierende Ordnung zugleich eine politische Anmaßung ist, die den dynamischen, hybriden bzw. synkretistischen, kontextgebundenen Charakter dieser Prozesse zu verleugnen droht: kann das Recht dann seinen Neutralitätsanspruch gegenüber der Religion aufrechterhalten, oder muss es ihn aufgeben? Beide Schwierigkeiten laufen letzlich auf die Frage hinaus, was die konstruktivistische Kontingenzperspektive für das Recht und seine Legimitationsgrundlage selbst bedeutet.

Im Abstract verwendete Literatur: G. Britz, Kulturelle Rechte und Verfassung, 2000. H. M. Heinig/M. Morlok, Von Schafen und Kopftüchern, in: Juristenzeitung, S. 777-785. G. Pickel, Religionssoziologie, 2011. G. Roellecke, Religion – Recht – Kultur und die Eigenwilligkeit der Systeme, 2007. J. Willems, Interreligiöses und interkulturelles Lernen – notwendige Bezüge und notwendige Unterscheidungen, in: Intercultural Journal 8, 2009, S. 23-44.

12:00
Staatlich-religionsgemeinschaftliche Kooperation. Theorieverschiebung eines Versprechungszusammenhangs – am Beispiel des Religionsunterrichts in Deutschland
SPEAKER: Judith Hahn

ABSTRACT. Das Modell des Staat-Religionsgemeinschaften-Verhältnisses in Deutschland, das das Grundgesetz rahmenrechtlich positiviert, ist ein Produkt Weimarer Denkens. Es arbeitet – verdeckt hinter dem Begriff der „Religionsgesellschaften“ – nicht nur mit dem Bild einer dualen Großkirchenstruktur, sondern inszeniert überdies das Zueinander von Staat und Kirche in einem Kräfteausgleich zweier societates perfectae, die durch eine kooperative Beziehungsgestaltung voneinander profitieren. An dieses Bild lassen sich aus heutiger Sicht aus mehrerlei Gründen Anfragen richten: zum einen gelingt es vielfach nicht, den Islam und andere nichtkirchenförmig organisierte Religionsgemeinschaften konstruktiv an den erzeugten Kooperationsmomenten partizipieren zu lassen. So ergibt sich die Schwierigkeit, einen islamischen Religionsunterricht einzurichten, unter anderem aus der Unähnlichkeit zwischen den muslimischen Vereinigungsstrukturen und der zentralistischen Organisationsform der christlichen Kirchen. Zum anderen erweist es sich auch für die Kirchen als zunehmend herausfordernd, das Kirchenbild einer societas perfecta in der Realität lebendig werden zu lassen: denn die Kirchen, die sich in der Rolle zivilgesellschaftlicher Akteurinnen im pluralen Konzert der gesellschaftlichen Gestaltungsagenturen wiederfinden, sind kaum noch in der Lage, die Organisationsfiktion quasistaatlich agierender Gesellschaften überzeugend auszufüllen. Vor diesem Hintergrund liegt es nahe, nach neuen Denkfiguren zu suchen, die das Zueinander von Staat und Religionsgemeinschaften in der Moderne angemessen beschreiben.

Dies hängt nicht wenig von der Frage ab, welche Versprechungen mit der Verhältnisgestaltung von Staat und Religionsgemeinschaften verbunden werden. Diese sollen an einem Beispiel erhoben werden: In nuce stellt die gemeinsame Angelegenheit des Religionsunterrichts einen Ernstfall staatlich-religionsgemeinschaftlicher Kooperation dar, anhand dessen sich exemplarisch wechselseitige Erwartungen und Verheißungen thematisieren lassen. Während den Religionsgemeinschaften aufgrund der zunehmenden Säkularisierung der Gesellschaft existentiell an der Sicherung von Orten religiöser Bildung gelegen ist, sind die mit dem Religionsunterricht verbundenen Erwartungen des Staates nicht offenkundig. In der Tradition von Böckenförde lässt sich ein hoher Erwartungshorizont identifizieren, der Staat verspreche sich durch die Förderung religiöser Diskurse am Lernort Schule zur religiös inspirierten gesellschaftlichen Moralproduktion beizutragen, derer er sich selber als bedürftig empfindet, da er sie „selbst nicht garantieren kann“ (E.-W. Böckenförde). Ein zurückgenommener Anspruch setzt bescheidener an und sieht den Staat als Kulturstaat in der Pflicht, der Religiosität der Bürgerinnen und Bürger als wichtigem Aspekt der gesellschaftlichen Kultur in staatlichen Kontexten einen Raum zu geben. Ein nicht neuer, jedoch hoch aktueller Gedanke zielt auf die mit der staatlichen Garantie religiösen Unterrichts verbundene Versprechung, durch gemeinsame Organisation eines religiösen Lernorts einen religiösen Bildungsraum zu schaffen, der religiösen Fundamentalismen wehrt und eine demokratiefreundliche und rechtsstaatlich-orientierte Religionskultur befördert. Auf der Basis dessen, was diese Versprechungen über den Status der Religionsgemeinschaften im Staat verraten, gilt es Ansätze einer modellhaften Neubeschreibung des Staat-Religionsgemeinschaften-Verhältnisses in Deutschland zu entwickeln.

11:30-13:00 Session 6E: Versprechen von Gleichheit, Anerkennung und Gerechtigkeit für Lebensformen und Identitäten

Track "Lebensformen und Identitäten". Organisiert von Michelle Cottier und Elisabeth Holzleithner.

Location: Seminarraum 1.601, Universitätsgebäude am Hegelplatz, Dorotheenstr. 24, 6. OG
11:30
Trans*rechte in Brasilien und Deutschland: Ein Vergleich anhand des Konzepts von Selbstschädigung

ABSTRACT. Ziel des Papers ist es, die Veränderungen von Trans*rechten in Bezug auf die geschlechtsangleichende Operation sowohl in Brasilien als auch in Deutschland durch das Konzept von Selbstschädigung zu erklären. Dieser Ansatz wird ausgehend von der Geschlechterforschung bearbeitet. Damit wird das Paper Kritik an brasilianischen und deutschen Regelungen in Bezug auf Trans* üben. Das Konzept von Selbstschädigung kann aus der Perspektive der Geschlechterforschung ein Kriterium sein, um die Widersprüche, Rück- und Fortschritte zu verstehen, um so rechtliche Regelungen in Bezug auf Trans*Personen infrage zu stellen und zu kritisieren. Das Hauptargument ist, dass es eine entscheidende Rolle für das Verbot oder die Zulassung der geschlechtsangleichenden Operation in Brasilien gespielt und auch die Möglichkeit in Deutschland eröffnet hat, die Operation abzulehnen.

Das Paper wird in drei Punkte unterteilt: Erstens werden die Hauptkonzepte der Geschlechterforschung, die als Basis für diese Analyse gelten, dargestellt. Zweitens wird ein Konzept von Selbstschädigung gebildet. Basierend auf der Interpretation, die diesen Begriff mit den Konzepten der Geschlechterforschung verknüpft, werden dann die Gesetze und die Rechtsprechung in Bezug auf Trans*Personen in Brasilien und in Deutschland untersucht und mit anderen Fällen von Verfügung über den eigenen Körper illustriert. Zum Schluss werden Spannungen zwischen Heteronormativität und Rechtsansprüchen erörtert, die dem Anerkennungsverfahren von Trans*rechten in Brasilien und Deutschland immanent sind. Diese Punkte werden zu der Schlussfolgerung führen, dass die Umdeutung des Konzepts von Selbstschädigung entscheidend für diese Transformationen war.

11:45
So nah und doch so - gerecht? Eine Kritik am gelebten Wohlwollen
SPEAKER: Isabell Doll

ABSTRACT. Gerechtigkeit in Nahebeziehungen: Ist das nötig? Kann/soll man diese Sphären überhaupt miteinander in Beziehung setzen? Lange Zeit schien man diese Fragen ganz klar mit nein zu beantworten. Im Rahmen dieses Beitrags wird dem näher auf den Grund gegangen, es werden Problematiken angesprochen, die sich bei der Auseinandersetzung mit verschiedenen Theorien ergeben und welche Rolle das Recht in diesem Zusammenhang spielt oder überhaupt spielen kann. Es soll herausgearbeitet werden, dass unterschiedliche Gerechtigkeitstheorien und -vorstellungen, sich nicht nur im Lichte einer Tugend des Einzelnen oder der Funktion des Staates betrachten lassen, sondern auch in Bezug auf die engsten sozialen und familiären Kontakte eine entscheidende Rolle spielen.

Die aristotelische Ansicht, Freundschaft lebe davon, mehr zu sein als bloß gerecht (Aristoteles, NE, Bücher VIII-IX), lässt den Philosophen zum ersten prominenten Vertreter werden, der Gerechtigkeit und persönliche Beziehungen – ich zähle dazu neben der Familienstruktur analog auch andere soziale Kontakte wie Freundschaften – voneinander trennt bzw. andere Maßstäbe anlegt, als zum Beispiel in seinem Staatsmodell. Daran anschließend wird auf David Humes These der Familie als soziales Gefüge weitgehend gleicher Interessen eingegangen, in welcher Gerechtigkeitsüberlegungen gänzlich überflüssig und unnütz erscheinen. Anhand der Theorien von Hume und an ihn anknüpfend Michael J. Sandel wird die These der Unzuständigkeit von Gerechtigkeit in Nahebeziehungen auf das Konsequenteste zugespitzt, um sie letztlich aufzuweichen und kritisch zu hinterfragen. Unter Heranziehung von John Rawls, der in Gerechtigkeit als Fairness die Familie als Basisinstitution der Gesellschaft versteht und demzufolge die Gerechtigkeit sehr wohl unmittelbaren Eingang in die nächsten menschlichen Beziehungen findet, sollte eine neue Sichtweise eröffnet und ein Aufbrechen der herkömmlichen Vorstellung initiiert werden. Im Lichte der Unzuständigkeitsthese ist es nicht überraschend, dass dieser Aspekt der Rawlsschen Theorie, in der konventionellen Rezeption relativ wenig Beachtung findet. Rawls wird so zu einem Verbündeten von feministischen Ansätzen, welche genau dieser Thematik Rechnung tragen und das von Hume und Sandel propagierte Konzept des gelebten Wohlwollens innerhalb familiärer Strukturen von Grund auf kritisieren. Sie sehen in der expliziten Ausklammerung von Gerechtigkeit in Liebesbeziehungen einen maßgeblichen Grund für die patriarchale Familienorganisation. Die klassischen Rollenbilder der Frau als fürsorgliche Mutter, des Kindes als untergeordnetem Mitglied ohne Anspruch auf Gehör und des Mannes als gerechtem Vater, der über die gesamte Familie bestimmt, werden so bestärkt, wenn nicht sogar erst geschaffen, und in den öffentlichen Diskurs hinausgetragen. Mein Hauptaugenmerk möchte ich dabei auf Autorinnen wie Susan Moller Okin, Angelika Krebs und Elisabeth Holzleithner legen und somit Bezüge zu aktuellen Debatten herstellen.

12:00
Das Versprechen der Gleichheit für gleichgeschlechtliche Paare
SPEAKER: Ulrike Lembke

ABSTRACT. Im Mai 2013 hat das BVerfG unter Anwendung des Gleichheitssatzes die Steuervergünstigung des Ehegattensplittings auch auf gleichgeschlechtliche Lebenspartnerschaften erstreckt. Die Splittingvorteile sind umso größer, je weiter die Einkommen der Ehepartner*innen auseinander liegen. Damit leistet es einen wesentlichen Beitrag zur Zementierung geschlechtsspezifischer Arbeitsteilung und begünstigt nur Paare mit einem gewissen Einkommen. Wer Gleichheit mit der privilegierten bürgerlichen Ehe schon immer als „ein Stück vom vergifteten Kuchen“ abgelehnt hat, sieht sich bestätigt; doch auch Befürworter*innen von marriage equality müssen sich fragen, ob das Versprechen rechtlicher Gleichheit für gleichgeschlechtliche Paare nicht zu viele unerwünschte Nebenwirkungen hat oder gar grundsätzlich nur auf eine problematische Art der Gleichheit abzielt.

Das Versprechen der Gleichheit für gleichgeschlechtliche Paare beruht auf einem Gleichheitskonzept, das nur über Angleichung (Ute Gerhard) funktioniert. In ihrer Forderung nach Gleichberechtigung und Anerkennung müssen gleichgeschlechtliche Paare immer darlegen, dass sie den als schutzwürdig erachteten verschiedengeschlechtlichen Paaren gleich sind: in der (moralisch geforderten) Beständigkeit und Exklusivität, in der (den Staat entlastenden) Fürsorge füreinander, in der (demographisch bedeutsamen) Funktion als Familie. Ist ihre Angleichung erfolgreich, können sie eheliche Privilegien wie den Splittingvorteil erhalten. Die Hoffnung, dass sich solche Privilegien aneignen und durch widerständige Praxen umdeuten lassen, ist zunehmend geschwunden.

Ein wesentlicher Grund ist, dass mit der Angleichung auch die Unsichtbarkeit des Andersseins gefordert wird. Dieses Anderssein wird letztlich in der „sexuellen Orientierung“ des Paares verortet, mit der bestimmte sexuelle Praktiken assoziiert werden, die weiterhin breiter Ablehnung unterliegen. Für gleichgeschlechtliche Paare gilt absolut: Sexualität ist privat und gehört ins Private. Da aber das gleichgeschlechtliche Paar mit jedem Ausdruck der Zuneigung über die Assoziationsketten der Betrachter*innen seine abweichende Sexualität offenbart, unterliegt seine gesamte Beziehung im Gegensatz zu verschiedengeschlechtlichen Paaren der Verbannung aus der Öffentlichkeit. Der Rechtsdiskurs schließt sich dem an, wenn er explizit nur Toleranz oder Duldung (welche die Anerkennung als gleich eben nicht impliziert) für eine Vielfalt von Lebensformen und Sexualitäten gewährt.

Der heteronormativ hergestellte Konnex von Sexualität, Gleichgeschlechtlichkeit und Anderssein ist auch wesentlicher Anknüpfungspunkt verfassungsrechtlicher Argumentationen gegen die Gleichheit gleichgeschlechtlicher Paare. Danach darf die Lebenspartnerschaft der Ehe nicht gleichgestellt werden, weil sie keine Kinder hervorbringe und deshalb keinen Beitrag zur Zukunftsfähigkeit von Staat und Gesellschaft leiste. Da Angleichungsprozesse einen Rekurs auf hedonistische Perversionen ausschließen, geht es nun um (potentielle) Nützlichkeiten. Das Argument des mangelnden Zukunftsbeitrags ist so voraussetzungsvoll wie fehlerhaft; wesentlicher ist, dass es an gesellschaftliche und rechtliche Diskurse anschließen kann.

Da das Grundgesetz kein Diskriminierungsverbot in Bezug auf die „sexuelle Orientierung“ enthält, hat das BVerfG sich entschieden, das Versprechen der Gleichheit für gleichgeschlechtliche Paare im allgemeinen Gleichheitssatz zu verorten. Dies begünstigt Angleichungs- und Unsichtbarkeitsdiskurse ebenso wie den Rekurs auf „biologische Wahrheiten“. Die Alternative ist eine Herleitung aus dem Verbot der Geschlechtsdiskriminierung (Laura Adamietz) in intersektionaler Perspektive. Ob sich damit die Fallgruben des derzeitigen Gleichheitsdiskurses vermeiden und ein emanzipatorisches Gleichheitskonzept entfalten lässt, wird zu diskutieren sein.

12:15
Die rechtliche Anerkennung homosexueller Lebensformen: Von der Triebrichtung zur Identität – und partiell retour?
SPEAKER: Barbara Kraml

ABSTRACT. Eine große Versprechung des Rechts der letzten vier Dekaden ist zweifelsohne die der Akzeptanz und – in der jüngeren Vergangenheit – der rechtlichen Anerkennung homosexueller Identität(en) und gleichgeschlechtlicher Beziehungen. Zunächst ging es im Zuge der schrittweisen Entkriminalisierung homosexueller Handlungen ab den 1970ern in Österreich um bloße Duldung gleichgeschlechtlicher sexueller Handlungen zwischen Erwachsenen bzw. Personen weiblichen Geschlechts, soweit sie in der Privatsphäre stattfanden. Doch bereits relativ kurz nach dem letzten Entkriminalisierungsschritt 2002 (Aufhebung des Verbots homosexueller Kontakte Erwachsener mit männlichen Jugendlichen) folgte 2009 die rechtliche Absicherung gleichgeschlechtlicher Beziehungen durch das Bundesgesetz über die eingetragene Partnerschaft (EPG, BGBl. I Nr. 135/2009), und im Dezember 2014 stellte der Verfassungsgerichtshof nunmehr die Verfassungswidrigkeit des Verbotes der Fremdkindadoption für homosexuelle Paare fest (G119/2014 ua, 11.12.2014). Begleitet und politisch legitimiert wurden diese rechtlichen Entwicklungen durch die zunehmende Wahrnehmung homosexueller Kontakte als umfassende Liebesbeziehungen: War Anfang der 1970er Jahre noch von Homosexualität als einer bei Erwachsenen leider nicht mehr veränderbaren Triebrichtung die Rede, so dominierten ab Mitte der 1990er Forderungen nach Anerkennung von Homosexualität als einer Form von Liebesbeziehung den rechtspolitischen Diskurs. Vor diesem Hintergrund irritiert ein Blick auf asylrechtliche Entscheidungen jüngeren Datums: Im Zusammenhang mit sexueller Orientierung als Fluchtgrund wird teilweise wieder auf Homosexualität als Trieb rekurriert – die Homosexualität der nationalen Anderen, eine unbewusste und/oder biologische Entität, die es im Herkunftsstaat dezent zu leben gilt und an die kein legitimer Anspruch auf Schutz von umfassenderen Lebensentwürfen zu knüpfen ist?

Das Paper geht aus juristisch-politikwissenschaftlicher Perspektive der Frage nach, welche Narrative von Homosexualität als Trieb bzw. als Liebesbeziehung ab den 1970er Jahren zur De-/Legitimation spezifischer sexueller Politiken herangezogen wurden und stellt die Frage, inwieweit sich vor diesem Hintergrund die (erneute) Reduktion von homosexuellem Begehren auf einen zu kontrollierenden Trieb in asylrechtlichen Entscheidungen als ein Aspekt der diskursiven (Re-)Produktion nationaler Anderer interpretieren lässt.

11:30-13:00 Session 6F: Institutioneller und struktureller Rassismus: Begriffe, Erscheinungsformen, Gegenstrategien

Track "Die Versprechungen des Strafprozesses". Organisiert von Alexander Klose und Doris Liebscher.

Location: Seminarraum 1.405, Universitätsgebäude am Hegelplatz, Dorotheenstr. 24, 4. OG
11:30
Wenn Klagen allein nicht genügen: Strategien zur Bekämpfung struktureller und institutioneller Diskriminierung

ABSTRACT. Europäisches und in der Folge deutsches Antidiskriminierungsrecht konzipieren „Diskriminierungen“ vor allem in unmittelbarer und mittelbarer Form. Während eine unmittelbare Diskriminierung voraussetzt, dass eine Person aus bestimmten Gründen in einer vergleichbaren Situation eine weniger günstige Behandlung als eine andere Person erfährt, erfahren hat oder erfahren würde, liegt eine mittelbare Diskriminierung vor, wenn dem Anschein nach neutrale Vorschriften, Kriterien oder Verfahren Personen, die einer bestimmten Gruppe angehören, in besonderer Weise benachteiligen können. Es liegt auf der Hand, dass das Verbot unmittelbarer und mittelbarer Diskriminierung allein, weder dem Verhalten der Sicherheitsbehörden bei der Nicht-Aufklärung der NSU-Morde, noch den zahllosen Fällen des „racial profilings“ durch die Polizei oder der Bildung „ethnisch segregierter“ durch die Schulverwaltung gerecht wird. Der Vortrag geht daher der Frage nach, welche rechtlichen Instrumente geeignet und erforderlich wären, um Diskriminierungen zu bekämpfen, die ihren Grund nicht allein im Fehlverhalten der Akteure „vor Ort“, sondern in der Binnenlogik von Institutionen und Strukturen haben. Dabei wird sich zeigen, dass das bisherige individuell-reaktiv ausgerichtet Antidiskriminierungsrecht durch kollektiv-proaktive Instrumente ergänzt werden muss.

11:45
Institutioneller und struktureller Rassismus: Zur Bestimmung des Begriffs und der Notwendigkeit seiner Anwendung am Beispiel des Umgangs mit den NSU-Morden
SPEAKER: Dilken Celebi

ABSTRACT. Unter strukturellem bzw. institutionellem Rassismus werden in den Sozialwissenschaften Formen des Rassismus verstanden, die von Institutionen der Gesellschaft, ihren Verfahren, Normen und rechtlichen Grundlagen ausgehen und zunächst unabhängig von der Motivation der darin handelnden Individuen sind. Ausgrenzung und Diskriminierung werden in und durch unterschiedliche, wichtige gesellschaftliche Einrichtungen erfahren und finden sich insbesondere im Bildungsbereich, bei der politischen Beteiligung, auf dem Arbeits- und Wohnungsmarkt und im Rahmen der Polizeiarbeit. Der Vortrag unternimmt den Versuch einer begrifflichen Annährung über die Begriffe „Rassismus“, „Struktur“ und „Institution“ und stellt vor diesem Hintergrund ein rechtlich informiertes Konzept von strukturellem und institutionellem Rassismus zur Diskussion. Mit dessen Hilfe werden im zweiten Teil die Geschehnisse im Anschluss an den Mord an Stephen Lawrence 1993 in London auf der einen und an die Morde des NSU auf der anderen Seite analysiert und verglichen.

12:00
Ist Justitia farbenblind? Institutioneller Rassismus vor Gericht

ABSTRACT. „The legal system is not a safe place for people of color but a site where hurt can be experienced“, schreibt Iyola Solanke in ihrem Artikel „Where are the Black Laywers in Germany?“, einer der wenigen Texte in Deutschland, der sich mit institutionellem Rassismus und Rassismuserfahrungen im deutschen Rechtswesen beschäftigt. Der Vortrag untersucht welche Erfahrungen Schwarze Menschen, People of Color, Migrant_innen und Muslima in Deutschland machen, wenn sie versuchen rassistische Diskriminierung vor Gericht zu thematisieren - auch jenseits des Strafrechts. An welcher Stelle werden rassistisches Wissen, Alltagsrassismus und institutioneller Rassismus im rechtlichen Verfahren produktiv? Dabei geht es - in der Tradition von Critical Race Theory und feministischer Rechtswissenschaft - auch darum zu zeigen, wie sich ein vermeintlich objektiv und neutralen Recht, das vorgibt „colorblind“ zu sein, aber „weiß“ als Norm setzt, auf die Urteilspraxis, die Atmosphäre im Gericht und die Repräsentation nicht-weißer Menschen im Rechts auswirkt.

11:30-13:00 Session 6G: Emergenz der Rechtsinterpretation: Herstellung, Reflexivität und Diskurs (entfällt)

Track "Interpretation". Organisiert von Roland Lhotta und Michael Wrase. Kommentar: Roland Lhotta

Session muss leider entfallen. Vortrag von Anne Lavanchy wird in Session 8G verschoben.

Location: Seminarraum 1.406, Universitätsgebäude am Hegelplatz, Dorotheenstr. 24, 4. OG
11:30-13:00 Session 6H: Diffusion, Transfer und Übersetzung von Recht

Track "Rule of Law and Governance". Organisiert von Anke Draude und Matthias Kötter

Recht wandert. Im Zuge transnationaler Interaktionen beeinflussen sich Rechtsvorstellungen, Rechtsnormen, Rechtsordnungen gegenseitig; Recht wird übertragen und übernommen. In der Session wird danach gefragt, wie sich das Recht in seinen Wanderungen verändert. Wird es angepasst, übersetzt, angeeignet? Wer gestaltet diesen Veränderungsprozess? Welche Machtverhältnisse wirken dabei? Wie sehen einzelne Rechtstransformationen in Diffusions- und Transferprozessen konkret aus und wie sind sie zu bewerten? Diese Fragen werden aus Sicht der Rechtssoziologie, der Rechtsanthropologie und der vergleichenden Rechtsstaatsforschung diskutiert. Dabei wird auch reflektiert werden, inwieweit die Diskussion um Diffusion, Transfer und Übersetzung von Recht die Grenze zwischen westlichen und nicht-westlichen Empirien überzeichnet. Lassen sich etwa Prozesse der Rechtsrezeption innerhalb Europas mit der Rechtsaneignung in Indien vergleichen?

Location: Seminarraum 1.501, Universitätsgebäude am Hegelplatz, Dorotheenstr. 24, 5. OG
11:30
Lokalisierung - Übersetzung - Aneignung: Zur Gestaltungsmacht der Adressaten von Politik- und Rechtstransfers
SPEAKER: Anke Draude

ABSTRACT. In diesem theoretisch-konzeptionellen Aufsatz werden die Anpassungsleistungen der Adressaten in politischen Transferprozessen problematisiert. Ausgangspunkt ist das implementation/compliance gap der Diffusions- und Transferforschung bzw. das relativ neue praktische Problembewusstsein, dass die Reaktion der Adressaten die Effektivität von Politiktransfers (auch: Rechtstransfers) maßgeblich mitbestimmt. Der politikwissenschaftliche Lokalisierungsansatz von Amitav Acharya setzt zur Lösung an, indem die Handlungsstrategien der Adressaten in den Mittelpunkt der Analyse gerückt werden. Jedoch konzentriert sich der Ansatz auf freiwillige, intentionale Übernahmestrategien politischer Eliten. Aus anderen Disziplinen kommt unter den Stichworten Übersetzung und Aneignung der Hinweis auf kulturelle, praktische und strategische Einflüsse der lokalen Performer – der potentiellen und der effektiven Interpreten, Nutzer, Anwender eines Transfergegenstandes. Der Beitrag gibt einen Überblick über die drei Debatten um Lokalisierung, Übersetzung und Aneignung. Ein Metacode der (Adressaten-)Anpassung erlaubt es, die drei Konzepte zusammenzuführen, ihre Stärken zu bündeln und für die empirische Analyse von Politiktransfers nutzbar zu machen.

11:45
Rule of Law promotion in South Sudan: Reflections on its promises and its effects
SPEAKER: Katrin Seidel

ABSTRACT. The paper will focus on the Rule of Law (RoL) promotion in emerging South Sudan where negotiations on the mode of statehood are on-going by multiple actors with different claims of authority. RoL, ‘the dominant paradigm for state governance in the international arena’ (Grenfell 2013), comes with the inherent contradictions between its promises and the effects of practices pursued in its name. Driven by problematic underlying ideas of ‘modernity’, the ‘establishment’ of RoL qua grundnorm seems to be nourished through ‘technical assistance’ programmes that have sought to socialise elites and legislators into the RoL frame (May 2014). I will demonstrate how institutions of global governance and INGOs working in South Sudan have brought in manifold programmes, models, guidelines, good/best practices for the establishment of RoL. I argue that this ‘technical assistance’, labelled ‘local ownership’, de facto regulates South Sudan’s state-formation processes in a way that risks the chances of actually integrating the ideas, legal conceptions and interests of the segmented society. Thereby, ‘local ownership’ creates a promise that is under high risk to be deceived. The aim is to assess critically the intricacies of RoL interventions to make the variety of the interdependent legal orders visible and to analyse the effects of practices. The methodology involves identifying the actors who move between different frames of references, and analysing the ‘technologies of social ordering’ they help to establish while taking into account the actors’ perceptions, interests, performances, positionality of knowledge. I will show how actors in different arenas translate, appropriate, and adapt, but also resist circulating pre-formulated models (Rottenburg 2009, Behrends et al. 2014). This processual understanding attempts to understand how ‘rule of law’ is continuously moulded in processes of translation.

12:00
Eingang menschenrechtlicher Überlegungen aus den europäischen Rechtsdiskursen in das Verfassungsrecht der Türkei - Anmerkung aus Sicht der vergleichenden Rechtsstaatsforschung

ABSTRACT. Kommentar

12:15
Kommentar aus rechtsanthropologischer Sicht
SPEAKER: Julia Eckert

ABSTRACT. Kommentar

12:30
Anmerkung aus der Sicht der Rechtssoziologie

ABSTRACT. Anmerkung zur Diffusion von Recht aus der Sicht der Rechtssoziologie.

13:00-14:30Mittagspause
13:00-14:30 Session : Versammlung der Vereinigung für Recht und Gesellschaft e.V.

Die Mitgliederversammlung der Vereinigung für Recht und Gesellschaft e.V. (www.rechtssoziologie.info) ist offen für Mitglieder und für alle an einer Mitgliedschaft in der Vereinigung Interessierten. Für einen Mittagsimbiss ist gesorgt. Raum und Tagesordnung werden rechtzeitig bekannt gegeben.
 

Location: E25, Juristische Fakultät, Eingang Unter den Linden 9 (Altes Palais), Erdgeschoss
14:30-16:00 Session 7A: Rechtliche Stellvertretung

Track "Inklusion und Rechtliche Stellvertretung". Organisiert von Josef Estermann und Walter Fuchs.

Artikel 12 der UN-Behindertenrechtskonvention hält fest, dass „Menschen mit Behinderung in allen Lebensbereichen gleichberechtigt mit anderen Rechts- und Handlungsfähigkeit genießen.“ Diese Bestimmung fordert auf dogmatischer Ebene traditionelle Konzepte der rechtlichen Stellvertretung kognitiv, psychisch oder physisch eingeschränkter Menschen heraus – auch solche, die im Zuge sozialliberaler Reformbestrebungen (Österreich: Sachwalterschaft, Deutschland: rechtliche Betreuung, Schweiz: Beistandschaft) die alten Vormundschafts- und Pflegschaftsinstitute mitsamt ihren stigmatisierenden Entmündigungsverfahren ersetzt haben. Gleichzeitig ist in den letzten zwei Jahrzehnten in allen deutschsprachigen Ländern ein starkes Wachstum jener Vertretungsverhältnisse zu beobachten – ohne dass die Bedingungsfaktoren dafür rechtssoziologisch hinreichend geklärt wären. Die Beiträge der Session widmen sich empirischen und theoretischen Aspekten rechtlicher Stellvertretungsinstitute und, darüber hinausgehend, der Möglichkeit einer „assistierten Autonomie“.

Location: Seminarraum 1.608, Universitätsgebäude am Hegelplatz, Dorotheenstr. 24, 6. OG
14:30
„Assistierte Selbstbestimmung“ als normatives und empirisches Problem des Rechts - am Beispiel von Einwilligungs- und Entscheidungsfähigkeit
SPEAKER: Reinhard Damm

ABSTRACT. Bei dem rechtlichen Konstrukt der Einwilligungs- und Entscheidungsfähigkeit geht es um den ewigen Spagat zwischen Selbstbestimmung einschließlich der Gefahr von Selbstschädigung einerseits und Fürsorge einschließlich der Gefahr von Fremdbestimmung andererseits (dazu jetzt Damm, Autonomie und Fürsorge im Recht der Humanbiographie, Medizinrecht 2015, Heft 4). Besondere Aufmerksamkeit erfahren in jüngster Zeit Konzepte „assistierter Selbstbestimmung“ und dies auch mit Blick auf „assistierte Entscheidungsfähigkeit“. Die einschlägigen Diskussionen sind interdisziplinär, stehen aber im Recht noch eher am Anfang. Soweit sie geführt werden, geschieht dies insbesondere im Gefolge der UN-Behindertenrechtskonvention und im Betreuungsrecht. Allerdings sind die komplexen Voraussetzungen und Folgen von Assistenz als Rechtskonzept bislang keineswegs geklärt. Dies gilt sowohl in normativer als auch in empirischer Hinsicht. Auf normativer Ebene geht es nicht nur um die vielfach kontroversen Kriterien zur inhaltlichen Bestimmung von Einwilligungsfähigkeit. Es ist vielmehr für die rechtliche Handlungsfähigkeit betroffener Personen auch die Unterscheidung von Entscheidungs- und Einbeziehungsebene von besonderer Bedeutung. Jenseits eigenständiger Entscheidungsrechte werden betroffenen Personen auch bei Entscheidungsunfähigkeit zunehmend Partizipationsrechte eingeräumt (Aufklärung, Anhörung, Mitsprache). Die Entwicklung ist insgesamt unabgeschlossen. Auf empirischer Ebene geht es unter anderem um die fachwissenschaftliche Wissensbasis für Feststellungen zum Vorhandensein oder Fehlen der einschlägigen „Fähigkeiten“. Damit ist zwangsläufig die Frage nach der professionsbezogenen Kompetenz für solche Feststellungen betroffen. Grundsätzlich und folgenreich sind Probleme, die aus der meist vernachlässigten Unterscheidung von Elementen der Normativität und Faktizität von Selbstbestimmungsfähigkeit resultieren.

Mit einem noch spezifischeren Blick auf das Konzept assistierter Autonomie ist hervorzuheben: Bei diesem geht es nicht nur um die „Feststellung“ von Einwilligungsfähigkeit, sondern um deren „Herstellung“ im Sinne einer erst zu konstituierenden „Ermöglichung von Selbstbestimmung“ einschließlich einer intendierten „assistierten rechtlichen Autonomie“. Als interdisziplinär diskutierte Postulate sind einschlägige Forderungen zunehmend im Gespräch, die rechtswissenschaftliche Diskussion hierzu ist aber noch nicht weit entwickelt. Allerdings hat die UN-Behindertenrechtskonvention insofern eine Veränderung der Situation bewirkt. Die Auseinandersetzungen über die Auswirkungen der Konvention auf das Betreuungsrecht und das Rechtssystem allgemein sind noch unabgeschlossen. Noch nicht einmal formuliert wurde bislang die viel weiter reichende Frage nach einer die Behindertenrechtskonvention und das Betreuungsrecht transzendierenden Generalisierung des Assistenzkonzepts im Sinne eines allgemeinen Rechtsprinzips. Damit würde die grundsätzliche Frage aufgeworfen, ob und wieweit der in freiheitlichen Rechts- und Verfassungsordnungen zentralen Verbürgung von Selbstbestimmung auch die Garantie der Realbedingungen von Autonomie inhärent ist. Eine solche Annahme ist weder normativ noch empirisch selbstverständlich. Auch für das Assistenzkonzept ist von der Notwendigkeit voraussetzungsvoller gesellschaftlicher, politischer und rechtlicher Entscheidungen auszugehen. Insgesamt stehen insofern sowohl normative Grundorientierungen als auch deren empirische Realisierungsbedingungen im Recht besonders verletzlicher Personen und insgesamt Rahmenbedingungen von „Vulnerabilität als Rechtskonzept“ auf dem Prüfstand (dazu Damm, Medizinrecht 2013, 201).

14:45
Von der Vormundschaft zum Erwachsenenschutz: Inklusion oder Kolonialisierung?
SPEAKER: unknown

ABSTRACT. Die 2013 in Kraft getretene Revision der Artikel 360ff. des schweizerischen Zivilgesetzbuches (Erwachsenenschutzrecht) brachte den Abschied von der Vormundschaft und ein neues Erwachsenenschutzrecht, das mit einem dreifachen Versprechen verbunden war: - der Umstellung von Kontrolle als der die Vormundschaft traditionell dominierenden Leitvorstellung auf Erhaltung und Wiederherstellung der Autonomie. In diesem Zusammenhang wurden auch neue Rechtsinstrumente geschaffen wie der Vorsorgeauftrag und die Patientenverfügung - der Verbesserung der Rechtsstellung der Betroffenen und die Sicherstellung rechtsgleicher Behandlung durch rechtsstaatliche Prozeduren - der Professionalisierung des Erwachsenen und Kindesschutzes hinsichtlich Melde, Abklärungs und Entscheidungsverfahren sowie der Durchführung von Massnahmen. Die sachgerechte, persönlich desinteressierte Verwaltung sollte die Umsetzung der Inklusionsversprechungen des Rechts garantieren. Zu diesem Zweck schrieb das Bundesgesetz den Kantonen die Schaffung von (je nach Sprache) interdisziplinären oder Fachbehörden vor.

Unser Beitrag gilt diesem letzten Aspekt. In einem ersten Teil stellen wir kurz die Umsetzung des Professionalisierungsvorhabens unter föderalistischen Vorzeichen dar. In einem zweiten Teil zeigen wir, auf der Basis von Interviews mit Akteuren, die in peripheren Regionen an der Schnittstelle von altem und neuem System operieren, wie die neuen Leitprinzipien der rationalen rechtsstaatlichen Organisation mit traditionellen Ordnungsvorstellungen kollidieren. Auf der Grundlage dieser Ordnungsvorstellungen werden sowohl das neue Recht als auch dessen Umsetzung durch Organisation als Kolonialisierung der Lebenswelt, als Substitution von lebensweltlichem common sense, Laienmacht und lokalem Partikularismus durch kalte Fachlichkeit, Abhängigkeit von fremden Professionellen und einen abstrakten Rechtsuniversalismus gedeutet.

Wir diskutieren die Ergebnisse unter dem doppelten Gesichtspunkt der formalen Durchsetzung von Recht im föderalen Staat und der inhaltlichen Umsetzung des Inklusionsversprechens durch Verwaltung.

15:00
Zur rechtlichen Konstruktion (in)kompetenter Subjekte im spätmodernen Wohlfahrtsstaat – Determinanten der Nachfrage nach Instituten stellvertretenden Entscheidens
SPEAKER: Walter Fuchs

ABSTRACT. Es gehört zu den Versprechungen zeitgemäßer Rechtsfürsorgeinstitute, nicht nur den Schutz, sondern auch eine möglichst weit gehende Autonomie seelisch oder geistig beeinträchtigter Personen, von denen angenommen wird, dass sie ihre Angelegenheiten nicht ohne fremde Hilfe bewältigen können, zu gewährleisten. So haben zahlreiche Staaten seit den 1970er Jahren ihr überkommenes Erwachsenenvertretungssystem grundlegend umgestaltet, indem assistenzorientierte und flexible Modelle wie die deutsche „rechtliche Betreuung“ oder die österreichische „Sachwalterschaft“ die alten Vormundschaftsregelungen mitsamt ihren stigmatisierenden Entmündigungsverfahren ersetzt haben. Vor dem Hintergrund der UN-Behindertenrechtskonvention werden aktuell freilich auch erneuerte Modelle stellvertretenden Entscheidens als problematisch wahrgenommen. Jenseits menschenrechtsdogmatischer Fragestellungen sind Vertretungsinstitute indessen auch deshalb in Diskussion geraten, weil sie in den letzten zwei Jahrzehnten – entgegen den Absichten der seinerzeitigen Gesetzgeber – immer stärker in Anspruch genommen wurden. Abgesehen von unübersehbaren budgetären Folgen hat diese Entwicklung die ursprünglichen Reformziele vielfach konterkariert. Trotz seiner enormen praktischen Bedeutsamkeit erscheint dieser Rechtsbereich soziologisch erstaunlich unterbelichtet. Der vorgeschlagene Beitrag skizziert zunächst gesellschaftstheoretische Perspektiven auf den (gestiegenen) Bedarf an kompetenter Rechtssubjektivität in kapitalistischen Wohlfahrtsstaaten, die mithilfe von Vertreterfiguren konstruiert wird. Anschließend werden anhand von Daten aus Österreich multivariate statistische Modelle vorgestellt, die Determinanten der Nachfrage nach rechtlicher Betreuung im Querschnittsvergleich untersuchen. Es zeigt sich, dass demographisch-epidemiologische Einflüsse nicht nur von sozioökonomischen und institutionellen, sondern auch von rechtskulturellen Faktoren überlagert werden.

15:15
Rechtliche Stellvertretung: Schutzrecht oder Inflation der Bevormundung?

ABSTRACT. In Deutschland, Österreich und der Schweiz ist mit den Gesetzesnovellen der letzten Jahre die bevölkerungsrelative Zahl der rechtlichen Stellvertretung von erwachsenen Personen auf mehr als das Doppelte angestiegen. Der Anstieg ist in Deutschland am deutlichsten ausgeprägt. In bestimmten Regionen stehen über zwei Prozent der erwachsenen Bevölkerung unter Tutel. Die Tendenz ist in allen Ländern immer noch steigend. Diese Tendenz lässt sich statistisch nur zu einem kleinsten Teil durch demografische Faktoren wie die angebliche "Überalterung" und die damit zusammenhängenden Zunahme dementieller Erkrankungen erklären. Alle Altersgruppen sind von der Zunahme rechtlicher Stellvertretungen betroffen. Ökonomische Bedingungen und die Professionalisierung der rechtlichen Betreuung hingegen spielen neben unterschiedlichen Rechtskulturen eine signifikane Rolle.

Die Gesetzesnovellen geben als ratio legis für die rechtliche Stellvertretung vor, dass sie im Gegensatz zur alten Bevormundung ein Schutzrecht sein soll und dass nur notwendige, möglichste wenig invasive Eingriffe erfolgen sollen. Die Rechtstatsachen sprechen eine andere Sprache. Wird unter Vorgabe eines Schutzrechtes die Selbstbestimmung und Autonomie eines immer grösseren Bevölkerungsteils angegriffen?

Der Beitrag fokussiert die Situation in der Schweiz im Vergleich zu Deutschland und Österreich, präsentiert statistische Ergebnisse und gibt Hinweise auf unterschiedliche Rechtskulturen und Politiken. Empirische Basis sind verschiedene Erhebungen von regionalen Zeitverlaufsdaten über rechtliche Sellvertretungen.

14:30-16:00 Session 7B: Versammlungsrecht und polizeiliche Überwachung

Track "Sicherheit". Organisiert von Hartmut Aden.

Die Versprechungen der Versammlungsfreiheit stehen dort in besonderem Maße in Frage, wo Polizei und andere Sicherheitsbehörden die rasante Entwicklung der technischen Überwachungsmöglichkeiten nutzen. Denn Überwachungsmaßnahmen oder allein die Befürchtung von Teilnehmer/innen, dass solche Maßnahmen stattfinden, könnten auf manche Menschen einschüchternd oder gar abschreckend wirken. Die Beiträge dieser Session beleuchten am Beispiel von Bild- und Tonaufnahmen bei Versammlungen aus einer rechtlichen bzw. empirisch-soziologischen Perspektive, wie und inwieweit Überwachungsmaßnahmen die Versprechungen der Versammlungsfreiheit beeinträchtigen.

Location: Seminarraum 1.404, Universitätsgebäude am Hegelplatz, Dorotheenstr. 24, 4. OG
14:30
Polizeiliche Überwachung von Versammlungen – Nur ein gefühlter Grundrechtseingriff?
SPEAKER: Clemens Arzt

ABSTRACT. Art. 8 GG schützt die Versammlungsfreiheit als konstitutives Element einer Demokratie, was Eingriffe im Rahmen verfassungsgemäßer Gesetze nicht ausschließt. Neben Verboten und Auflagen als ‚klassischen‘ Eingriffen in die Versammlungsfreiheit stellt die Überwachung von Versammlungen durch die Anwesenheit von Polizei in der Versammlung einerseits sowie Bild- und Tonaufnahmen andererseits einen Grundrechtseingriff dar. Bild- und Tonaufnahmen gehen dabei in ihrer „Eingriffsintensität“ nach allgemeinem Verständnis mit Blick auf die Speicherbarkeit noch über die ‚bloße‘ Beobachtung durch PolizistInnen hinaus.

Für so genannte Übersichtsaufnahmen hat die Rechtsprechung im Grunde erst seit Beginn dieses Jahrzehnts akzeptiert, dass diese ebenso einen Eingriff in die Versammlungsfreiheit darstellen wie ‚gezielte‘ Aufnahmen, weil die Technik eine solche Unterscheidung heute nicht mehr trägt und die TeilnehmerInnen einer Versammlung im Einzelfall nicht wissen können, welche Form von Aufnahmen oder gar Aufzeichnungen die Polizei gerade fertigt. In jüngster Zeit fand diese Position ihre Weiterentwicklung in der Rechtsprechung dahingehend, dass bereits das Zeigen einer so genannten Mastkamera durch die Polizei einen Grundrechtseingriff darstellen kann. Zentrales rechtliches Instrumentarium zur Anwesenheit der Polizei in der Versammlung stellt § 12 VersG des Bundes und ggf. dessen Äquivalente im Landesrecht dar. Für die heute vielfach von der Polizei genutzte Videoüberwachung stellen §§ 12a und 19a VersG die Rechtsgrundlage dar. Letztgenannte Normen wurden erst 1989 in das VersG von 1953 eingefügt, obwohl auch zuvor regelmäßig solche Aufnahmen ohne Rechtsgrundlage angefertigt wurden. Dabei war die gesetzliche Regelung 1989 ein politischer Kompromiss zur gleichzeitigen Durchsetzung eines strafbewehrten Vermummungsverbots einerseits und Folge der ‚Verrechtlichung‘ von Eingriffen in das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung und informationellen Eingriffen in die Versammlungsfreiheit (Art. 8 GG) andererseits.

Der Grundrechtseingriff wird bei der Anwesenheit der Polizei in der Versammlung wie auch bei polizeilichen Videoaufnahmen als Eingriff in die ‚innere‘ Versammlungsfreiheit eingeordnet. Gemeint ist die ‚mittelbare‘ Einwirkung auf den Willen und Entschluss der (potentiellen) TeilnehmerInnen an einer Versammlung teilzuhaben oder hiervon angesichts eines so empfundenen ‚Überwachungsdrucks‘ Abstand zu nehmen. Dabei genügt nach heutiger Rechtsprechung bereits die Möglichkeit eines „Gefühls des Überwachtwerdens“ bei den von einer staatlichen Informationserhebung potentiell betroffenen Teilnehmern, mit Blick auf den damit möglicherweise damit verbundenen Einschüchterungseffekt (‚chilling effect‘), der eine uneingeschränkte Wahrnehmung der Versammlungsfreiheit erschwert oder verunmöglicht. Das Paper soll die Wandlung des Verständnisses rechtlicher Maßgaben nachzeichnen und Perspektiven für eine ‚überwachungsfreie‘ oder ‚überwachungsarme‘ Versammlungsfreiheit aufzeigen.

14:45
Die Kamera als Machtsymbol – empirische Befunde zur polizeilichen Videoüberwachung von Demonstrationen (224)
SPEAKER: Peter Ullrich

ABSTRACT. Seit dem Volkszählungsurteil des Bundesverfassungsgerichts von 1983 wird in der Rechtsprechung angenommen, dass Überwachung von der Wahrnehmung von Grundrechten wie dem der Versammlungsfreiheit abschrecken könne. Die Untersuchung dieser Frage steht bisher jedoch aus. Sie soll mit dem Forschungsprojekt ViDemo beantwortet werden, welches zugleich einen Beitrag zum Verständnis moderner Institutionen der Sozialkontrolle, insbesondere Videoüberwachung leistet. In einem Grounded-Theory-Design werden verschiedene Erhebungsverfahren kombiniert. Gruppendiskussionen mit politischen Aktivist/innen und der Polizei sowie ethnographische Beobachtungen entsprechender Ereignisse werden durch Expert/inneninterviews und Dokumentenanalysen ergänzt. Das Projekt ViDemo untersucht die Praxis der Videoüberwachung politischer Versammlungen und Demonstrationen sowie deren Auswirkungen aus der Perspektive von Wissenssoziologie, Surveillance Studies, Polizei- und Protestforschung. Im Zentrum des Interesses stehen Wissensformen und Interaktionen von Beteiligten und Betroffenen (Polizei und Demonstrierende). Im Vortrag werden erste empirische Befunde aus Gruppendiskussionen, Ethnographien und Expert/inneninterviews mit Polizist/innen vorgestellt. Dies dient insbesondere der Diskussion von am Material gewonnen Thesen zur symbolischen Macht von Videokameras, zum Selbstbild der Polizist/innen im Versammlungsgeschehen, zur Fiktion der umfassenden Rechtsgebundenheit und zum Umgang mit von Demonstrierenden gefertigten Handybildern.

15:00
Kommentar
SPEAKER: Anna Luczak

ABSTRACT. Kommentar

14:30-16:00 Session 7C: Recht und Gesellschaft lehren I

Track "Recht und Gesellschaft lehren". Organisiert von Stefan Machura.

Location: Seminarraum 1.308, Universitätsgebäude am Hegelplatz, Dorotheenstr. 24, 3. OG
14:30
Mehr Theorie oder Praxis? Die aktuellen Probleme der Rechtsausbildung in Polen

ABSTRACT. In jedem einzelnen Staat darf ein eigenes und damit besonderes Rechtsausbildungssystem gestaltet werden. Auch im Rahmen der Europäischen Union können Juristen ganz anders ausgebildet werden. Der erste Unterschied kann zumeist schon bei der Struktur des Rechtsstudiums bestehen. Danach kommt noch das Problem der Berufsausbildung in Frage. Dass auch die Rechtsausbildung in Deutschland und Polen sich voneinander unterscheiden, ist ohne Bedenken festzustellen. Dieser Vortrag hätte zum Ziel den Aufbau sowohl des Rechtsstudiums als auch juristischen Berufsausbildung in Polen darzustellen. Die Präsentation sollte sich auf folgende Fragen konzentrieren: Dauer, Struktur und Inhalt des Rechtsstudiums, Gestaltung und Dauer des Referendariats (poln. aplikacja), Zulassung zu den juristischen Berufe. Nebenbei sollte dieser Vortrag die Diskussion über Rechtsstudium in Polen darstellen. Es ist nämlich zu betonen, dass seit längerer Zeit in Polen diskutiert wird, wie das Rechtsstudium aufgebaut werden musste. Der Streit konzentriert sich darauf, ob das Rechtsstudium eher akademisch-theoretisch oder mehr praxisnah gestaltet werden sollte. Einerseits bedürft der aktuellen Arbeitsmarkt einer praxisbezogenen Ausbildung, andererseits wird darauf hingewiesen, dass ein Studium per se keine Berufsausbildung ist. In Zusammenhang mit der o. g. steht das Problem, ob heutzutage Jurastudium solche Fächer wie z.B. Rechtsgeschichte, Rechtstheorie und Rechtsphilosophie überhaupt beinhalten musste.

14:45
“Denn meine Gedanken zerreißen die Schranken”: Wie die Sprache dem Recht die Gedankenfreiheit schenkte und was dann geschah…
SPEAKER: Anne Gladitz

ABSTRACT. Das Recht formt sich durch Sprache, die eine Wirklichkeit abbildet, die es zu normieren sucht. Im Recht manifestieren sich unsere Anschauungen, Wertvorstellungen und -urteile, die zugleich permanent zu verhandeln sind in einer Welt, in der Trennlinien an Schärfe verlieren, Räume ineinanderwachsen und sogar Konzepte auf Reise gehen. Welche Schranke setzt die Sprache unseren Gedanken und wirkt damit in unser Rechtsdenken hinein? In welchen Begriffen bildet sie unsere Lebenswirklichkeit ab und definiert in rechtsetzender Terminologie, wie unsere Gesellschaft beschaffen sein soll? Ein besseres Rechtsverständnis setzt ein besseres Sprachverständnis voraus, und zwar nicht nur im Sinne des eigenen, sondern insbesondere die Beschäftigung mit anderen. Mein interdisziplinäres Forschungsprojekt soll zur zukünftigen inhaltlich-didaktischen Ausgestaltung eines kulturgestützten Unterrichtskonzeptes für die deutsche bzw. für die Vermittlung einer den deutschen Studierenden fremden Rechtssprache beitragen. Im Mittelpunkt steht die juristische Terminologie als Bedeutungsträger beim fachkommunikativen Fremdsprachenerwerb, der zugleich mit konzeptioneller Übersetzungsarbeit sowie rechtsvergleichender Transferleistung des lernenden Individuums einhergeht. Die Rechtsbegriffe sind in einem intertextuellen Diskurs gebunden und ihre mehrdimensionale Bedeutung gilt es im fachkommunikativen Fremdsprachenunterricht (FSU) zu erhellen. Der FSU zielt auf die Herausbildung einer interkulturellen Handlungskompetenz mit einem gegenseitigen Verständnis im wechselseitigen Lernprozess. Die hierzu oft bemühten Werte finden sich im öffentlichen Recht insbesondere im Verfassungsrecht, das sich aus der Gesellschaft generiert und in sie zurückwirkt. Für die Forschungsarbeit bedeutet das: 1) Geeignete Begriffe sind im Rechtstext zu identifizieren und nach ihrer Wertigkeit und Relevanz als so genannte „kulturelle Deutungsmuster“ zu befragen. Welchen Beitrag kann hier die kulturwissenschaftliche Textanalyse nach Altmayer leisten? 2) Die Terminologiegebundenheit von Denkweisen und Erfahrungen als Ausdruck von Weltsichten und rechtlichen Normativen ist aufzuzeigen. Wie lassen sich dafür Erkenntnisse und Verfahren der Translatorik nutzen und können Studierende für die hinter den Wörtern liegende, unbewusste „Wahrheit“ sensibilisiert werden? 3) Der reflektierte, tolerante und konstruktive Umgang nicht nur mit der Verschiedenheit von Weltsichten, sondern auch mit rechtlichen Lösungen ist zu befördern und einzuüben. Welche Methoden aus Fremdsprachendidaktik und Rechtswissenschaft führen über den Rechts- zum Kulturvergleich nach Häberle? Die tradierte Zielsetzung des Fremdsprachenunterrichts kann und sollte auch den fachkommunikativen Rechtsdiskurs bereichern. Bislang kommt diese Erkenntnis jedoch weder der Fremdsprachendidaktik zur Fachsprache Recht noch der juristischen Ausbildung zugute, wenngleich die Forderung nach einer reflexiven interkulturellen Kompetenz zukünftiger Juristen insbesondere auf rechtsvergleichender wie transnationaler Ebene schon länger existiert (z.B. durch Susanne Baer). Auf der Grundlage theoretischer und auf berufspraktischer Erfahrung beruhenden Kenntnisse und unter der innovativen Synthese fachdidaktischer Methoden der beteiligten Disziplinen habe ich ein eigenes Konzept entwickelt und exemplarisch in Workshops mit Jurastudierenden in Ungarn, der Türkei und England erprobt. Die Aussagen der anschließend geführten, leitfadengestützten Interviews werden anhand der dokumentarischen Methode qualitativ ausgewertet. Sie bilden den Ausgang für die Weiterentwicklung des Lehrkonzepts, das auf den Studien zum kulturellen Kontext und interkulturellem Lernen von Claire Kramsch beruht. Ziel ist es, ein auf seinen Mehrwert empirisch geprüftes Modell zu präsentieren, das sich als transferfähige Grundlage zur zukünftigen Ausgestaltung von Kursen zur Fachsprache Recht eignet und damit die Qualität der juristischen Ausbildung entscheidend bereichern kann.

15:00
Wie wichtig ist ein Gendercurriculum für die Rechtswissenschaften?

ABSTRACT. JuristInnen wird in der Ausbildung das Bewusstsein vermittelt, dass sie dem Objektivitätsideal verpflichtet das Recht neutral und unparteiisch anwenden. Im Dienste des Universalismusprinzips negieren oder verdrängen RichterInnen subjektive Einflussfaktoren. In der praktischen Rechtsanwendung, in der Auslegung von unbestimmten Rechtsbegriffen, der Anwendung von Generalklauseln, aber auch in den kommunikativen Prozessen, die zu einer Entscheidung führen, finden zwangsläufig persönliche Einstellungen und Wertungen insbesondere auf der Basis unterschiedlicher Lebenserfahrungen Niederschlag. Eine Rolle spielen dabei die sog. „Diversity“-Faktoren, wie Alter, Ethnie, sexuelle Orientierung, Gesundheit/Behinderung, Religion/Weltanschauung, politische Zuordnung und die Kategorie Geschlecht. Während erstere jeweils nur einen Teil der Gruppe betreffen, ist die Kategorie Geschlecht allen zu eigen. Geschlecht kann fallweise mit den anderen Faktoren verbunden sein, kreuzt sich damit intersektionell. Im Sinne einer Sicherung der Qualität der Rechtsanwendung und Rechtsprechung ist es wichtig, dass die juristischen Akteure sich ihrer Subjektivität und insbesondere der Bedeutung der Kategorie Geschlecht bewusst werden. Dieses umfasst das Hinterfragen der eigenen Wahrnehmungen, Kenntnisse in den Unterschieden der Lebensrealität der Geschlechter, der sozialen Disparitäten zwischen Männern und Frauen und der Meilensteine in Gesetzgebung und Rechtsprechung zu Gleichberechtigungsfragen sowie die kritische Analyse der Entwicklung von Rechtsungleichheiten und der offenen ungelösten Fragen auf dem Weg zur Gleichstellung. Ich werde dafür auf die wesentlichen Inhalte und Aspekte eines Gendercurriculums für die Rechtswissenschaft (www. http://www.gender-curricula.com/gender-curricula/), das ich entwickelt habe, eingehen und mich mit den Möglichkeiten der Einbeziehung von Genderwissen und -kompetenz in Fortbildungen der Justiz auseinander setzen.

15:15
Recht und Gesellschaft lehren in Norwegen und den anderen skandinavischen Ländern

ABSTRACT. Mein Beitrag konzentriert sich auf die folgenden drei Aspekte:

Zum ersten wird das Masterprogramm in Rechtssoziologie am Institut für Kriminologie und Rechtssoziologie an der Universität Oslo vorgestellt. Die Besonderheit dieses Studiums ist darin zu sehen, dass es nicht auf einem Bachelor-Studium in Rechtssoziologie aufbaut. Studenten mit einem Bachelor in z.B. Soziologie, Anthropologie, Geschichte, Psychologie etc. wird stattdessen der unmittelbare Zugang zu einem Masterstudium in Rechtssoziologie angeboten. Die spezifische Problematik dieser Wahl ist darin zu sehen, Studenten mit einem zum Teil sehr unterschiedlichen disziplinären Ausgangspunkt zu einer möglichst homogenen Studentengruppe zusammenzubinden.

Der zweite Bereich, in dem Rechtssoziologie an der Universität Oslo angeboten wird, erfolgt im Rahmen der Juristenausbildung an der Juristischen Fakultät. Rechtssoziologie konkurriert hier mit Rechtsökonomie, wird also „nur“ semi-obligatorisch angeboten. In diesem Teilbereich der Lehre in Rechtssoziologie stellt sich insbesondere die Aufgabe, Jurastudenten die Anbindungsfähigkeit von Rechtssoziologie an Jura deutlich zu machen. Trotz dieser Schwierigkeit wählen Jurastudenten überproportional häufig Rechtssoziologie.

Der dritte Bereich meines Beitrages ist der zunehmenden Kooperation in der Lehre zwischen den skandinavischen Universitäten mit Schwerpunkten in Rechtssoziologie gewidmet.

14:30-16:00 Session 7D: Konflikte in der Vielfalt: Relativismus, Pluralismus, Regulierung

Track "Recht und Religion". Organisiert von Julika Rosenstock.

Location: Seminarraum 1.502, Universitätsgebäude am Hegelplatz, Dorotheenstr. 24, 5. OG
14:30
Kulturrelativismus in der Rechtsprechung

ABSTRACT. Der von Hugo Grothius geprägte Ausspruch ubi societas ibi ius („wo Gesellschaft ist, da ist auch Recht“) wird vor allem von Juristen_innen im Zusammenhang von Recht und Globalisierung verwendet (Turner 2004: 155). In den westlichen Einwanderungsländern wie bspw. Deutschland lassen sich rechtsplurale Konstellationen erkennen, die in ihrem rechtlichen Verständnis Fragen bezüglich „Zuwanderung, Plurikulturalität und Plurilingualismus, kultureller Differenz und rechtlichen Institutionalisierung der genannten Felder [beantworten müssen]“ (Turner 2004: 171). Vor allem in multikulturellen Gesellschaften, in denen verschiedene Werte, Normen, Glaubensgrundsätze sowie Rechtsvorstellungen mit denen der jeweiligen Aufnahmegesellschaft aufeinander treffen, kann ein erhöhtes Konfliktpotential entstehen. Ferner neigte man im Laufe der Zeit dazu, „kulturelle Hintergründe“ als Basis zur Erläuterung von Straftaten zu nutzen, um das Delikt teilweise zu erklären und auch zu rechtfertigen (Cultural Defense-Konzept). Es lassen sich in der wissenschaftlichen Literatur (bspw. Malek-Mithra Sheybani (1987) Cultural Defense: One Person´s Culture is Another´s Crime) zahlreiche Beispiele finden, die diesen Konflikt beschreiben. Bei der Analyse des Cultural Defense-Konzeptes kristallisiert sich heraus, dass das Wissen in Bezug auf Kultur seitens der Ethnologen_innen für die Verbindung zwischen der Verteidigung auf kultureller Basis und der deutschen Justiz von Bedeutung ist. Mit Hilfe rechtsethnologischer Gutachten, sollen den Anwälten sowie den Richtern die „kulturellen Hintergründe“ näher gebracht werden, um das Delikt nachvollziehbarer und verständlicher zu machen. Infolgedessen wird der Ethnologe oder die Ethnologin als gerichtliche_r Sachverständige_r vorgestellt, um anschließend die Anfertigung des Gutachtens sowie die Schwierigkeiten, die bei der Erstellung auftreten können, näher zu bringen. Abschließend soll versucht werden, Lösungsansätze für die Probleme bei der Anfertigung rechtsethnologischer Gutachten aufzuzeigen. Infolgedessen lassen sich drei Fragestellungen ableiten die den zentralen Mittelpunkt des Vortrages bilden: 1. Welche Auswirkung hat die Heterogenität bzw. Multikulturalität der bundesdeutschen Gesellschaftsstruktur auf das deutsche Rechtssystem? 2. Welchen Beitrag kann die Ethnologie zur Lösung dieser Auswirkungen leisten? 3. Welche Probleme ergeben sich bei der Erstellung rechtsethnologischer Gutachten und wie könnte man diesen entgegentreten?

Literatur: Turner, Bertram (2004) Rechtspluralismus in Deutschland. Das Dilema von „öffentlicher Wahrnehmung“ und rechtsethnologischer Analyse alltäglicher Rechtspraxis. In: Bertels, Ursula, Birgit Baumann, Silke Dinkel und Irmgard Hellmann (eds.) Aus der Ferne in die Nähe. Neue Wege der Ethnologie in die Öffentlichkeit. Münster: Waxmann Verlag GmbH, pp. 155-83. Sheybani, Malek-Mithra (1987): Cultural Defense: One Person´s Culture is Another´s Crime. In: Loyola of Los Angeles International and Comparative Law Review 9(3): 751-783.

14:45
Das Versprechen des Rechtspluralismus und seine Grenzen am Beispiel der Akkommodation von Religion im säkularen Staatsrecht

ABSTRACT. Aus dem Blickwinkel einer alternativen Jurisprudenz, wie sie beispielsweise von Paul Schiff Berman vertreten wird, gilt es heute, den allenthalben real existierenden Spielarten von Rechtspluralismus Rechnung zu tragen und über die Bedingungen einer produktiven Interaktion verschiedener Rechtssysteme nachzudenken. Dazu bedarf es nicht nur einer theoretischen Überprüfung gängiger Definitionen von Rechtspluralismus. Vor dem Hintergrund des grundsätzlichen Spannungsverhältnisses zwischen einem normativen Rechtspluralismus und den internationalen Menschenrechtskonventionen bedarf es vor allem einer empirischen Überprüfung rechtspluralistischer Ansätze. Dieses Papier tut dies im Bereich der Akkommodation von Religion im säkularen Staatsrecht. Am Beispiel der normativen und institutionellen Anerkennung (Gordon Woodman) von Religion im Vereinigten Königreich sowie in den Niederlande, Israel und Brasilien werden die emanzipatorischen Versprechen des Rechtspluralismus aufgezeigt. Dazu gehört die Tatsache, dass die große Bedeutung der Religion für die individuelle Lebensführung eines hohen Prozentsatzes der britischen Bevölkerung gerade auch am Arbeitsplatz respektiert wird. Außerdem wird dem sozio-kulturellen Solidaritätsnetzwerk der Betroffenen in stärkerem Maße Rechnung getragen, was besonders für den weiblichen Anteil von Migrantengruppen von Bedeutung ist. Ein weiterer Punkt ist die geringere Scheu vor religiösen Schlichtungsinstitutionen, die Streitende oftmals dazu bewegt, letztere säkularen Gerichten zu bevorzugen. Zu den problematischen Aspekten eines auf Akkommodation religiöser Normen und Institutionen basierenden Rechtspluralismus gehört zunächst die jeweilige Definition von „Religion“ selbst, besonders in ihrer fragwürdigen und umstrittenen Trennung von „Kultur“. In vielen rechtspluralistischen Rechtssystemen findet eine Diskriminierung indigener oder ethnischer Religionen statt, weil deren Normen vor den jeweiligen Gerichten als „Kultur“ abgetan werden. Auch beinhalten vielerorts die jeweiligen Definitionen von „Religion“ und „Religionsgemeinschaft“ eine Diskriminierung „neuer“ Religionen, die dem globalen Trend der Detraditionalisierung nicht Rechnung trägt. Ein weiterer Punkt ist die Tatsache, dass bei einer Akkommodation religiöser, und hier vor allem islamischer, Normen und Institutionen im nationalen Rechtssystem oftmals das individuelle Menschenrecht auf Freiheit von Religion missachtet wird. Ein dritter wesentlicher Punkt ist schlussendlich der Sachverhalt, dass es sich bei einer Akkommodation religiöser Normen und Institutionen immer um einen Übersetzungsprozess handelt, in dem sich nicht nur das entsprechende nationale Rechtssystem ändert, sondern auch die ursprünglichen religiösen Normen und Institutionen. Zu guter Letzt besteht die Gefahr der Autoseparation religiöser Gruppierungen, die zur Entstehung von Parallelwelten innerhalb der betroffenen Gesellschaften führen kann. Dies wird anhand von Fällen aus Neuseeland, Indonesien und Malaysia dargelegt. Meine Ausführungen beruhen auf empirischen Daten, die vonseiten des RELIGARE-Projekts erhoben worden, eigenen Feldforschungen in den Niederlanden und Indonesien sowie einer Reihe von Nationalreporten, die mir von Prof. Silvio Ferrari, Ehrenpräsident des International Consortium for Law and Religious Studies auf Lebenszeit, im Rahmen eines gemeinsamen Publikationsprojekts zur Verfügung gestellt wurden.

14:30-16:00 Session 7E: Sexualität, Lebensformen und das Recht: Schutzversprechungen und Rechtsverletzungen

Track "Lebensformen und Identitäten". Organisiert von Michelle Cottier und Elisabeth Holzleitner.

Location: Seminarraum 1.601, Universitätsgebäude am Hegelplatz, Dorotheenstr. 24, 6. OG
14:30
Trafficking, Prostitution and the Law: Legitimating Violence against Sex Workers at the Mexican Southern Border
SPEAKER: Laura Aguirre

ABSTRACT. Human trafficking, and especially trafficking of women and children, has long been the object of campaigns against the violation of human rights. International Organisations such as the UN, governments, NGO, the media, and academics often portray human trafficking as 21st century’s slave trade: “the modern slavery”. Most of the time, these campaigns confound human trafficking with prostitution. However, many scholars and activists have pointed to the multiple negative effects of this discourse, especially for women and men involved in sex trade. They complain that the dominant discourse on trafficking reduces the explanation of violence towards women to a single monolithic argument, reinforces conservative moral agendas on prostitution and encourages anti-immigration policies.

In this paper I present some reflections with a focus on migrants sex workers at the Mexican Southern Border. During the last decade, based on anti-trafficking legislation and regulatory laws, these women have been special object of state control. Through interviews with government officials I argue that regulatory law and anti-trafficking legislation, as discourse and practice, are based on an ideology that decrees that prostitution is immoral or totally oppressive to women. Furthermore I explored how these legal frameworks create representations about women in prostitution both as a victim of trafficking and as a menace. Moreover, I will point out that in these forms of subjectivity social constructs of gender, race, class and nationality intersect The law uses these representations to justify repressive actions and supports immigration control and deportation. I sustain that the law reinforces the vulnerable position of these women, restricting their capacity to invoke fundamental rights.

14:45
Die nicht eingelösten Versprechungen des Migrationsrechts

ABSTRACT. Aktuell lässt sich ein Wandel des Rechts hin zu einer erweiterten Anerkennung bisher marginalisierter Lebensformen erkennen. Diese Entwicklung schlägt sich auch im Migrationsrecht nieder. So steht der aus dem „besonderen Schutz von Ehe und Familie“ abgeleitete Ehegattennachzug mittlerweile auch gleichgeschlechtlichen Paaren offen, Verfolgung aufgrund der sexuellen Orientierung ist als Asylgrund anerkannt, und 2012 hat sich das BAMF zudem von der „Diskretions-Doktrin“ verabschiedet, nach der es homosexuellen Flüchtlingen zuvor zugemutet werden konnte, sich durch ein „diskretes Verhalten“ selbst vor Verfolgung zu schützen.

Die Liberalisierungen des Migrationsrechts haben allerdings Grenzen. Dies zeigt sich erstens auf der Ebene gesetzlicher Vorgaben. Bspw. orientiert sich der Familienbegriff im Ausländerrecht weiterhin an der Kernfamilie (nachzugsberechtigt sind erwachsene Ehepartner_innen und minderjährige Kinder), was zur Konsequenz hat, dass ausländische Familien im Gegensatz zu Deutschen einem engen Familienbegriff untergeordnet werden (Lemke/Heinemann 2013). Zweitens wird auf der Ebene der Rechtsanwendung deutlich, dass formal bestehende Rechte nicht automatisch „reibungslos“ ausgeübt werden können (Buckel 2007). So kommen zahlreiche Studien zu dem Ergebnis, dass Migrant_innen im Zuge der Anwendung des Rechts in Behörden und Gerichten weitere Eingriffe in ihre im Vergleich zu Deutschen ohnehin schon reduzierten Rechte hinnehmen müssen. Ein Beispiel sind Scheineheprüfverfahren, die eingeleitet werden, wenn Ausländerbehörden den Verdacht hegen, dass es sich bei einer Partnerschaft nicht um eine schutzwürdige Ehe, sondern lediglich um eine „Scheinehe zur Erlangung ausländerrechtlicher Vorteile“ handelt. Im Zuge der Prüfverfahren müssen sich unter Verdacht stehende Paare intimen Befragungen und behördlichen Nachforschungen aussetzen (Gössner 2013). Dies kann sich in Visumsverfahren über Jahre hinziehen, was für die Betroffenen mit enormen psychischen und finanziellen Belastungen verbunden ist, selbst wenn am Ende zu ihren Gunsten entschieden wird. Asylsuchende, die sich aufgrund ihrer sexuellen Orientierung zur Flucht gezwungen sahen, sind ebenfalls mit intimen Befragungen konfrontiert, da sie gegenüber den Entscheider_innen im Bundesamt ihre Homosexualität im Rahmen des Möglichen beweisen müssen (Markard 2013).

In beiden Fällen werden Eingriffe in die Privatsphäre der Betroffenen damit gerechtfertigt, dass sichergestellt werden müsse, dass nur „echte Familien“ oder „echte Geflüchtete“ in den Genuss einer Aufenthaltserlaubnis kommen (Müller 2012). Der besondere Schutz von Ehe, Familie und sexueller Selbstbestimmung endet also offenbar dort, wo der nationalstaatliche Imperativ, Migration zu kontrollieren und zu begrenzen, beginnt. Wie sich das Spannungsfeld zwischen Schutzgarantie und Missbrauchsunterstellung auf die behördliche und gerichtliche Praxis auswirkt und welche Konsequenzen dies für die Anerkennung bisher marginalisierter Lebensformen von Migrant_innen hat, möchte ich in meinem Beitrag am Beispiel des Umgangs mit der Heirats- und Asylmigration analysieren. Dabei werde ich zeigen, dass Rechtsanwender_innen in Behörden und Gerichten bei der Beurteilung der „Echtheit“ einer Ehe oder der sexuellen Orientierung eines_einer Geflüchteten maßgeblich auf tradiertes Wissen und stereotype Vorstellungen von Ehe und Familie, Sexualität und Migration zurückgreifen. Daher haben Migrant_innen, die von diesen Vorstellungen abweichen (bspw. weil ein jüngerer ausländischer Mann zu einer älteren Frau nachziehen möchte oder ein homosexueller Asylbewerber sich „nicht feminin genug“ verhält), systematisch schlechtere Chancen, ihr Recht auf Familienzusammenführung oder ihr Recht auf Asyl zu verwirklichen. Der Beitrag beruht auf eigenen Interviews und Beobachtungen am Berliner Verwaltungsgericht und einer Sekundäranalyse bereits vorliegender Arbeiten zur Heirats- und Asylmigration.

15:00
Sexarbeiterinnen und Leihmütter zwischen Ausbeutung und Autonomie

ABSTRACT. Die Lebenswelten von Sexarbeiterinnen sind in hohem Maße rechtlich determiniert. Die nationalen Prostitutionsgesetze in Europa könnten dabei nicht unterschiedlicher ausfallen. Die Bandbreite der Prostitutionspolitiken reicht von abolitionistischen Ansätzen, wie in Schweden, bis hin zu Systemen regulierender Anerkennung, wie in Deutschland. Der sich nicht zuletzt auch mit Blick auf die Verabschiedung der Honeyball-Resolution im Europäischen Parlament abzeichnende gesamteuropäische Trend in Richtung eines Verbots der Sexarbeit stellt den Ausgangspunkt für diesen Vortrag dar.

Das langfristige Ziel des „Schwedischen Modells“ ist es, Sexarbeit abzuschaffen. Dahinter steht die (auch radikalfeministische) Auffassung, dass Prostitution immer eine Form männlicher Gewalt gegen Frauen darstelle und weibliche Unterordnung sowohl produziere als auch verstärke. Es wird angenommen, dass Sexarbeiterinnen nicht nur ihren Körper verkaufen, sondern sich selbst. Indem Sexarbeit Frauen zu Waren mache, die Männer besitzen und kontrollieren könnten, werde das Ungleichheitsverhältnis der Geschlechter erhalten und verstärkt. Raum für freiwillige Entscheidungen gebe es keinen und daher müssten Frauen durch die Kriminalisierung und Verhinderung von Sexarbeit vor Viktimisierung und Ausbeutung geschützt werden. Und selbst wenn sich einige wenige Frauen frei zur Sexarbeit entscheiden könnten, wären die psychischen Folgen der notwendigen Trennung von Sexualität und Emotionalität für sie unzumutbar. Zudem bliebe Sexarbeit eine Einschränkung der Autonomie aller Frauen sowie ihrer Möglichkeiten, das sexualisierte Bild von Frauen zu ändern.

In teilweise analoger Weise wird für ein absolutes Verbot der Leihmutterschaft argumentiert. Leihmutterschaft wäre immer eine Form der Würdeverletzung von Frauen. Leihmütter würden als „Reproduktionstanks“ nicht nur ihre Gebärmutter, sondern sich selbst verkaufen. Eine freiwillige Entscheidung, die biologische von der sozialen Mutterschaft und „Mutterliebe“ zu trennen, wäre nicht möglich. Ein absolutes Verbot der Leihmutterschaft diene dem Schutz von Frauen vor Instrumentalisierung und Ausbeutung.

In diesem Beitrag soll der Frage nachgegangen werden, ob das Recht durch ein Verbot von Sexarbeit und Leihmutterschaft tatsächlich Frauen vor Ausbeutung und Verdinglichung schützen und dadurch aus ihrer Unterdrückungssituation und dem sexualisierten Ungleichheitsverhältnis befreien kann. Oder wird dadurch nicht im Sinne des Dilemmas der Differenz ein Bild von passiven, abhängigen Frauen als Opfer implizit bestätigt? Kann das Absprechen von Entscheidungskraft und der Fähigkeit, Ambivalenzen zu erkennen und auszuhalten, tatsächlich emanzipierend wirken? Welche Konzepte von Weiblichkeit, weiblicher Sexualität und Mütterlichkeit sollen damit erhalten werden?

Im Rahmen dieses Vortrags wird der Blick für andere Perspektiven eröffnet: Könnte in Analogie zu einem Sex-as-Work-Ansatz ein Maternity-as-Work-Ansatz formuliert werden? Könnte also die rechtliche Anerkennung von Sexarbeit und Leihmutterschaft als Ausdruck sexueller und reproduktiver Autonomie, wie es die Sex Radicals für die Sexarbeit vertreten, Frauen von den hegemonialen Konzepten weiblicher Sexualität und Mutterschaft emanzipieren?

15:15
Schutz des Privaten durch Privatsphärenverletzung? Ehe und Sexualität in Europäischer Migrationsrechtspraxis
SPEAKER: unknown

ABSTRACT. Dieses Paper analysiert aktuelle Entwicklungen und Forschungsergebnisse an der Schnittstelle zweier wichtiger Paradigmen: Migrationskontrolle und Sexualität. Veränderungen des Rechts, sowohl durch Gesetzgebung als auch Gerichtsurteile, haben die Schutzbedürftigkeit von Eingewanderten hinsichtlich ihres Privatlebens bestärkt. Dies betrifft sowohl „traditionelle“ heterosexuelle Familienbeziehungen im Bereich des Familienzusammenzugs als auch anderer Formen von Sexualität, die einen besondere Schutzgewährung auslösen können, wenn eine konkrete Verfolgungsgefahr im Heimatland besteht. In beiden Fällen kann der Schutz dieses Privaten über anderen rechtlichen Überlegungen – wie der Sicherung des Lebensunterhalts – stehen. Allerdings ist die Gewährung dieser Rechte fast immer mit einem institutionellen Missbrauchsverdacht verbunden. In der Folge ist Versprechung des Rechts auf besonderen Schutz häufig mit einem unzulässigen Eindringen in die Privatsphäre der Betroffenen verbunden.

Basierend auf ethnographischer Feldforschung in Migrationsbehörden sowie einer Analyse aktueller Rechtsprechung soll in diesem Paper analysiert werden, wie Behörden diese Fälle entscheiden. Es wird aufgezeigt werden, dass Verwaltungsangestellte häufig inakzeptabel weit in die Privatsphäre der betroffenen Personen eindringen. Dies liegt unserer Ansicht nach vor allem an ausbleibender interner Kontrolle und fehlenden Leitlinien, die das Verhalten der Angestellten lenken könnten. In Folge dessen sind diese Verfehlungen nicht notwendigerweise Zeichen eines unüberbrückbaren Widerspruchs zwischen Intaktheit der Privatsphäre und Schutz der Privatheit, ausgelöst durch grundsätzlich antagonistische Behörden, sondern vor allem schlecht strukturierte und aufgeklärte Arbeitspraktiken.

14:30-16:00 Session 7F: Das gebrochene Versprechen der Sicherheit: Das Versagen von Justiz und Sicherheitsbehörden angesichts des NSU

Track "Die Versprechungen des Strafprozesses". Organisiert von Alexander Klose und Doris Liebscher.

Location: Seminarraum 1.405, Universitätsgebäude am Hegelplatz, Dorotheenstr. 24, 4. OG
14:30
Der Einsatz von V-Personen in der extrem rechten Szene - Rechtstaatliche Erwägungen am Beispiel des NSU-Komplexes
SPEAKER: unknown

ABSTRACT. Mehr als drei Jahre nach dem Auffliegen des Nationalsozialistischen Untergrundes (NSU) sind im Zusammenhang mit der Rolle der Geheimdienst- und Sicherheitsbehörden noch immer entscheidende Fragen offen. Deutlich geworden ist neben der Bedeutung des strukturellen Rassismus für die verheerende Ermittlungsarbeit der Polizei bisher insoweit v.a. die problematische Rolle der sogenannten Vertrauenspersonen (V-Männern) im Umfeld des NSU. Die Ergebnisse der bisherigen Parlamentarischen Untersuchungsausschüsse sowie des Prozesses in München haben gezeigt, dass der Verfassungsschutz durch den Einsatz von V-Personen dem NSU-Terror zwar nicht auf die Spur gekommen ist, dafür aber den Aufbau der extrem rechten Szene in einigen Bundesländern massiv gefördert hat. Nicht nur bei den Vertreter*innen der Nebenklage in München wirft der Einsatz von V-Personen, d.h. von Menschen, die, ohne einer Strafverfolgungsbehörde anzugehören, bereit sind, diese bei der Aufklärung von Straftaten auf längere Zeit vertraulich zu unterstützen und deren Identität von den Behörden grundsätzlich geheim gehalten wird, daher zahlreiche Fragen auf: Wie und von wem werden sie ausgewählt und geführt? Gilt auch für sie das strikte Legalitätsprinzip oder wird die Begehung von Straftaten unter bestimmten Umständen geduldet? Welche Rolle spielen sie für die Stärkung extrem rechter Strukturen? Der Vortrag untersucht, welche grund- und menschenrechtlichen Maßstäbe für den Einsatz von V-Personen bestehen und wie diese – angesichts ihres Versagens bei der Nicht-aufdeckung des NSU – weiterzuentwickeln sind. Dabei ist – mit Blick auf die speziellen Einsatzbedingungen und die Erfahrungen in anderen Staaten – auch der Frage nachzugehen, welche Verbesserungen bei der Kontrolle dieser Ermittlungsmethoden erforderlich sind. Damit soll zugleich ein Beitrag zu der Kontroverse geleistet werden, ob ein Einsatz von V-Personen unter rechtsstaatlichen Bedingungen überhaupt möglich ist.

14:45
Sinn und Unsinn präventiver Notstandsvorbeuge: Die Rolle des Verfassungsschutzes im NSU Komplex

ABSTRACT. Die bisherigen Kenntnisse über NSU Komplex stellen den Sinn der Institution des Inlandsgeheimdienstes Verfassungsschutz grundsätzlich in Frage. Inwiefern wurde der Verfassungsschutz seiner Aufgabe zum „Schutz der freiheitlichen demokratischen Grundordnung, des Bestandes und der Sicherheit des Bundes und der Länder” (BVerfSchG) nicht gerecht, bzw. ist das gängige Verständnis seines Aufgabengebietes sogar Kern seines „Versagens“? Schon die Formulierung des Aufgabengebietes legt nahe, dass es der Institution weniger um den Schutz einzelner Verfassungsgüter, etwa dem Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit, als den Erhalt der Ordnung insgesamt geht. Dies rührt an ein mutmaßliches Kernproblem des NSU Skandals – die Mörder blieben einerseits deshalb so lange unerkannt, weil sie nicht in offene Konfrontation mit der Staatsmacht begaben, andererseits profitierten sie offenbar massiv vom Versuch des Verfassungsschutzes die Szene durch Informanten kontrollierbar zu machen.

15:00
Politisches Strafrecht als Mittel der wehrhaften Demokratie
SPEAKER: Sarah Schulz

ABSTRACT. Recht ist immer politisch. Das gilt besonders für das politische Strafrecht als ein Mittel der wehrhaften Demokratie in der Bundesrepublik. Der Beitrag wird ausgehend von dieser These fragen, wie die politische Ausrichtung und Konzeption des Strafrechts seine Handlungsmöglichkeiten gegen neonazistische Strukturen beeinflusst. Mit der Annahme, dass personelle Kontinuitäten sich auch inhaltlich niederschlagen, wird dazu der Entstehungsprozess des 1. Strafrechtsänderungsgesetzes vom 30. August 1951 analysiert. Nicht nur die Verfassungsschutzbehörden haben eine antikommunistische Tradition, die die nationalsozialistischen Kontinuität und neonazistischen Strukturen in der Bundesrepublik vernachlässigen bis fördern. Auch das politische Strafrecht steht in dieser Linie.

14:30-16:00 Session 7G: Normative Sinnansprüche: Konstruktion, Institution und Rezeption

7B Track "Interpretation". Organisiert von Roland Lhotta und Michael Wrase.

Location: Seminarraum 1.406, Universitätsgebäude am Hegelplatz, Dorotheenstr. 24, 4. OG
14:30
Recht zwischen Anleitung und Anerkennung

ABSTRACT. Recht als sinnstiftende und handlungsanleitende Institution nimmt eine vermittelnde Position zwischen Individuen und normativen Leitideen ein. Diese Leitideen werden durch Rechtsetzung in soziale Institutionen übersetzt, die sich in ihrer Funktionalität alltäglich beweisen müssen, indem sie die für ein Gemeinwesen relevanten Grund- oder Leitideen permanent repräsentieren, (re-)aktualisieren und dabei konstitutiv als auch handlungsanleitend für ihre Adressaten sind. Dabei ist Recht nicht am platonischen Himmel fixiert, sondern offen für Interpretationen, Präzisierungen und für Verhandlungen zwischen widerstreitenden Parteien. Je nachdem wie man den „Kampf um die Interpretationshoheit“ entscheidet, folgen dementsprechend unterschiedliche Bedingungen für das „Leben einer Rechtsordnung“ und ihre Legitimationsbedingungen. Folgt man den Vorstellungen der klassischen Staatsrechtslehre, so ist die bindende Rechtsinterpretation einigen wenigen und „kompetenten“ Interpreten vorbehalten. Ein vertiefender Blick auf die hermeneutisch-institutionellen Strukturbedingungen von Recht insbesondere in demokratischen Gesellschaften erteilt diesem Ansatz eine Absage und zwingt den Blick auf die Notwendigkeit und Bedingung eines "Interpretationsprozesses der Vielen" zu richten. Denn Recht als grundlegende gesellschaftliche Institution ist immer auch Sprache als Sprachwissen und Sprachvollzug. Diese konkrete Sprachlichkeit des Rechts begründet aber nicht zwangsläufig eine angemessene Verstehbarkeit ihrer normativen Sinngehalte. Diese können nur durch verständigungsorientierte Arbeit der Teilnehmer in der jeweiligen Praxis begründet und institutionalisiert werden. Die scheinbare Ablösung der Normativität sowohl vom Entscheidungssubjekt als auch vom Argumentationsprozess in juristischen Interpretationsabläufen nimmt einen gewichtigen Stellenwert ein, wird doch hiermit u.a. die Legitimität der juristischen Entscheidung durch Fachpersonal begründet. Da es aber keine wahre sprachliche Bedeutung von Recht gibt, sondern nur raum/zeitlich/semantisch bezogene relative Richtigkeit, kann auch keine Interpretations- und Argumentationsleistung als rein reproduktiv verstanden werden. Der dem Recht innewohnende normative Geltungsanspruch ist also nicht allein in den bereits eingespielten und fixierten Sprachgebrauch projizierbar, da Recht immer vom Sprecher mitgeformte, kontextualisierte soziale Praxis bedeutet. In den konkreten Sprachspielen und Rechtsanwendungen werden normative Praktiken durch die entsprechenden Einstellungen der beteiligten und Anerkennenden institutionalisiert - und Recht wird so zu einer Schnittstelle von Handlung und Sinn. Der dem Recht implizite normative Geltungsanspruch gewinnt dabei in seinem sozialen Kontext und durch die Anerkennung der Beteiligten an Tragkraft. Das Recht trägt Leit- und Ordnungsideen in sich, die im Diskurs sinnstiftend und handlungsanleitend wirken sollen, um so zu einer normativen und sprachlich verfassten Institution politischer Gemeinschaft werden zu können. Fraglich bleibt der Zusammenhang des Anerkennungsprozesses von normativen Sinnansprüchen und damit die Frage, warum sich die Individuen diese aneignen und sich ihren Logiken unterwerfen sollten.

14:45
Die Verfassung als Konfliktnarrativ: Lehren aus der amerikanischen Verfassungsgeschichte

ABSTRACT. Der Beitrag zeigt, dass die Verfassung und das Verfassungsrecht ihre Fähigkeit, sozial-integrativ und handlungsanleitend zu wirken, nicht selbst generieren können. Illustriert wird diese These am Beispiel der amerikanischen Verfassungsgeschichte. Die USA gelten in der Forschung gemeinhin als Paradebeispiel eines Gemeinwesen, das primär über das Bekenntnis zur Verfassung geeint wird. Allerdings wird seit jeher darüber gestritten, welche „Glaubensgrundsätze“ sich hinter diesem Bekenntnis verbergen. Die Verfassung selbst kann hierzu keine Auskunft geben. Ihre Interpretationsoffenheit ist vielmehr Ursache des Problems. Sie gestattet es nämlich, eine Reihe von Sinnstiftungen, die im freiheitlich-republikanischen Ideenspektrum angesiedelt sind, an den Verfassungstext heranzutragen. Daraus ergibt sich ein gewisses Spannungsverhältnis: Einerseits verfügt die US-Verfassung über erhebliches Integrationspotenzial, da sie einer Vielzahl von Erwartungen, Hoffnungen und Ideen eine Projektionsfläche bietet; andererseits ist sie bedingt durch den pluralistischen „Wettstreit der Ideen“ immer wieder Spannungen und Konflikten ausgesetzt. Die Geschichte der USA zeigt, dass ein Gemeinwesen, das über die Verfassung geeint wird, durch das ständige Aufeinanderprallen konfligierender konstitutioneller Ordnungsvorstellungen zerbrechen kann. Der Austritt der elf Südstaaten im Jahr 1860/61 markiert den Endpunkt dieser Entwicklung. Ziel des Beitrages ist es, den andauernden Konflikt, der die Integrationskraft der amerikanischen Verfassung in der Zeit zwischen 1828 und 1860 sukzessive hat schwinden lassen, mit Hilfe eines theoretischen Ansatzes zu untersuchen, der sich auf Erkenntnisse der Politikwissenschaft, der Verfassungsgeschichtsschreibung, der Verfassungstheorie und der Erzählforschung stützt. Es wird die These vertreten, dass die sozial-integrative Wirkung nicht von der Verfassung selbst ausgeht, sondern in einem gesellschaftlichen Prozess der Verfassungsaneignung ständig neu narrativ erzeugt wird. Auch die Fähigkeit des Verfassungsrechts, Handlungsanweisungen bereitzustellen, setzt einen solchen Prozess der situativen Sinngebung voraus. Durch ihn werden diffuse Erinnerungen, Vermutungen und Rechtsauffassungen, die im konstitutionellen Imaginativ der Gesellschaft gespeichert sind, systematisiert, verstetigt und in komprimierter Form an die interpretationsoffene Oberflächenstruktur der Verfassung herangetragen. Die Verfassung wiederum spiegelt das Ergebnis der narrativen Sinnstiftung zurück. Es gelangt auf diese Weise wieder in das konstitutionelle Imaginativ, wo es fortan in der Gestalt einer konkreten „Ordnungsidee“ als Bewertungsmaßstab für politisches Handeln bzw. rechtliches Entscheiden zur Verfügung steht. Integration durch Verfassung ist in dieser Perspektive somit ein Prozess, der von der normativen Kraft identitätsstiftender Narrative lebt. Konflikte erzeugt die gesellschaftliche Aneignung der Verfassung immer dann, wenn die verschiedenen sinnstiftenden Erzählungen nicht das Einigende, sondern das Trennende in den Mittelpunkt rücken. Besondere Gefahren für den inneren Zusammenhalt des Gemeinwesens drohen, wenn der Prozess der Sinnstiftung zudem mit der systematischen Dekonstruktion eines anderen Narrativs und der damit in Verbindung stehenden Ordnungsidee einhergeht. Der Beitrag verdeutlicht, dass die Verfassungsdebatte im Vorfeld des Amerikanischen Bürgerkriegs just dieser desintegrativen Logik folgt.

15:00
Dogmatik und Kairos – Rechtliche Interpretationsmethoden als Ausdruck eines gesellschaftlichen Know-how

ABSTRACT. Im Beitrag wird das rechtliche Methodenwissen der Dogmatik als Ausdruck eines gesellschaftlich geteilten praktischen Regelwissens beschrieben. Dabei fokussiert er sich auf die Interpretation der Verfassung und geht davon aus, dass die Regeln der Verfassung ein „einheitliches Sinngefüge“ und „ein zu konkretisierendes Normenwerk“ sind (Jestaedt 2011, 23). Durch die Methoden der Interpretation soll ebendieses in die soziale Praxis übersetzt werden. Demzufolge wird in einem ersten Schritt die Dogmatik als Symbol juristischer Methoden zur Rezeption des Rechts konzeptualisiert, wobei hier zwei Einschränkungen zu machen sind: Zum einen ist das, was in der Dogmatik selbst als Regelwissen praktiziert wird, nicht expliziter Natur (vgl. Pöcker 2007, 8). Zum anderen ist das dogmatische Methodenwissen praktisches Wissen. Die Dogmatik als methodisches Symbol der richterlichen Rezeptionspraktiken der Verfassung verkörpert das implizite, praktische Können der Rezeption und hat drei Funktionen zu erfüllen: Erstens soll sie die Herkunft der praktischen Regeln aus der Praxis vergegenwärtigen, wodurch die Bedeutung der Rezeptionspraktiken als Praktiken in ihrer historisch entwickelten Routine begründet wird. Zweitens wird mit der Dogmatik die Exklusivität der Rezeptionspraktiken und ihre Abgrenzung gegenüber anderen betont. Drittens symbolisiert die Dogmatik ein gewisses Maß an Offenheit, um methodisch eine zu restriktive Regelung der Rezeptionspraktiken zu verhindern (vgl. Kranenpohl 2010, 344).

In einem nächsten Schritt wird die Dogmatik als ein spezifisches ‘Know-how’ der richterlichen Rezeptionspraktiken identifiziert. Dabei wird der Prozess der Rechtserzeugung, also der Rezeption der Symbolik, in zwei Bereiche differenziert: den der Norm und den der Anwendung (Pöcker 2007, 28). Das Wissen um die Norm führt über den Kairos zu ihrer Anwendung. Die strikte Trennung beider Ebenen enthebt die Norm der Praxis und schließt sie im Wissen ein. Das situative Erkennen der Norm ist ein kognitiver Akt, bei dem die involvierten Akteure einen Wissensbestand als Erkenntnisquelle nutzen und die darin enthaltenen Vorgaben in die Praxis überführen. In dieser Hinsicht ist die Grundstruktur einer Mètis nach Michael Certeau erfüllt und die Dogmatik lässt sich als eine spezifische Verbindung von Sein/Tun und von Raum/Zeit schematisieren.

Der dritte Schritt verortet dann dieses praktische Wissen in seinem sozialen Kontext. Das konventionalisierte praktische Wissen der Dogmatik besteht in der Fähigkeit, zu dekontextualisieren und zu identifizieren. Die Dogmatik schematisiert die Wirklichkeit derart, dass der Beobachter sie in differenzierte Elemente einteilen kann, wobei diese Einteilung der Wirklichkeit eine durch das Dekontextualisieren bestimmte Orientierungspraxis ist. In einer solch ausgestalteten Orientierungspraxis gelingt es den Beobachtern, die wahrgenommene Wirklichkeit so zu bearbeiten, dass in jeder komplexen Situation durch das Dekontextualisieren ein identifizierbarer Kern konstruiert werden kann. Erst mit dieser Fähigkeit ist es möglich, sozial wirksame Regeln in relativ einfachen Schemata zu codieren, die als quantifizierbare Schemata durch alle Mitglieder einer Gesellschaft verstanden werden können. Der durch die Dogmatik präsentierte gesellschaftliche Regelungsmodus setzt an der kollektiven Konstruktion (durch Dekontextualisierung und Identifikation) an. Damit ist er aber sehr voraussetzungsreich, denn er bedarf integrierender Beziehungen, welche eine kollektive Praxis gemeinsamer Regelidentifikation, -befolgung und -sanktion erlauben. Diese ist jedoch, und mit dieser These schließt der Beitrag, nur auf der Grundlage einer republikanischen Urerfahrung der Gemeinschaft möglich, wie sie historisch typisch für Europa ist.

14:30-16:00 Session 7H: Governance mit Mitteln des Rechts - rechtsstaatliche Governace

Track "Rule of Law and Governance". Organisiert von Anke Draude und Matthias Kötter.

Aus der Governance-Perspktive betrachtet bezeichnet Recht eine Vielzahl von Mitteln, die eine Gemeinschaft zur Bildung und Bewahrung sozialer Ordnung einsetzt. Das recht dient insbesondere der Konstituierung kollektiver Institutionen, der Bewältigung sozialer Konflikte und der Bereitstellung verbindlicher normativer Maßstäbe. Dass eine effektive und legitime Governance mit Mitteln des Rechts höchst voraussetzungsvoll ist, zeigt sich auch in den Studien der jüngeren Governance-Forschung, die nach den Bedingungen und den Wirkungen der Geltung und Durchsetzung von Recht in Kontexten "jenseits des Staates" fragen. Begriffe und Konzepte wie Rechtssicherheit, die Klarheit und Eindeutigkeit des Rechts, die normative Einheit der Rechtsordnung, oder die Relevanz des Rechts als Letztentscheidungsmaßstab verlieren ihre konturierende Kraft, stattdessen treten Überlappungen und Konflikte zwischen verschiedenen konkurrierenden normativen Ordnungen oder Ordnungssystemen auf. Auf das Recht im Verfassungsstaat oder in europäischen Rechtsverbund angewendet verweist diese Perspektive ebenfalls auf die sozialen und institutionellen Bedingungen, die eine effektive Governance mit den Mitteln des Rechts erfordert. Die Beiträge in dieser Session diskutieren gesellschaftliche und rechtliche Veränderungen in verschiedenen Kontexten, in deren Lichte die klaren Zuordnungen des Rechts zu verschwimmen drohen und die die ordnende Kraft des Rechts herausfordern.

Location: Seminarraum 1.501, Universitätsgebäude am Hegelplatz, Dorotheenstr. 24, 5. OG
14:30
Rechtssicherheit angesichts informeller Elemente in der Entscheidungsfindung über öffentliche Angelegenheiten

ABSTRACT. Informalität in rechtlichen Verfahren zeichnet sich dadurch aus, dass Behörden bzw. Gerichte und Unternehmen in kooperativen und rechtlich unverbindlichen Verhandlungen Rechtsfolgen vereinbaren, die rechtlich nicht explizit geregelt sind. Informelle Verfahrenselemente zeigen sich u.a. in verwaltungsrechtlichen und strafrechtlichen Absprachen sowie in Investor-Staats-Klagen. Sie sind mehr oder weniger direkt durch unternehmerische Interessen motiviert. Bei Absprachen in Genehmigungsverfahren z.B. im Bau- oder Umweltrecht verzichtet die Behörde auf eine belastende Verfügung, wenn das Unternehmen im Gegenzug zu bestimmten Leistungen bereit ist. In den für Wirtschaftsstrafverfahren typischen strafprozessualen Absprachen verzichten Staatsanwaltschaft und Gericht auf die Fortführung der Sachverhaltsaufklärung, wenn der Angeklagte ein umfassendes Geständnis ablegt. Bei Investor-Staats-Klagen entscheiden private Schiedsrichter anhand vage formulierter Verfahrensordnungen darüber, ob ausländische Unternehmen gegen Gesetze des gastgebenden Staates vorgehen können, welche die Gewinnmöglichkeiten des Unternehmens ungerechtfertigt beschränken könnten. Solche informell getroffene Entscheidungen ermöglichen schnelle Lösungen, sind aber nicht der Kontrolle durch Öffentlichkeit und höhere Instanzen zugänglich. Damit werfen sie die Frage auf, ob und wie auch in solchen Verfahren Rechtssicherheit im Sinne gleichmäßiger Rechtsanwendung und Rechtsdurchsetzung gewährleistet werden kann. Eng damit verknüpft ist die Frage nach den faktischen Grenzen der Informalität, also danach, wie weit Unternehmen und staatliche Einrichtungen bei informellen Verhandlungen gehen können, ob und inwieweit dabei also rechtsstaatliche Prinzipien übergangen oder rechtswidrige Ergebnisse festgelegt werden können. Dahinter stehen wiederum Fragen nach der Bedeutung solcher informellen Elemente für das Rechtssystem: Sind sie Ausdruck dafür, dass Recht unter bestimmten Machtverhältnissen nicht jeden Sachverhalt uneingeschränkt steuern kann? Oder handelt es sich um durchaus rechtskonforme Flexibilisierungen, mit denen das Rechtssystem auf die Anforderungen einer zunehmend komplexen Wirtschaftsordnung reagiert?

14:45
Rule of Law vs. Wettbewerbslogik – Geschlechtergerechtigkeit in der Wissenschaft im Spannungsfeld von Wettbewerb und rechtlicher Steuerung
SPEAKER: Nina Steinweg

ABSTRACT. „Deutschland braucht ein faires, qualitätsorientiertes und wettbewerbsorientiertes Wissenschaftssystem“ hat der Wissenschaftsrat in den neuesten Empfehlungen zu Karrierezielen und –wegen an Universitäten bekräftigt. Der Dreiklang von Chancengleichheit, Qualitätssicherung und Wettbewerb wird auch auf die Herstellung von Geschlechtergerechtigkeit in der Wissenschaft angewandt. Eine geschlechtergerechte Wissenschaftskultur soll insbesondere durch die bessere Partizipation und Repräsentanz von Wissenschaftlerinnen in Führungspositionen erreicht werden. Die Bilanz des Wissenschaftsrats nach sechs Jahren „Offensive für Chancengleichheit fällt ernüchternd aus: Deutschland ist noch „deutlich“ von einer angemessen Repräsentanz von Wissenschaftlerinnen entfernt und „weitere Anstrengungen sind erforderlich“ . Die Instrumente zur Erhöhung des Professorinnenanteils sind zum einen die stärkere (rechtliche) Regulierung von Personalauswahlverfahren, z.B. durch die Festsetzung von Zielquoten, die Implementierung von Geschlechtergerechtigkeit in Berufungsordnungen und die Erstellung von Berufungsleitfäden. Hierdurch soll zum einen der Druck auf die handelnden AkteurInnen steigen, Wissenschaftlerinnen aktiver zu rekrutieren und sie in den Auswahlverfahren stärker zu berücksichtigen. Zum anderen sollen die Beteiligten angeleitet und ermächtigt werden, die Auswahlverfahren gesetzesgemäß um zu setzen. Parallel zu den rechtlichen Regelungen werden seit 2008 verschiedene gleichstellungspolitische Wettbewerbsverfahren implementiert, die Steuerungskraft im Hinblick auf die Repräsentanz von Wissenschaftlerinnen einerseits und die Veränderung der Wissenschaftskultur andererseits entfaltet haben. Das Paper geht der Frage nach, welche Wirkungen die beiden Steuerungsansätze gezeigt haben und in welchem Verhältnis sie zueinander stehen. Sind gleichstellungspolitische Ziele im Kontext eines sich wandelnden Wissenschaftssystems eher durch Anreizsysteme, Benchmarking und Wettbewerb erreichbar als durch gesetzliche Intervention? Können die Funktionen des Rechts, wie etwa Inklusion und Verhaltenskoordination durch eine Wettbewerbslogik erfüllt werden? Perpetuiert das Recht Stereotype und Rollenverteilung durch die Ausrichtung auf die Zweigeschlechtlichkeit? Welche Gestaltungspotentiale und welche Limitationen haben rechtliche Steuerungsinstrumente? Das Paper untersucht diese Fragen zum einen mit Blick auf die institutionelle Gleichstellungspolitik an Hochschulen und ihrer AkteurInnen und zum anderen in Bezug auf die Regulierung von Personalauswahlprozessen durch (gesetzliche) Quoten. Hierfür wird sowohl auf die einschlägigen Literatur zur feministischen Rechtskritik und zur Rule of Law als auch auf aktuelle Gesetzesnovellierungen (NRW) und auf zwei Studien des CEWS rekuriert, die die strukturellen Veränderungen von Gleichstellungsarbeit im Kontext von Governance Forschung bzw. Rekrutierungsverfahren in den außerhochschulischen Forschungseinrichtungen zum Gegenstand haben.

15:00
Instrumente privater Selbstregulierung im Kontext des "Europäischen Regierens": Problematisierung alternativer Regulierungsansätze in Hinblick auf die zentralen verfassungsrechtlichen Ordnungsprinzipien des Art. 5 EUV

ABSTRACT. Insbesondere seit der Krise der europäischen Finanzmärkte hat sich die Kritik an Instrumenten der privaten Selbstregulierung als Alternative zu traditionellen „command and control“-Ansätzen zunehmend verstärkt. Wenngleich Formen privater Selbstregulierung insbesondere im angelsächsischen Raum von zentraler Bedeutung sind, zeigen sich auch in kontinentaleuropäischen Rechtstraditionen verstärkt Tendenzen einer Diversifikation von Regulierungsansätzen. Auch auf Ebene der Europäischen Union und im Kontext des „European Governance“ werden Ansätze von Ko- und Selbstregulierung als Alternativen zu konventionellen Regulierungsformen gehandelt und als zentraler Bestandteil von „Better Regulation” beziehungsweise “Smart Regulation” Strategien beworben. Insbesondere von Seiten der Europäischen Kommission werden Formen privater Selbstregulierung als vielversprechende Regulierungsalternative propagiert, deren primärer Mehrwert darin liegen soll, die Qualität des regulativen Outcomes zu verbessern und der vielfach kritisierten Überregulierung entgegenzusteuern. Durch die Einbeziehung privater Akteure in den Regelsetzungsprozess beziehungsweise durch die Delegierung regulativer Kompetenzen auf die Regulierungsadressaten, sollen einerseits notwendige Synergien hergestellt werden, die es ermöglichen zielgenau und adäquat auf Regelungsbedarf in komplexen und dynamischen Regelungskontexten zu reagieren sowie anderseits dem Vorwurf mangelnder demokratischer Legitimation im Rahmen des „EU-Governance“ entgegenzuwirken. Insbesondere aus verfassungsrechtlicher Perspektive, können demgegenüber eine Reihe von Kritikpunkten im Zusammenhang mit Instrumenten der Ko- und Selbstregulierung vorgebracht werden. Bedenken diesbezüglich ergeben sich primär aus der fehlendenden primärrechtlichen Verankerung dieser „neuen“ Regulierungsformen und den damit einhergehenden Defiziten beziehungsweise Unsicherheiten in Hinblick auf grundlegende „Versprechungen“ der Rechtsstaatlichkeit, wie insbesondere Aspekte der Legalität, der justiziellen Kontrolle sowie der demokratischen Legitimation.

Ziel dieses Beitrags ist es daher, einen systematischen Blick auf die Rolle privater Selbstregulierung im Kontext des „Europäischen Regierens“ zu werfen, eine kritische Auseinandersetzung mit den kolportierter „Versprechungen“ dieser Regulierungsinstrumente vorzulegen und insbesondere private Selbstregulierung als Alternative zu traditionellen Regulierungsansätzen auf EU-Ebene im Hinblick auf Aspekte der Rechtsstaatlichkeit zu problematisieren. Dabei soll zunächst ein Model vorgestellt werden, auf Basis dessen eine erste konzeptionelle Systematisierung des komplexen und vielfältigen Problemfeldes der Ko- und Selbstregulierung ermöglicht wird. Anschließend sollen ausgewählte konstitutionell-rechtliche Problemstellungen in diesem Zusammenhang umrissen werden, wobei hierbei wiederum primär das Verhältnis zwischen privater Selbstregulierung und den zentralen verfassungsrechtlichen Ordnungsprinzipien des Artikel 5 EUV zu analysieren ist.

Während Formen der privaten Selbstregulierung im europäischen Regelungskontext bisher lediglich im Rahmen von „Governance“-Ansätzen diskutiert wurden, liegt der wissenschaftliche Mehrwert dieses Beitrags insbesondere darin, dass nun ein konkreter Schwerpunkt auf die konstitutionell-rechtlichen Implikationen und Problemstellungen in diesem Zusammenhang gelegt wird. Der vorliegende Beitrag stützt sich inhaltlich auf die Ergebnisse einer Masterarbeit, die im Sommer 2015 an der Utrecht University Law School im Fachbereich Europarecht verfasst wurde. Dem vorausgegangen war die Mitarbeit an einer explorativen Studie über die Rolle von Ko- und Selbstregulierungsansätzen auf Ebene der EU, die zwischen Dezember 2014 und März 2015 im Auftrag des „Directorate General for Communications Networks, Content & Technology“ der Europäischen Kommission am „Utrecht Centre for Regulation and Enforcement in Europe“ (RENFORCE) durchgeführt wurde.

15:15
Fragmentierungs-Konflikte im internationalen Recht: Welche Konflikte?
SPEAKER: Lea Wisken

ABSTRACT. Die Fragmentierung des internationalen Rechts wird von Rechts- und Politikwissenschaftlern als Grund zur Sorge betrachtet. Demnach bedrohen Überlappungskonflikte die internationale Rechtssicherheit und eröffnen Staaten die Möglichkeit des „Forum Shopping“. Grundlage für zahlreiche Analysen ist dabei eine überraschend kleine Zahl an Fallstudien. Einer der Gründe für die geringe Anzahl von untersuchten Fällen ist sicherlich, dass sich Überlappungskonflikte weder leicht definieren, noch empirisch feststellen lassen. Das Ergebnis ist eine Selektionsverzerrung hin zu bereits eskalierten und damit deutlich identifizierbaren Konflikten. Allerdings sind es genau diejenigen Überlappungskonflikte, in denen eine Eskalation vermieden werden konnte, die für die Forschung von besonderem Interesse sein sollten.

In meinem Beitrag möchte ich, erstens, die beschriebene Selektionsverzerrung näher darlegen und die resultierenden Probleme beleuchten. Vor diesem Hintergrund möchte ich, zweitens, einen konkreten Vorschlag für eine Definition von Überlappungskonflikten diskutieren. Dabei gilt es vor allem zwei Dinge zu vermeiden; auf der einen Seite eine zu breite Definition, die eine unbegrenzt hohe Anzahl an potenziellen Regelkonflikten identifiziert, und auf der anderen Seite eine Definition von Überlappungskonflikten, die bereits die Eskalation des Konflikts voraussetzt. Ein weiteres Desideratum ist die Anwenderfreundlichkeit der Definition, das heißt inwiefern sich anhand der Definition empirisch konkrete Fälle von Überlappungskonflikten identifizieren lassen.

16:00-16:30Kaffeepause
16:30-18:00 Session 8A: Roundtable: Inklusion und Rechtliche Stellvertretung

Track "Inklusion und Rechtliche Stellvertretung". Organisiert von Josef Estermann und Walter Fuchs.

Die abschliessende Roundtable "Inklusion und Rechtliche Stellvertretung" diskutiert die Ergebnisse des Tracks.

Teilnehmende:
Walter Fuchs, Josef Estermann, Peter Voll, Julia Emprechtinger, Reinhard Damm
Katja Stoppenbrink, Eva Nachtschatt, Hemma Mayrhofer, Andreas Weber
Diana Ramm, Daniel Hlava, Tonia Rambausek, Radek Wasilewski, Felix Welti

Location: Seminarraum 1.608, Universitätsgebäude am Hegelplatz, Dorotheenstr. 24, 6. OG
16:30-18:00 Session 8B: Technologien der Verdachtsgewinnung

Track "Sicherheit". Organisiert von Lars Ostermeier and Bettina Paul.

Die Kritik an der Definition, des Beobachtens und des Aus- und Wegschlusses der ‚üblichen Verdächtigen’ durch das Kriminaljustizsystem gilt als ein identitätsstiftendes Merkmal kritischer Kriminologie. Dabei ist die Generierung von Verdacht als Schwelle für Interventionen nicht nur auf den Polizeiapparat und das Kriminaljustizsystem beschränkt. Ob im Gesundheitswesen, der Sozialarbeit oder am Arbeitsplatz: die Selektion von Personen und Personengruppen, die soziale unerwünschte Verhaltensweisen oder auffällige Charakteristika aufweisen, zieht sich durch alle gesellschaftlichen Institutionen. Die im Folge von Politiken der Prävention und der Preemption zunehmende Verbreitung von Verdachtsgewinnung durch Technologien der automatisierten Datenerfassung und -verarbeitung ist das Thema dieses Panels.

Durch den Rückgriff auf technikgestützte Verfahren wird ein beschleunigter Zugriff auf Personen und Verhalten möglich, das als verdächtig gilt. Dies geht einher mit neuen Möglichkeiten des Datenabgleichs und der Datenvernetzung, die zudem durch die Alltäglichkeit des Einsatzes von Überwachungstechnologien befördert wird. Nancy Campbell hat derart eingesetzte Technologien als „technologies that work against participatory citizenship, reinforce policies of exclusion and incarceration, and entail life-changing material consequences for individuals“ (2005: 375) definiert. Diese Form des exkludierenden, auf Kategorien und nicht Verhalten bezogenen Verdachts, gilt es zu differenzieren vom generalisierenden Verdacht (Aas et al. 2009: 9f.). Ob eine Technologie zur Verdachtstechnologie wird, darüber entscheiden die in ihr vorgenommenen Einschreibungen durch Erwartungen in der Entwicklung und Etablierung, in der ihr Nutzen und Rationale zugeschrieben werden ebenso wie ihre Einsatzpraxis. Nicht die Technologie kreiert den Verdacht, aber sie identifiziert – sogar im Vorgriff der Antizipation – das als verdächtig ausgewiesene Verhalten oder Merkmale desselben. Mit dieser Selektions- und Identifizierungsaufgabe fungiert sie als technologische Zeugin (ebd. 381), die Verdächtige und Verdächtiges als solches identifiziert und somit die Zukunft beherrschbar machen soll, indem sie, so Campbell, „uncertainty into proof positive“ überführt (ebd.).

Niklas Creemers und Daniel Guagnin widmen sich in ihrem Beitrag der Rekonfiguration polizeilicher Praktiken der Verdachtsgewinnung vor dem Hintergrund einer Fallstudie zur Rolle von automatisierter Datenverarbeitung in der polizeilichen Ermittlungsarbeit. Kern ihrer Analyse ist die Abstraktion und Entindividualisierung des Verdachts im Kontext der Digitalisierung des Sozialen. Den Zusammenhang zwischen der Neutralitätszuschreibung und der Versprechenszuschreibung über das erwünschte Potential einer Technologie zeigen Bettina Paul und Simon Egbert an der Praxis der Lügendetektion auf. Sie erfährt durch den Diskurs neuer Verfahren wie des Neuroimaging in Koppelung mit der Hoffnung, sie könnten im Anti-Terror-Kampf Entscheidendes bewirken, einen immensen Auftrieb und eine grundsätzlich neue Akzeptanz. Sabrina Ellebrecht analysiert die Praktiken der Lagebilderstellung und Verdachtsgewinnung im Europäischen Grenzüberwachungssystem EUROSUR. Dabei arbeitet sie heraus wie sich die Praxis der Verdachtsgewinnung und -visualisierung vollzieht und welche Konsequenzen daraus hervorgehen.

Location: Seminarraum 1.404, Universitätsgebäude am Hegelplatz, Dorotheenstr. 24, 4. OG
16:30
Lügendetektion per Neuroimaging – visuelle Verdachtstechnologien als soziotechnische Ensembles
SPEAKER: unknown

ABSTRACT. Die bislang als diskreditiert geltende Praktik der Lügendetektion erfährt zur Zeit eine neue Akzeptanz, die durch zwei Entwicklungen befördert wird: Zum einen durch den Einsatz von Hirnbild-basierten Detektionstechnologien, zum anderen durch die Einbettung der Lügendetektion in die Suche nach neuen Sicherheitsversprechen im Anti-Terror-Kampf (Littlefield 2011). Mit Blick auf die soziotechnischen Prozesse der neuen bildgebenden Verfahren der Lügendetektion möchten wir herausarbeiten, woraus sich die neue Akzeptanz ableitet: Erstens blicken wir auf die Beschaffenheit der ‚Neuheit’ und der damit verbundenen Leistungssteigerung, die der Technologie zugeschrieben wird. Zweitens weisen wir auf die Bedeutung der Visualität in Hirnbild-basierten Verfahren hin, welche die Überzeugung befördert, dass mit den neuen Formen der Lügendetektion ein ‚Wahrheits’-Instrumentarium entwickelt wurde. Drittens werden die Erwartungen und Hoffnungen, die in den Diskursen über die Einsatzmöglichkeiten zutage treten, mit dem tatsächlich praktizierten Einsatz der neuen Verfahren verglichen. Auf Folgendes ist dabei hinzuweisen: Bereits die Beschäftigung mit den neuen visuellen Praktiken der Lügendetektion schafft einen legitimatorischen Nährboden für zukünftige ‚Verdachtstechnologien’ (Campbell 2005).

16:45
Datenbanken in der Polizeipraxis: Zur computergestützten Konstruktion von Verdacht
SPEAKER: unknown

ABSTRACT. Vor dem Hintergrund der fortschreitenden Digitalisierung der Informationserfassung und -verarbeitung und der daraus hervorgehenden Transformation von Wissen analysiert der Beitrag die Rekonfiguration polizeilicher Praktiken der Verdachtsgewinnung. Die Digitalisierung von Daten wird dabei als gesellschaftliches Phänomen verstanden, das im Kontext der Polizeiarbeit spezifische Formen annimmt und spezifische Effekte hervorruft. Diese ergeben sich aus der sozialen Einbettung in Diskurse um Sicherheit und den organisationalen Zielen und Strukturen polizeilicher Institutionen. Die Analyse basiert auf einer empirischen Fallstudie zur Rolle von automatisierter Datenverarbeitung in der polizeilichen Ermittlungsarbeit, die im Rahmen des Projektes Protecting Citizens' Rights Fighting Illicit Profiling (PROFILING) durchgeführt wurde.

17:00
Kommentar
SPEAKER: Eric Töpfer

ABSTRACT. Kommentar

16:30-18:00 Session 8C: Recht und Gesellschaft lehren II

Track "Recht und Gesellschaft lehren". Organisiert von Stefan Machura.

Location: Seminarraum 1.308, Universitätsgebäude am Hegelplatz, Dorotheenstr. 24, 3. OG
16:30
Recht erfahren - Erfahrungsbasiertes Lernen im juristischen Studium

ABSTRACT. In der juristischen Lehre ist wenig Raum für die Erfahrungen der Lehrenden und Lernenden. Wenn Lehrende ihre Forschungserfahrungen in die Lehre einbringen, wird dies als Störung wahrgenommen. Zu vermitteln sind ein kanonisierter Wissensbestand und Rechtsanwendungsroutinen. Die Erfahrungshintergründe der Studierenden fließen ebenfalls selten in die Lehre ein – honoriert werden Standardantworten und –argumentationen. Es werden weder eigene Fragen an das Recht gerichtet, noch interessiert das Ergebnis einer rechtlichen Argumentation. Inhalte werden selten kontextualisiert. Einblicke in die Erfahrungswelten von Personen, die Recht mitgestalten oder die von rechtlichen Regelungen betroffen sind, erfolgen kaum. Lehrende bemühen sich durchaus um Nähe zu den Studierenden und versuchen Überlebenshilfe im „Prüfungs- und Paukbetrieb“ zu leisten – dies wirkt sich aber in der Regel nicht inhaltlich und damit nicht auf das Konzept von Recht aus, das Studierenden vermittelt wird.

Was spricht für ein erfahrungsbasiertes Lernen im juristischen Studium? Argumente lassen sich sowohl aus didaktischer wie rechtlicher Perspektive entwickeln. Die pragmatische Pädagogik von Dewey und konstruktivistische Lerntheorien gehen davon aus, dass Lernende Wissen selber aufbauen müssen – in Auseinandersetzung mit ihren eigenen Erfahrungen. Daraus folgt eine Subjektorientierung der Lehre, die die heterogenen Erfahrungshintergründe der Lernenden ernst nimmt. Die Rechtssoziologie versteht Recht schon lange als soziale Praxis, die ohne eine empirische Auseinandersetzung mit „normativen Erfahrungen“ nicht verstanden werden kann. Rechtspluralismus und transnationale Rechtsforschung haben das Augenmerk auf die unterschiedlichen Verständnisse von Recht gelenkt, die sichtbar werden, wenn Recht nicht als rationales Wissen vorausgesetzt, sondern in der Dimension der „messy lived experience“ wahrgenommen wird (Darian-Smith). Erfahrungsbasiertes Lernen, so könnte man argumentieren, fördert den Lernprozess und eröffnet ein erweitertes Verständnis von Recht.

Schließlich ein kritischer Blick auf die gegenwärtig zu beobachtenden Lehr-/Lernexperimente. Angebote erfahrungsbasierten Lernens wie Legal Clinics, Moot Courts oder Exkursionen nehmen an juristischen Fakultäten zu. Verstehen sich die Angebote (nur) als sinnvolle Ergänzung zum sogenannten „Kerncurriculum“? Oder geht mit ihnen ein erweitertes Verständnis von Recht einher, das auch zur Veränderung des „Kerncurriculums“ führen kann?

16:45
"Der etwas andere Moot-Court"
SPEAKER: Gaby Temme

ABSTRACT. „Mir gefiel, dass es mal von der Struktur ein völlig anderes Seminar war … schwer Verständliches, verständlich gemacht wurde … unbedingt wieder machen …“.

Der Beitrag diskutiert die Möglichkeit über die Simulation eines Kriminalfalles von der Strafanzeige bis zum Strafurteil unter gleichzeitiger Einbeziehung von ExpertInnen aus der Praxis, Studierenden Kompetenzen im Hinblick auf das Strafrecht & Strafverfahrensrecht, die Rechtstatsachenforschung, Rechtssoziologie, Kriminologie, Viktimologie und (Sozial)Psychologie zu vermitteln.

Aufbauend auf bereits durchgeführte Lehrveranstaltungen - „Virtual Worlds of Criminality - Child Pornography“ und „Einführung in das Strafverfahrensrecht“ - wird in dem Vortrag eine neue Veranstaltung entwickelt, die es ermöglicht Studierende aus unterschiedlichen Semestern und Studiengängen in einem Seminar zusammenzuführen. Gleichzeitig können die folgenden Lehrinhalte je nach Ausgestaltung im Sinne von Grundlagen- oder Aufbaukenntnissen vermittelt werden: Strafrecht & Strafverfahrensrecht, Rechtstatsachenforschung, Rechtssoziologie, Kriminologie, Viktimologie, (Sozial)Psychologie. Über die Einbeziehung von ExpertInnen aus der Praxis können die Studierenden zudem erste Kontakte und Netzwerke für ihre späteren Arbeitszusammenhänge aufbauen.

Die Veranstaltung ist sowohl als interdisziplinäre - mit Studierenden aus unterschiedlichen Studiengängen - als auch als rein „juristisches“ Format möglich. Notwendig für die Durchführung ist allerdings ein Teamteaching unterschiedlicher Professionen oder eine interdisziplinäre Qualifikation des/r DozentIn. Gleichzeitig müssen ExpertInnen aus der Praxis (Opferberatungsstellen, Polizei, Staatsanwaltschaft, Gerichtshilfe, Strafgericht, Nebenklagevertretung, Verteidigung) als AnsprechpartnerInnen für die Studierenden gewonnen werden. Zudem bedarf es für die Videoaufzeichnungen von Vernehmungen und der Hauptverhandlung eines technischen Supportteams.

Grundlage der Veranstaltung ist die lern-, bildungstheoretische und konstruktivistische Didaktik. Über dieses Grundverständnis werden die Kompetenzanforderungen der Bachelor- und Masterstudiengänge berücksichtigt. Gleichzeitig ermöglicht das Format im Sinne der universitären JuristInnenausbildung neben dem Erwerb strafjuristischen Wissens auch das Erlangen der sogenannten Schlüsselkompetenzen.

Beabsichtigte Lehr- bzw. Lerneffekte: 1. Grund- bzw. Aufbaukenntnisse der oben bezeichneten Fachgebiete; 2. Methoden- und Handlungskompetenz im Hinblick auf gruppendynamische Prozesse; 3. Sozialkompetenz bezogen auf die Beteiligten am Strafverfahren

Erfahrungen mit ersten Versuchen des Formats zeigen, dass der Organisationsaufwand im Vergleich zu klassischen Vorlesungen wesentlich höher ist. Außerdem ist sicherzustellen, dass ein tatsächlicher Transfer des jeweiligen Lerneffektes der einzelnen Gruppen der Studierenden (Opferberatung, Polizei, Staatsanwaltschaft, Gerichtshilfe, Nebenklagevertretung, Strafverteidigung) über die Simulation selbst hinaus sichergestellt wird.

Im Sinne von Bachelor- und Masterstrukturen ermöglicht das Format den Studierenden eine erste Fachkompetenz im Hinblick auf das Strafverfahrensrecht, die Rechtstatsachenforschung, kriminologische und (sozial)psychologische Grundlagen (gruppendynamische Prozesse) zu erwerben bzw. zu vertiefen. Gleichzeitig – insbesondere im Hinblick auf die Gruppenprozesse – kann die Veranstaltung im Hinblick auf die Sozialkompetenz und zur Reflexion des eigenen Arbeitsverhaltens im Team genutzt werden. Dementsprechend erfolgt vor dem fachlichen Hintergrund auch eine Verbesserung der Handlungskompetenz. Mit Blick auf das das Studium der Rechtswissenschaft unter den Bedingungen des Staatsexamens handelt es sich bei der Veranstaltung um eine Verbindung zwischen der Vermittlung der Grundlagen des Strafverfahrensrechts mit dem gleichzeitigen Erwerb der sogenannten Schlüsselkompetenzen.

17:00
Recht im Film - Themen und Formen des Unterrichts

ABSTRACT. Zunehmend werden Rechtsfilme im Unterricht behandelt, einmal wegen ihrer Bedeutung für den - nicht nur populären - Rechtsdiskurs, einmal weil sie anschaulich Gegenstände des rechts- und sozialwissenschaftlichen Unterrichts behandeln. Darüber hinaus hat das „law and cinema movement“ einige bemerkenswerte Analysen, Forschungsprojekte und Publikationen hervorgebracht, die auf diese Weise am besten eingeführt werden können. Der Beitrag stellt die Entwicklung an den Hochschulen, auch im internationalen Vergleich, vor. Vertieft werden Wege, wie Rechtsfilme für den Unterricht fruchtbar gemacht werden können. Das Grunddesign von Lehrveranstaltungen wie „Recht im Film“ und „Crime and the Media“ wird vorgestellt, einschließlich Möglichkeiten studentischer Mitarbeit und der Leistungsprüfung. Auch der Mehraufwand für Studierende und Lehrende wird abgesteckt. Jedoch eröffnen die Lehrveranstaltungen auch oft ungeahnte Entfaltungsmöglichkeiten für Studierende. Durch die Art der Schwerpunktsetzung können je nachdem mehr „universale“ Aspekte des Rechts, seiner Institutionen und der Rechtshandelnden betont oder gezielt besondere historische oder etwas ländertypische Besonderheiten herausgestellt werden. „Recht im Film“ bietet den Dozenten die Chance zu lehrendem Forschen und führt für manche Studierende zu Abschlussarbeiten im Themengebiet.

Literatur: Machura, Stefan, Robson, Peter (Hrsg., 2001), Law and Film, Oxford: Blackwell; Machura, Stefan, Ulbrich, Stefan (Hrsg., 2002). Recht im Film, Baden-Baden: Nomos; Machura, Stefan (2016, im Druck). Law and Cinema Movement. In Picart, Caroline Joan S., Jacobsen, Michael Hviid, and Greek, Cecil (Hrsg.). Framing Law and Crime: An Interdisciplinary Anthology. Lanham, Maryland: Fairleigh Dickinson University Press/Rowman and Littlefield.

17:15
Anwendungsorientierte und problembasierte Rechtsdidaktik – ein Praxisbeispiel; Seminar "Außergerichtliche Streitbeilegung und Mediation"

ABSTRACT. Kontinuierliche gesellschaftliche, bildungstheoretische und beschäftigungspolitische Veränderungen erfordern einen reflektierten Einsatz von anwendungsorientierten und problembasierten Lehr- und Lernkonzepten im rechtswissenschaftlichen Studium, in denen ein selbstbestimmtes und selbstgesteuertes Lernen möglich ist. Denn im Diskurs über die juristische Ausbildung drängen sich nicht nur Fragen zu den zu behandelnden Inhalten auf, sondern verstärkt auch zur methodischen und didaktischen Vermittlung von Kenntnissen, Fähigkeiten und Fertigkeiten. Dazu sind einerseits fachliche Kompetenzen als auch der Erwerb von Problemlöse-, Verhandlungs- und Argumentationskompetenz als soziale Kompetenzen zu zählen. Ansätze des anwendungsorientierten, problembasierten und forschenden Lernens fördern zudem gezielt unterschiedliche Lerntypen. Das Setting für das Seminar „Außergerichtliche Streitbeilegung und Mediation“ an der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Karl-Franzens-Universität Graz orientiert sich daher an den genannten Ansätzen, weshalb sich Präsentationen der Studierenden, Diskussionen und vertiefende Übungssequenzen aneinanderreihen. Um die Komplexität des zu vermittelnden Themengebiets deutlich darzustellen, präsentieren Studierende alleine oder in Teams Inhalte zu alternativen Konfliktbeilegungsmechanismen. Zur Förderung von aktivem Lernen, bei dem das passive Zuhören in den Hintergrund rückt, dienen Diskussionen in der Großgruppe. Zur vertiefenden Auseinandersetzung absolvieren die Studierenden zusätzlich in Kleingruppen Übungssequenzen in einem Stationenbetrieb, bei denen unterschiedliche Materialien zum Einsatz gelangen. Das Seminarkonzept sieht demnach vor, dass die Zuhörenden durch die Referate eine fundierte Wissensbasis erhalten, die sie im Anschluss daran in praktischen Übungen festigen können. Durch das gewählte Seminarsetting erwerben die Studierenden folglich fachliche Expertise und stärken ihre sozialen Kompetenzen, indem sie sowohl ein zu bearbeitendes Themengebiet vorstellen als auch an Kleingruppenarbeiten aktiv teilnehmen. Kleingruppenarbeiten eignen sich ferner zur Stärkung der Teamfähigkeit und bieten Raum für Diskussionen zwischen Lehrenden und Studierenden zur Förderung der Argumentations- und Problemlösekompetenz. In den Übungssequenzen diskutieren die Seminarteilnehmer über rechtssoziologische Studien zum besseren Verständnis der Rechtswirklichkeit, analysieren höchstgerichtliche Entscheidungen oder arbeiten mit Memokarten (beispielsweise Clustering zur Verbesserung des vernetzten Denkens). Nach der Aufgabenerledigung haben die Studierenden die Möglichkeit, ihre Ergebnisse selbst mit Hilfe eines Lösungsblattes oder einer Lösungsskizze zu kontrollieren. Als effiziente Methode dient des Weiteren die Präsentation von ausgewählten Filmsequenzen, sodass die Studierenden den Ablauf von gerichtlichen Alternativen, zB die Mediation, näher kennenlernen. Mit dieser didaktischen Aufbereitung gelingt es, den Studierenden einen fundierten Überblick über die Formen der außergerichtlichen Streitbeilegung und Mediation zu geben. Durch den Wechsel von Präsentationen, Diskussionen und praktischen Übungen sind sie in der Lage, eine Abgrenzung zwischen Konfliktlösungsalternativen vorzunehmen und eine Brücke zwischen theoretischem Hintergrundwissen und praktischer Anwendung aufzubauen. Die rechtsdidaktischen und -methodischen Herausforderungen, wie zB die Erstellung eines umfangreichen Materialienpools, konnten durch eine diffizile Planung und eine gute Zeiteinteilung bei der Durchführung des Seminars bewältigt werden. Die Studierenden gaben das Feedback, dass insbesondere die interaktiven Gruppensequenzen das abwechslungsreiche Seminarkonzept und die Diskussionen zu guten Lernerkenntnissen führen.

16:30-18:00 Session 8E: Interdisziplinäre Perspektiven III: Gesetzgebung / Verhaltenswissenschaft
Location: Seminarraum 1.601, Universitätsgebäude am Hegelplatz, Dorotheenstr. 24, 6. OG
16:30
Versprechungen des Rechts und verhaltenswissenschaftliche Analyse
SPEAKER: Felix Ekardt

ABSTRACT. Ein wesentliches Thema der Rechtssoziologie – gemeinsam mit Ökonomik, Politikwissenschaft und weiteren Disziplinen – ist die Rechtswirkungs-, Governance- oder Steuerungsforschung. Gemeint ist hier nicht nur die nachträgliche, sondern auch die im Sinne einer Gesetzesfolgenabschätzung dem Gesetzeserlass vorangehende Wirkungsabschätzung. Eine vorausgehende Abschätzung setzt jedoch voraus, dass nähere Erkenntnisse über menschliches Verhalten bestehen, denn nur dann kann das künftige Verhalten der Normadressaten zutreffend antizipiert werden. Solche verhaltenswissenschaftlichen Erkenntnisse sind auch wichtig, wenn nachträglich die Wirkung von Gesetzen erklärt werden soll. Motive und Verhaltensursachen sind jedoch, auch wenn es dabei um Fakten geht, nicht im strengen Sinne beobachtbar. Man kann Motive zwar erfragen, doch deren Komplexität und mögliche Unbewusstheit ziehen dem selbst dann, wenn die Befragten ehrlich antworten, deutliche Grenzen; dazu kommen weitere verfälschende Faktoren wie der Wunsch, dem Interviewer zu gefallen, mit sozialen Konventionen in Übereinstimmung zu bleiben usw. Zudem bezieht sich die Kausalität zwischen den somit schon schwer erkennbaren Motiven und dem realen Verhalten zwar ebenfalls auf Welt der Fakten, ist aber per se nicht als solche beobachtbar, weil bezüglich der Kausalität die gleichen Erkenntnisprobleme bestehen wie hinsichtlich der Motive an sich. Beobachtbar ist allerdings das menschliche Verhalten an sich, zumindest grundsätzlich. Es wird deshalb häufig auch um Rückschlüsse aus dem Verhalten auf die Motive gehen, was im Sinne des philosophischen Begriffs dann ein Schluss auf die beste Erklärung sein dürfte (wobei jedoch das Kriterium für „beste“ Erklärung ähnlich offen wie das für „Korrespondenz“ bei der Korrespondenztheorie der Wahrheit, die Faktenwahrheit – zutreffend – als die Übereinstimmung von Realität und Aussage über die Realität beschreibt). Unvermeidbar und sinnvoll sind auch persönliche Beobachtungen, deren Verallgemeinerbarkeit jedoch stets kritisch hinterfragt werden muss. Schon Thomas Hobbes erkannte ferner treffend, dass die Selbstbeobachtung ebenfalls eine hilfreiche Erkenntnisquelle sein kann. Die klassischen Ethnologen und Soziologen wie Max Weber oder Bronislaw Malinowski haben zudem mit historischen und ethnographisch vergleichenden Beobachtungen gearbeitet. Bei spieltheoretischen Experimenten ist die Unterkomplexität in Relation zur Realität ebenso wie ihr hypothetischer Charakter ein Problem, was auch diesen Zugang in seiner Aussagekraft begrenzt. Ergänzend hilfreich sein können zudem Interpretationen, die Schlüsse aus der menschlichen Stammesgeschichte ableiten. Versuche, über Hirnforschung und Genforschung jene Basis weiter zu präzisieren, sind bisher allerdings nicht sehr weit gediehen, u.a. (a) weil das Zusammenspiel verschiedener Hirnareale und verschiedener Gene schwer zu verstehen ist und (b) Übersetzung von Anlagen in reales Verhalten bisher nicht wirklich verstanden wurde. Der Vortrag erörtert an umweltrechtlichen Beispielen, wie eine solcherart komplexe Vorstellung von menschlichem Verhalten, die tatsächlich die disziplinäre Breite der Verhaltensforschung einbezieht, zur Rechtswirkungsforschung beitragen kann.

16:45
Die Sprache der Gesetze – Versprechungen und Missverständnisse? Vorstellung der Sprachberatung im Gesetzgebungsverfahren
SPEAKER: Antje Baumann

ABSTRACT. Der Vortrag stellt dar, was auf Bundesebene für die Verständlichkeit von Gesetzen getan wird und warum die Verbindung zur Wissenschaft nötig ist. „Gesetzentwürfe müssen sprachlich richtig und möglichst für jedermann verständlich gefasst sein“ – so verlangt es die Gemeinsame Geschäftsordnung der Bundesministerien. Daher wird jeder Gesetzentwurf einer Rechts- u. Sprachprüfung unterzogen. Die scheinbar einfache Frage, WER Gesetze verstehen können muss, führt zu systematischen Schwierigkeiten, da Gesetze eine spezielle Textsorte mit fachsprachlichen Eigenschaften und doppelter Adressatenschaft sind. Derzeit haben sowohl berufliche Rechtsanwender als auch juristische Laien Schwierigkeiten, deutsche Gesetze zu verstehen. Bundesgesetze „möglichst verständlich“ zu gestalten, nützt also Experten UND Laien.

Aber vor allem die sog. beruflichen Rechtsanwender müssen genau verstehen, was eine Rechtsnorm regeln soll, denn sie setzen Recht (verfassen also neue Gesetze mit), legen Recht aus (indem sie Recht sprechen) und sie „erklären“ Recht (indem sie es wiss. bearbeiten, lehren o. anwaltlich bzw. beratend tätig sind). JuristInnen müssen daher mehr u. anderes über Sprache wissen als andere, so dass linguistische Inhalte in juristische Studiengänge aufgenommen werden sollten. Da die bisherigen fakultativen Module für Rhetorik o.Ä. nicht reichen, wird als Schritt aus mangelnder gegenseitiger Wahrnehmung von Rechts- u. Sprachwissenschaft ein gemeinsames Seminar für Linguistik- u. Jura-Studierende vorgeschlagen (Bsp.-LV an HU).

Die normativen und institutionellen Voraussetzungen, unter denen das Recht seine Versprechungen erfüllen kann, sind die gleichen wie die der besseren Rechtsetzung (Verbindung zum Track „Rule of Law and Governance“). Denn: 1. Schwerverständliche Gesetze führen zu unnötigen Streitigkeiten und kosten Geld. Ob ein Land mit verständlichen Gesetzen regiert wird, ist daher längst auch ein wirtschaftlicher Faktor im internationalen Wettbewerb. 2. Ob BürgerInnen die Gesetze verstehen, denen sie nicht nur „unterworfen“ sind, sondern die sie in einer Demokratie auch mitverantworten müssen u. mitverändern wollen – das rührt an die Grundlagen der Demokratie, da es um Teilhabe an staatlichen Entscheidungsprozessen geht und um die Verringerung des vielbeschriebenen Abstands zwischen „Rechtsunterworfenen“ und Regierenden.

Um diesen Abstand zu verringern, werden neue Formen der Beteiligung, Information und Aktivierung gefordert. Daneben wird berichtet, mit welchen Tätigkeiten und Initiativen das Justizministerium versucht, über die „Werkstatt der Gesetzgebung“ zu informieren, die in der Bevölkerung vorhandenen Ressourcen zu nutzen sowie den Beitrag der Wissenschaft immer wieder neu einzufordern.

17:00
Recht als Machteffekt. Theoretisch-methodologische Überlegungen zu einer Soziologie der Rechtsentstehung

ABSTRACT. Die Entstehung und Setzung von Recht ist ein zentraler und äußerst sensibler Bereich demokratisch verfasster Staaten, der allerdings in Relation dazu soziologisch auffällig wenig beforscht wird. Die Untersuchung von Rechtsentstehungsprozessen – im Sinne einer systematischen Analyse ihres Ablaufs, der Rolle daran beteiligter Akteure und der sich in ihrem Rahmen artikulierenden gesellschaftlichen (insbesondere ökonomischen und politischen) Interessen – konnte überhaupt nur einmal in den 1960er und 1970er Jahren eine gewisse Konjunktur verzeichnen, dies vor allem aus einer kriminalsoziologischen und damit bevorzugt strafrechtlichen Perspektive. Auffällig an diesen Arbeiten ist insbesondere die bevorzugte Verwendung von herrschaftsfunktionalistischen Denkfiguren zur Erklärung von staatlichen Rechtsetzungsprozessen: Recht und Gesetzgebung erscheinen dabei in erster Linie als Instrumente der herrschenden Klasse zur Sozialkontrolle und zur Durchsetzung ihrer partikularen Werte, Weltsichten und Interessen. Eine solche Auffassung erweist sich bei genauerer Betrachtung zumindest in zweierlei Hinsicht als problematisch: Zum einen wird damit die Eigenlogik und die relative Autonomie des Rechts als einer eigenständigen gesellschaftlichen Sphäre ausgeblendet. Zum anderen wird dabei aber gerade auch die politische Dimension des Rechts nur unzureichend begriffen. Als ein relativ autonomes soziales Feld steht das Recht gerade nicht dem unmittelbaren Zugriff, selbst der mächtigsten gesellschaftlichen Akteure, offen, sondern ist eingebettet in gesellschaftliche Machtverhältnisse und Antagonismen und dementsprechend Gegenstand sozialer Konflikte und Auseinandersetzungen. Es ist ein Resultat hegemonialer Kämpfe, die auf dem Wege rechtsimmanenter Formzwänge (insbesondere der Rechtsdogmatik) normalisiert und in das Recht eingeschrieben werden. Wesentlich angemessener und zielführender dürfte es daher sein, die Rechtsentstehung als einen antagonistischen Konflikt zwischen verschiedenen sozialen Akteuren aufzufassen, in dem sich bestimmte Akteure durchsetzen und eine bestimmte Weltsicht rechtlich zu fixieren und so konsensual zu universalisieren vermögen. Das Recht ist so gesehen also kein Herrschaftsinstrument, es ist ein Machteffekt. Ausgehend von diesen rechts- und gesellschaftstheoretischen Annahmen sollen in diesem Beitrag einige theoretisch-methodologische Überlegungen zur soziologischen Untersuchung von Rechtsentstehungsprozessen angestellt werden – dies nicht zuletzt vor dem Hintergrund einer anzustrebenden (Re-)Animation rechtsnormgenetischer Forschungsperspektiven in der Rechtssoziologie. Zumindest grob skizziert werden soll dabei auch ein diskursanalytischer Zugang zur Rechtsentstehung, der zurzeit im Rahmen meines Dissertationsprojekts ausgearbeitet wird und das Recht als eine stets umkämpfte Wissensformation auffasst.

16:30-18:00 Session 8F: Interdisziplinäre Perspektiven II: Wissen, Vertrauen, Vergessen

Track "General Papers".

Location: Seminarraum 1.405, Universitätsgebäude am Hegelplatz, Dorotheenstr. 24, 4. OG
16:30
Jenseits der Versprechungen des Rechts – Der Beitrag von Jan Philipp Reemtsmas "Vertrauen und Gewalt" (2008) zur Rechtssoziologie

ABSTRACT. Reemtsma anerkennt dem Recht eine Schlüsselstellung in der Modernität, wobei er sich an entscheidenden Stellen auf Niklas Luhmanns soziologische Theorie des Rechts stützt, aber auch, unter vielen anderen Referenzen, auf die kritische Theorie von Adorno und Horkheimer, sowie auf Hannah Arendts Werk. „Vertrauen und Gewalt“ gibt der Thematik der Beziehungen des Rechts zu den Ambivalenzen der Moderne neue Dimensionen. Im Kontext der funktionalen Differenzierung, verspricht das Recht dem durch die Ausübung differenzierter Tätigkeiten in Anspruch genommenen Individuum Schutz vor Gewalt, indem das Monopol dessen legitimen Ausübung den Staaten übertragen wird. Und es ermöglicht differenzierte Verpflichtungen, die das Individuum nur in einer gewissen Rolle in Anspruch nehmen. Auf der Ebene der Staaten verspricht das Recht die Institutionalisierung einer fragmentierten Macht. Dabei wird aber das Risiko sowohl der individuellen, als auch der staatlichen Gewalt ausgeblendet, sowie die Tatsache, dass gewalttätige Dynamiken ihrerseits einer besonderen Art von Vertrauen entgegenkommen können. Dem Recht verdankt damit die Moderne, trotz dem Vertrauen, welches es generieren kann, ihre „Überraschungsanfälligkeit“. Und doch könnte das Recht durch Verfahren, in welchen die Gewalt zur Sprache gebracht wird, dazu beitragen, das Bewusstsein der Gewaltanfälligkeit der menschlichen Gesellschaft zu schärfen, und das besondere Gewaltspotential der modernen Gesellschaften wenigstens teilweise zu kompensieren. Um dieser Versprechung des Rechts mehr Gewicht zu verleihen würde es sich lohnen, der Gewalt eine prominente Stellung auch im begrifflichen Apparat der Rechtssoziologie zu verleihen. Dies könnte es uns ermöglichen, im Bereich der individuellen Erfahrungen die Diskussion der Beziehungen zwischen Subjektivität, individuelle Erfahrung der sozialen Beziehungen im Kontext der funktionalen Differenzierung, und Vorstellungen zur Gewalt, insbesondere zur brachialen Gewalt, auf der Grundlage von empirischem Material zu vertiefen, wobei es darum gehen könnte zu verfolgen, wie sich diese Beziehungen aufbauen und ändern, in rechtlichen Verfahren, aber auch in der alltäglichen Kommunikation. Dies könnte uns auch dazu anregen, im staatlichen Bereich Forschungen zur Praxis der Sicherheitskräfte heranzuziehen, im Sinne der sorgfältigen Erfassung des Zusammenspiels von Rechtsnormen und anderen, zum Teil weniger formalisierten Orientierungsmechanismen in der Steuerung der Gewaltausübung, aber auch im Sinne des Nachweises von gewaltfördernden Dynamiken. Dies könnte uns aber auch dazu führen, in anderen organisierten sozialen Bereichen Formen der Gewalt aufzudecken, die sich nicht unmittelbar als brachiale Gewalt bezeichnen lassen, deren Qualifikation als Gewalt jedoch zu sozialen – insbesondere im rechtlichen Bereich ausgetragene – Kontroversen geführt hat. Dies könnte es rechtfertigen, Reemtsmas Überlegungen jenseits des Bereiches der direkten körperlichen Gewalt auf weniger sichtbare, aber unter Umständen nicht weniger schmerzhafte Formen der Gewalt auszudehnen. Womit die Rechtssoziologie ihrerseits zur Vervollständigung des Bildes der spätmodernen Gesellschaft beitragen könnte.

16:45
Die digitale Person: Subjektkonstruktionen im „Recht auf Vergessenwerden“

ABSTRACT. Der Vortrag soll eine Art soziologischen Kommentar zum Urteil des EuGH vom 13. Mai 2014 (C-131/12) darstellen, auf das gemeinhin unter dem Schlagwort „Recht auf Vergessenwerden“ verwiesen wird. Methodologischer Ausgangspunkt ist die Konstruktion der Kategorie „natürliche Person“ als eine Subjektivierungsweise im Sinne Michel Foucaults. Die Besonderheit des Urteils besteht darin, so die These, dass die „natürliche Person“ nicht als ein identitäres Subjekt betrachtet wird, sondern als eine spezifische Verknüpfungsleistung angesehen wird. Oder anders formuliert: Die Kategorie der >natürlichen Person< wird durch Datenverbindungen konstituiert, weshalb es im Rechtstreit um die Schutzrechte der Person um die legitime Art und Weise dieser Informationsverknüpfungen geht. Diese These soll anhand einer eingehenden Analyse des Urteils sowie der vor- und nachgelagerten Diskurse (vorgelagerte Diskurse etwa im Entwurf der Europäischen Datenschutz-Grundverordnung vom Januar 2012 oder in den Arbeiten von Viktor Mayer-Schönberger; nachgelagert etwa in den Kommentaren und Reaktionen auf das Urteil) in sachlicher, zeitlicher, räumlicher und technischer Hinsicht dargelegt werden. Leitfragen hierzu sind: - Sachlich: In dem Rechtsstreit zwischen einer >natürlichen Person< (sowie der spanische Datenschutzagentur AEPD) und Google-Spain/Inc. ging es um den Schutz natürlicher Personen bei der Verarbeitung digitaler Informationen mit Personenbezug (Richtlinie 95/46/EG). Wie wirkt der Gegenstand >datenbezogene Schutzrechte< (insbesondere wie hier auch als Grundrechte) auf die Idee der >natürlichen Person< zurück? - Technisch: Im Zentrum steht die Technik (i.S. einer Verfahrensweise) der Suchmaschine. Da das Gericht die Praktiken der Suchmaschine Google nicht als Transport von Informationen, sondern als eine eigenständige Form der Datenverarbeitung und damit der Informationsherstellung einstuft, wird Google als (mit-)verantwortlich für die verbreiteten Inhalte angesehen. Wie wirken die Praktiken und Techniken der Informationsvernetzung (und gerade nicht die veröffentlichten Inhalte) auf die Kategorie der >natürlichen Person< (Stichwort „Profil der Person“, Struktur der Informationen („Ergebnisliste“), Unerheblichkeit der Wahrheit, Zweck von Informationen, Verbindung von Information und Name)? - Räumlich: Die räumliche Dimension des Internets stellt den Raumbezug des Rechts vor Herausforderungen – entsprechend ging es in den Vorlagefragen auch um den räumlichen Geltungsbereich der Richtlinie. Aber auch in der Wirkung der Suchmaschinen wird der besondere räumliche Aspekt betont (Stichwort „Ubiquität“/Öffentlichkeit, Zugänglichkeit von Informationen). Wie wird die >natürliche Person< in ihrem Datenbezug im Netz verortet? - Zeitlich: Wie das „Recht auf Vergessenwerden“ schon impliziert, wird die Vernetzung zum Personenbild unter ein bestimmtes Zeitregime gestellt, um hiervon ausgehend die (Il-)Legitimität zu postulieren. Durch welche Kriterien ist dieses Zeitregime zu qualifizieren? Im Zusammenspiel dieser vier Aspekte soll in der Analyse herausgestellt werden, wie die digitale Person und ihre datenbezogene Schutzsphäre als eine spezifisch räumlich-zeitliche, technisch orientierte Verknüpfungsleistung konstituiert wird. Zur Debatte soll gestellt werden, inwiefern hierdurch neuere subjektphilosophische Annahmen, die das Subjekt als Produkt heterogener miteinander verknüpfter Praktiken und nicht als Grundlage dieser Praktiken konzipieren, jenseits des Paradigmas des „liberalen Subjekts“ als identitäres Subjekt Eingang ins Recht bzw. eine spezifische Ausformung durch das Recht gefunden haben.

17:00
Konvergenz in Rechts- und Nachbarwissenschaften und das Internet als Konvergenzmaschine. Drei Thesen und 100 Gründe

ABSTRACT. In vielen Büchern und Beiträgen zur Rechtsphilosophie, Rechtstheorie, Methodenlehre und Rechtssoziologie ist mehr oder weniger dasselbe zu lesen. In Texten aus den so genannten Nachbarwissenschaften, die auf den ersten Blick wenig miteinander zu tun haben, zeigen sich bei näherer Hinsicht erstaunliche Parallelen. Oft wird Konvergenz nicht wahrgenommen, weil unterschiedliche wissenschaftliche Schulen, Zitierkartelle usw. zu Sichtbegrenzungen führen. Strategische Ignoranz ist auch in der Wissenschaft verbreitet. Noch häufiger dürfte Konvergenz wegen der unübersehbaren Menge wissenschaftlicher Veröffentlichungen verborgen bleiben. Nicht selten wird Konvergenz aber auch hinter immer neuen Formulierungen versteckt, sei es, in dem Bemühen um Originalität, sei es um den Eindruck eines Plagiats zu vermeiden. Das aktuelle Ideal der Geistes- und Sozialwissenschaften scheint in der Suche nach Vielfalt zu bestehen, während die Suche nach Konsonanzen oder Übereinstimmungen als langweilig oder gar als diskriminierend gilt. Die Produktion von Vielfalt ist durch den kulturwissenschaftlichen Blick zum perpetuum mobile geworden. Diese Beobachtungen sind Anlass, drei Thesen zu formulieren: – Das Wissen in Rechts- und Nachbarwissenschaften konvergiert. – Es lohnt sich, der einst von Peirce formulierten Konvergenztheorie der Wahrheit nachzugehen. – Das Internet erweist sich als Konvergenzmaschine für das Wissen der Welt. An der Redundanz wissenschaftlicher Texte wird sich wenig ändern, wenn die Konvergenz stärker zu Tage tritt, etwa durch technische Verfahren, wie sie unter dem Stichwort »Digital Humanities« diskutiert werden, denn sie erfüllt starke latente Funktionen jenseits der »Wissenschaftlichkeit«. Die wichtigste ist wohl eine Diskursfunktion, nämlich die Etablierung eines normativen Überschusses als »Wahrheit«. Diesen Funktionen wird das Referat nicht nachgehen. Die Thematisierung von Konvergenz hat – natürlich, möchte man sagen – ihrerseits einen normativen Überschuss. Er ergibt sich aus der Vermutung, dass die einseitige Thematisierung von Vielfalt positiver Pluralität im Wege steht.

16:30-18:00 Session 8G: Anwendungsprozesse, Erfahrungswissen und Theorie

Track "Interpretation". Organisiert von Roland Lhotta und Michael Wrase.

Location: Seminarraum 1.406, Universitätsgebäude am Hegelplatz, Dorotheenstr. 24, 4. OG
16:30
Glaubhaftigkeitsbeurteilungen in der Praxis: Über das Zusammenwirken von Regeln, Ermessen und institutionalisierter Erfahrung in schweizerischen Asylbehörden

ABSTRACT. „Wer um Asyl nachsucht, muss die Flüchtlingseigenschaft nachweisen oder zumindest glaubhaft machen,“ schreibt das schweizerische Asylgesetz (AsylG)  vor (Art. 7 Abs. 1). Da Fluchtgründe mehrheitlich nicht bewiesen werden können, geht es in der  Entscheidungspraxis in den Asylbehörden  zumeist um eine Glaubhaftmachung. Glaubhaft gemacht ist die Flüchtlingseigenschaft, „wenn die Behörde ihr Vorhandensein mit überwiegender Wahrscheinlichkeit für gegeben hält“ (Art. 7 Abs. 2 AsylG). Theoretisch bedeutet dies, dass Asylvorbringen mindestens zu 51% für wahrscheinlich gehalten werden müssen oder wie es eine Sachbearbeiterin des Staatssekretariats für Migration erklärte: „Man muss es ein bisschen mehr glauben, dass es glaubhaft ist“.

Solche Glaubhaftigkeitseinschätzungen werden in der Schweiz erstinstanzlich durch Sachbearbeitende des Staatssekretariats für Migration (SEM) und zweitinstanzlich durch Richter*innen des Bundesverwaltungsgerichts (BVGer) getroffen. Als Hilfsmittel dazu dienen unter anderem die sogenannten Unglaubhaftigkeitskriterien von Art. 7 Abs. 3 AsylG: Mangelnde Substantiierung, Widersprüche, Tatsachenwidrigkeit und gefälschte Beweise, die 19 Realkennzeichen nach Steller und Köhnken (1989)  und vergangene Rechtsprechung zu Glaubhaftmachung durch das BVGer. Im Entscheidungsprozess werden diese Kriterien auf Einzelfälle angewendet. Dabei spielen Erfahrung und Intuition der Entscheider*innen eine wichtige Rolle. Dies ist auch den Entscheider*innen selbst bewusst, welche Glaubhaftigkeitsbeurteilungen häufig als etwas bezeichnen, das „subjektiv“ oder „gar keine reine Rechtsfrage“ sei und viel Interpretations- und Argumentationsfreiraum lasse. In meinem Beitrag setze ich mich damit auseinander, welche Ermessens-, bzw. Interpretationsspielräume in solchen Entscheidungsprozessen bestehen, wie diese von den Sachbearbeitenden, Gerichtsschreibenden und Richter*innen des SEM und BVGer wahrgenommen und beurteilt werden und welche  Grenzen den Spielräumen  gesetzt werden. Unter anderem weil Erfahrung und Intuition bei der Glaubhaftigkeitsbeurteilung handlungsanleitend wirken (können), werden diese in der sozial- und rechtswissenschaftlichen Literatur – aber auch zum Teil durch die Mitarbeitenden der Asylbehörden selbst – als willkürlich und individuell kritisiert (vgl. Kelly 2011, Macklin 1998). Diese Kritik erscheint mir jedoch verkürzt. Ich fokussiere deshalb in diesem Beitrag einerseits darauf, wie Intuition und Erfahrungswissen institutionalisiert werden und die Mitarbeitenden quasi darin sozialisiert werden und andererseits auf das Zusammenwirken von Ermessenspielraum, handlungsanleitenden Regeln und institutionalisiertem Erfahrungswissen bei der Beurteilung von Glaubhaftigkeit.

Meine Präsentation beruht dabei auf Daten aus meiner Dissertationsforschung. Ich habe Interviews mit Mitarbeitenden beider Asylbehörden geführt, zahlreiche Asyldossiers analysiert, an internen Ausbildungen teilgenommen und im SEM während mehreren Wochen (teilnehmende) Beobachtung von Asylanhörungen und der alltäglichen Arbeit durchgeführt.

16:45
Recht mal Daumen: Anwendungspraxis und emergentes Recht in der Verwaltung
SPEAKER: Tobias Eule

ABSTRACT. Dieser Beitrag analysiert den Umgang mit besonders komplexen Rechtsfragen in Verwaltungsbehörden, basierend auf ethnographischer Feldforschung zur Rechtsanwendungspraxis in Deutschland, der Schweiz und Schweden. Im Gegensatz zu Erwartungen eines weitgehend strukturierten Entscheidungs- und Anwendungsprozess wird hier die beobachtete Form der Rechtsanwendung nach Gefühl vorgestellt. So existiert Recht in den beforschten Verwaltungseinheiten weniger als systematischer Textsatz denn als gelebte und mündlich überlieferte Tradition, der man sich im Zweifelsfall mit Bauchgefühl und gemeinsamen Deliberationsstrategien unter Kolleg*innen nähert.

Rechtsanwendung in der Verwaltung entfaltet hier einen hohen Grad von Eigenlogik und relativer Autonomie - dies liegt aber in hohem Grade an der Abwesenheit strukturierender Faktoren, sowohl in der tatsächlichen Arbeit als auch in der Vermittlung von (Rechts)Wissen. "Bauchgefühlrecht" besteht daher in einem relativ weich strukturiertem Raum und nicht allein durch die Prioritäten und Einstellungen der Angestellten. Da es recht zuverlässige Ergebnisse bringt, wird es von direkt Vorgesetzten in Grenzen akzeptiert - eine Kontrolle durch höherstehende Instanzen (Ministerien, Amtsleitungen) findet gemeinhin kaum statt.

17:00
Alle Gleich? Die rechtliche, administrative und soziale Herstellung des Begriffs „Integration“
SPEAKER: Anne Lavanchy

ABSTRACT. Durch den Begriff „Integration“ befasse ich mich in dieser Präsentation mit dem Spannungsfeld zwischen „Gleichbehandlung“, „Gleichheit“ und „gleich werden“. Dadurch werfe ich die Grundfrage nach dem gelebten Recht auf, welche sich im interdisziplinären Dialog zwischen Sozialwissenschaften und Rechts widerspiegelt.

Die Präsentation basiert auf einem schweizerischen interdisziplinären, Rechtswissenschaften, Anthropologie und soziokulturelle Psychologie umfassenden Forschungsprojekt (Mahon, Zittoun, Di Donato und Lavanchy; SNF CR11I1_147287). Im Zentrum steht dabei der soziopolitische Begriff der Integration, welcher im Bürgerrechtsgesetz (BüG) sowie, seit Kurzem, im Bundesgesetz über die Ausländerinnen und Ausländer (AuG) aufgeführt ist.

Wie weitere, explizit oder implizit mit „Kultur“ verbundene Begriffe (Dervin, Gajardo, & Lavanchy, 2011), bleibt Integration eine black box, der je nach Kontext verschiedene Deutungen zugeschrieben werden. Deshalb schlagen wir vor, Integration aus drei unterschiedlichen, aber komplementären Perspektiven zu betrachten: - Die erste folgt einer top-down Logik. Sie versucht den Betriff, wie er im BüG, AuG und in der Jurisprudenz besteht, historisch zu rekonstruieren. - Die zweite kann als bottom-up Analyse bezeichnet werden, da es darum geht, Lebenswege von sozialen Akteuren zu eruieren, welche am Massstab der normativen Integrationforderung und -förderung gemessen werden. - Die dritte Logik ist diejenige der administrativen Akteure: StaatsrepräsentantInnen und BeamtInnen, die durch ihre tägliche Arbeit das abstrakte, rechtliche System umsetzen.

Ich argumentiere, dass sich dieser vage und unbestimmte Begriff, der jedoch starke Effekte zeigt, am besten durch eine Verflechtung dieser Interpretationen erfassen lässt. Meine Analyse beleuchtet die Jurisgenesis (Cover, 1983) des Begriffs „Integration“, indem wir ihn als ein Produkt kollektiv-kreativer Prozesse betrachten, welche durch Sozialdynamiken und Machtstrukturen geprägt werden.

Cover, R. M. (1983). Nomos and Narrative. Yale Law School Legal Scholarship Repository, 1-66. Dervin, F., Gajardo, A., & Lavanchy, A. (Eds.). (2011). Politics of Interculturality. Cambridge: Cambridge Scholars Press.

16:30-18:00 Session 8H: Migration, Asylpolitik, ungleiche Staatsbürgerrechte

Track "Soziale Ungleichheit". Organisiert von Sergio Costa und Kolja Möller.

Location: Seminarraum 1.501, Universitätsgebäude am Hegelplatz, Dorotheenstr. 24, 5. OG
16:30
Die Versprechungen des Rechts im Kontext transnationaler sozialer Ungleichheit

ABSTRACT. Zwischen 2006 und 2009 wurde die „24-Stunden-Pflege“ in Österreich – durch Migrantinnen aus den osteuropäischen Nachbarländern geleistetes Caring für ältere Menschen in Privathaushalten – rechtspolitisch reguliert. Mit der Regulierung wurde AkteurInnen des RechtsadressatInnenkreises erstmals die Möglichkeit eröffnet, auf Angestellten- oder Selbständigenbasis in der „24-Stunden-Pflege“ zu arbeiten beziehungsweise zu beschäftigen, wobei im AdressatInnenkreis seitdem starke Regularisierungstendenzen sichtbar sind. Aus einer rechtssoziologischen Perspektive wirft diese Entwicklung Fragen nach dem „Wie“ der Anpassung an die neu geschaffenen Rechtsnormen auf. Im Vortrag gehe ich auf die Beschaffenheit rechtskonformer Handlungsorientierungen unter den spezifischen Bedingungen der rechtlichen Regulierung eines ethnisierten, vergeschlechtlichten und gering bezahlten privathäuslichen Beschäftigungsfeldes ein. Ich diskutiere dabei, wie die Versprechungen nationalstaatlichen Sozialrechts auch in Kontexten greifen, in denen die AkteurInnen des RechtsadressatInnenkreises starke Vermutungen über die Verstetigung transnationaler sozialer Ungleichheitsstrukturen hegen. Die im Vortrag vorgestellten Annahmen basieren auf einer empirischen Untersuchung im RechtsadressatInnenkreis und einem kulturtheoretischen Verständnis von Rechtskonformität in Anschluss an Bourdieu.

16:45
Neue und schärfere Ungleichheiten durch die Einführung sozialer Rechte im späten 19. Jahrhundert?

ABSTRACT. Inwieweit entstanden durch die Einführung sozialer Rechte im späten 19. Jahrhundert neue Konstellationen und Formen sozialer Ungleichheit? Inwiefern hingen die Verschiebungen der Ungleichheitsverhältnisse mit dem Prozess der Nationalisierung des Rechts zusammen? Inwieweit markiert der Beginn der westeuropäischen Sozialstaatlichkeit einen Zugewinn an Rechten für den weißen, männlichen Arbeiter innerhalb einer sich formierenden nationalen Sicherheitsgemeinschaft, die sich dadurch festigte, dass sie z.B. ausländische und weibliche Personen ausschloss? Die Einführung sozialer Rechte – die europäische Sozialstaatlichkeit begann im späten 19. Jahrhundert mit der staatlichen Versicherung „der Arbeiter“ – galt in den Ländern Westeuropas als eine Antwort auf die „soziale Frage“. Zugleich vollzog sich in den Ländern ein durch unterschiedliche soziale Akteure getragener Prozess der Nationalisierung; ein wichtiges Instrument sowie bedeutendes Feld dieser Nationalisierung war die Institution des Rechts. Sinnbildlich dafür steht die Neudefinition der Staatsbürgerschaft entsprechend dem Bedeutungszuwachs des nationalen Prinzips. Die Einführung sozialer Recht und das Bemühen der Gesetzgeber, die Staatsbürgerschaft mit neuen, schärferen Konturen zu versehen, hingen dabei eng miteinander zusammen: Da mit dem Besitz der Staatsbürgerschaft nunmehr auch soziale Rechte sowie zunehmend politische Rechte einhergingen, sollte die Staatsbürgerschaft zu einer exklusiveren Institution werden. Wurden also mit der Einführung sozialer Rechte einige soziale Ungleichheiten zwischen den Staatsbürgern abgeschwächt, taten sich zugleich neue Ungleichheitsverhältnisse auf. So gelangten Migranten, die die nationale Staatsbürgerschaft nicht besaßen, gar nicht oder kaum in den Besitz sozialer Rechte und somit z. B. nicht in den Genuss einer staatlichen Unfallversicherung. Gleiches gilt für Frauen, die die Staatsbürgerschaft ebenfalls nicht besaßen, als verheiratete Personen keine Rechtspersönlichkeit aufwiesen und die zudem in jenen Branchen arbeiteten, die von den nationalen Versicherungssystemen zumeist ausgespart blieben (z.B. Landwirtschaft, Dienstmädchen-Arbeit, Heimarbeit). Inwiefern sich die herkömmlichen, als „soziale Frage“ benannten Ungleichheitsverhältnissen durch die Einführung sozialer Rechte in neue soziale Ungleichheiten wandelten, möchte ich anhand eines Vergleichs zwischen den Niederlanden, der französischen Dritten Republik und dem Deutschen Kaiserreich aufzeigen. Ich möchte erörtern, inwiefern die neue soziale Gleichheit nur innerhalb einer nationalen, aus männlichen Staatsbürgern bestehenden Gemeinschaft galt. Inwiefern entschärfte die Einführung sozialer Rechte einige soziale Ungleichheiten dadurch, dass sie andere Ungleichheitsverhältnisse, z. B. zwischen Staatsbürgern und MigrantInnen sowie zwischen männlichen und weiblichen Arbeitskräften, verschärfte? Ich möchte analysieren, inwieweit jeweils das Geschlecht, die nationale und ethnische Herkunft sowie die Religion Einfluss darauf hatten, ob und inwiefern eine Person über soziale Rechte verfügte und diese geltend machen konnte. Wer konnte auf welche Weise Anspruch erheben auf finanzielle Entschädigung im Krankheitsfall, bei einem Arbeitsunfall, auf medizinische Versorgung oder auf eine Altersrente? Diese Fragen werden nicht allein anhand der Rechtstexte erörtert, sondern vor allem auch mit Hinblick auf die rechtliche Praxis. Diese wird anhand verschiedener Archivbestände, z.B. der nationalen Versicherungsanstalten, der Unternehmen, die von der nationalen Sozialgesetzen betroffen waren, sowie der Archive der Gewerkschaften und Migrantenvereine, die über das Arbeitsleben ihrer Mitglieder Auskunft geben, analysiert.

17:00
Zehn Jahre § 23a Aufenthaltsgesetz: Berichte aus der Praxis der Berliner Härtefallkommission.

ABSTRACT. Als erstes Bundesland hat Berlin eine Härtefallkommission (HFK) eingerichtet und mit Inkrafttreten des Zuwanderungsgesetzes 2005 und damit §23a erhielt diese eine gesetzliche Grundlage. Die Härtefallkommission Berlin hat in bundesweiten Vergleich die meisten Anträge und mehr als 30 Prozent aller Personen mit einem Aufenthaltserlaubnis nach § 23a AufenthG leben in Berlin. Der Auftrag der Härtefallkommission ist die Vermeidung besonderer humanitärer Härten beim Vollzug des Aufenthaltsgesetzes durch die Ausländerbehörde. Die Integrationsbeauftragte Berlins Frau Lüke bezeichnet 2015 die Arbeit der Kommission als "wichtiges Korrektiv unseres Aufenthaltsrecht". Für viele Menschen die sehr lange in Deutschland leben ist die HFK die letzte Instanz. Dieses Gremium setzt sich in jedem Bundesland anders zusammen. In Berlin besteht die HFK aus Vertreter_innen des Jesuitenflüchtlingsdienstes, der Evangelischen Kirche, der Senatsverwaltung für Arbeit, Integration und Frauen, des Flüchtlingsrates, der Liga der Wohlfahrtsverbände, des Migrationsrat Berlin Brandenburg und Vertreter_innen der Integrationsbeauftragten von Berlin. Forderungen nach einer weitreichenden, stichtagsunabhängigen Bleiberechtsregelung für langjährig geduldeter Menschen, begegneten Vertreter_innen des Berliner Senats häufig mit dem Argument, in Berlin gäbe es eine äußerst effektiv arbeitende Härtefallkommission. Aufgrund der aktuell stark steigenden Zahlen von geflüchtete Menschen ist auch bei der Härtefallkommission mit weiterhin steigenden Fallzahlen zu rechnen. Dennoch immer weniger Menschen gelten als Härtefälle. Im Jahr 2011 waren es 71 Prozent und in 2014 nur 36 Prozent (Quelle: Senatsverwaltung für Arbeit, Integration und Frauen, 2015). Dieser Beitrag liefert empirische Befunde aus 10 Jahren Arbeit der HFK um einen Einblick in die Wirklichkeit der Zusammenarbeit mit der Verwaltung zu ermöglichen.

18:30-21:00 Session 9: Citizenfour – Massenüberwachung und die Versprechungen des Rechts

Filmvorführung und Gespräch

"Citizenfour" war das Pseudonym des Whistleblowers Edward Snowden, als er im Jahr 2013 Kontakt zu den Journalisten Laura Poitras und Glenn Greenwald aufnahm, um die Öffentlichkeit über die Massenüberwachung und -manipulation durch Geheimdienste zu informieren. "Citizenfour" ist auch der Name des preisgekrönten Dokumentarfilms, den Laura Poitras über diesen Coup drehte: erstmals gibt es die Chance einer umfassenden und systematischen öffentliche Aufarbeitung der undemokratischen Praxen der Geheimdienste im digitalen Raum. Der 114 Minuten lange Film zeigt in packender Weise, wie es den Journalisten und Edward Snowden gelang, die Informationen über die Praktiken der NSA zu veröffentlichen. 

Seit zwei Jahren ringt auch die deutsche Öffentlichkeit um Aufklärung. Neben dem journalistischen Interesse und rechtlichen Debatten gibt es öffentlichen Protest und einen parlamentarischen Untersuchungsausschuss, der sich um Aufklärung bemüht. Aber auch die Geheimdienste bleiben aktiv. Sie streben nach weitergehenden Befugnissen und Ressourcen und gehen aktiv gegen die Beleuchtung ihrer Praxis vor, wie das Beispiel des Blogs "netzpolitik.org" eindrucksvoll vor Augen geführt hat.

18.30 Uhr: Filmvorführung von "Citizenfour" (OmU) 
anschließend: Gespräch und Diskussion mit dem Berliner Richter und Verfassungsrechtler Ulf Buermeyer und einem Vertreter von netzpolitik.org (angefragt)

Moderation: Tobias Singelnstein
 

Location: Hörsaal 2094, Hauptgebäude, Unter den Linden 6